Kurzbeschreibung

Der Artikel aus der SED-Zeitung Neues Deutschland preist das Ideal der „sozialistischen Familie“, in der beide Ehepartner durch die gleichberechtigte Teilnahme am Arbeitsleben die Grundlage für ein erfülltes Familienleben schaffen. Die Erziehung der Kinder „durch die Gesellschaft“ in Kollektiveinrichtungen außerhalb der Familie wird nicht als Problem gesehen, sondern aufgrund der professionellen Betreuung dort positiv gewertet. Sie erhöhe die Chancengleichheit der Kinder.

Anita Grandke, „Zerstört die berufstätige Frau ihre Familie?“ (11. Juni 1960)

  • Anita Grandke

Quelle

Zerstört die berufstätige Frau ihre Familie?

In der Diskussion zum Thema „Wer ist seinen Kindern eine bessere Mutter?“ nahm die Berufsarbeit der Ehefrau und Mutter einen recht breiten Raum ein. Und doch gibt es speziell dazu noch diese und jene Frage, die eingehender beantwortet werden muß. Da gab mir Frau Renate einige Briefe von Leserinnen, in denen beispielsweise die Meinung vertreten wird, die Berufstätigkeit der Frau und Mutter, dazu die Erziehung der Kinder im Kindergarten oder Schulhort gefährde, ja zerstöre die Familie. Auf diese Ansichten zu antworten heißt, einiges über die Familie in der sozialistischen Gesellschaft zu sagen.

Gesellschaft und Familie

Wenn die Familie sich in ihrer äußeren Form – eine Gemeinschaft zwischen Mann und Frau und ihren Kindern – seit Jahrhunderten nicht verändert hat, so ist sie in ihrem Inhalt, in ihrem Bestand und in ihrem Glück von der Gesellschaft abhängig, zu der sie gehört. Wir kennen die Bourgeoisfamilie, die gänzlich vom Kapital und seinen Belangen beherrscht wird. Hier schließt man „Vernunftsehen“, und die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, deren Erziehung weitestgehend von fremden, bezahlten Personen übernommen wird, haben die künftige Erbschaft zum Mittelpunkt.

Dagegen hat die Proletarierfamilie im Kapitalismus eine gute, sittliche Grundlage: die gegenseitige Liebe zwischen den Ehegatten. Doch welchen Belastungen ist sie ausgesetzt. Arbeitslosigkeit, Krisen, Wohnungsnot zerren an ihr. Wie entsetzlich ist die Kinderarbeit, wie groß die Gefahr, daß die Kinder verwahrlosen, weil sie sich selbst überlassen sind, während die Mutter helfen muß, den Unterhalt zu sichern. Wie schwer ist es für den Arbeiter, sein Kind gegen Lüge, Verhetzung durch Schule, Film usw. auf den richtigen Weg zu führen. Und vergessen wir nie das unermeßliche Elend, das der Krieg, dieses Ungeheuer der kapitalistischen Gesellschaft, unseren Familien brachte.

Wirklich aufblühen kann die Familie erst in der sozialistischen Gesellschaft. Sie verbannt Ausbeutung, Ichsucht, Arbeitslosigkeit, Krisen und Krieg. Sie schafft die Grundlage für ein glückliches Familienleben. Deshalb ist die Teilnahme am sozialistischen Aufbauwerk, ist die Berufstätigkeit das Wertvollste, was wir – auch als Mütter – für unsere Familie und die Zukunft unserer Kinder tun können. Berufstätigkeit heißt, wie viele Leser sehr richtig schreiben, für den Frieden, das Glück und die Sicherheit unserer Familie kämpfen. Die Berufstätigkeit zerstört nicht die Familie, sondern baut ihr das weite, goldene Fundament.

Wenn beide arbeiten ...

Nun fragt Frau M. Fischer aus Neustadt (Orla): Drängen wir die Familienerziehung nicht in den Hintergrund, wenn wir uns für die Berufsarbeit beider Ehepartner einsetzen? Nein, das ist nicht der Fall. Die Familie hat einen großen Anteil an der Erziehung des neuen sozialistischen Menschen. Hier erhalten die Kinder ihre ersten Eindrücke, lernen sie vor allem vom Vorbild der Eltern. Die Familie als kleines Kollektiv kann die Eigenschaften und Züge des Menschen entwickeln und bestärken, die für sein Verhalten gegenüber der Gesellschaft im Sozialismus bestimmend sind: gegenseitige Achtung, Treue, Kameradschaft und vor allem das Verantwortungsgefühl für die Gesellschaft.

Diese bedeutende gesellschaftliche Aufgabe kann die Familie aber weit besser erfüllen, wenn beide, Vater und Mutter, im Berufsleben stehen. Warum? Das Familienleben ist von zwei Menschen getragen, die wissen, daß sie täglich ihr Bestes für den Aufbau des Sozialismus und damit für die Erhaltung des Friedens und die Zukunft ihrer Kinder geben. Sie sind erfüllt von ihrer Tätigkeit. Sie arbeiten an sich selbst und bilden sich weiter. Sie tragen die Probleme der Arbeit in die Familie mit dem Wunsch, sich zu beraten.

Die dadurch gewonnene Harmonie, der tiefere Gehalt der Ehe strahlt auf die Kinder zurück. Für sie ist nicht nur der Vater, sondern gleichermaßen die Mutter Vorbild durch ihre Arbeit, durch die Verantwortung, die sie trägt, durch die Kämpfe, die sie durchsteht, und durch den Eifer, mit dem sie an sich arbeitet. Die Mutter ihrerseits versteht die Kinder besser, weiß sie doch, worauf sie sie vorbereiten muß, damit sie vollenden, was auch sie mit ihrer Arbeit begonnen hat. Die Mutter ist mit ihren Kindern zwar zeitlich weniger zusammen, als wenn sie in ihrem Haushalt arbeitet. Aber durch ihre Berufsarbeit gibt sie die Voraussetzung dafür, daß das Familienleben inhaltsreicher, tiefer gestaltet ist und auf die Entwicklung der Kinder viel fruchtbarer wirkt.

Einige Leserinnen schreiben nun, daß die Berufstätigkeit der Mutter eine gewisse Mehrbelastung für beide Ehepartner mit sich bringt. Das ist heute noch wahr, und es müssen sich beide Ehegatten darauf einstellen. Das klappt nicht immer sofort und will – besonders vom Mann – mit gutem Willen gelernt sein. Ebenso wichtig ist der Hinweis vieler Mütter, daß die Eltern abends, am Wochenende und im Urlaub Zeit für ihre Kinder finden müssen. Das sollten die Betriebe und gesellschaftlichen Organisationen bei der Verteilung der Aufgaben nicht vergessen.

Die Belastung, die die Berufsarbeit der Ehefrau heute noch oft für beide Ehegatten mit sich bringt, wird mit dem weiteren Aufbau des Sozialismus Schritt für Schritt beseitigt werden, und es wäre grundfalsch, sie als einen Beweis gegen die Berufsarbeit der Frau und Mutter anführen zu wollen. Der Gewinn, den ihre Berufstätigkeit für die Familie bringt, wiegt tausendmal schwerer.

Auf das höchste Ziel gerichtet

Zwei Leserinnen schreiben in ihren Briefen, die Unterbringung der Kinder im Kindergarten usw. entwickele die Kinder zu Serienmenschen, führe zur Vermassung und dadurch zur Zerstörung der Familie. Diese beiden Leserinnen haben unbewußt eine Meinung aufgegriffen, die unsere Gegner seit Jahrzehnten strapazieren.

Sehen Sie, liebe Leserinnen: Die Gegner des Sozialismus kennen sehr wohl die große Rolle der Familie bei der Erziehung der Kinder zu sozialistischen Menschen, vor allem jener Familien, deren beide Ehepartner arbeiten. Und so möchten sie einen Keil zwischen diese kleine persönliche Gemeinschaft und die sozialistische Gesellschaft treiben. Dabei knüpfen sie wiederum an die Berufsarbeit der Ehefrau und Mutter an.

Gefahren der Zerstörung drohen unseren Familien ausschließlich von einer Seite, nämlich vom aggressiven deutschen Militarismus, der diese Gemeinschaften bereits zweimal millionenfach zerstört hat. Gefahren der Vermassung drohen den Kindern, der Jugend vom preußischen Militärdrill, von der Verrohung durch Comics, Gangsterfilme usw., durch die Vorbereitung der Jugend auf den Krieg. Jawohl, täglich wird auch in den kapitalistischen Staaten die Jugend durch die Gesellschaft erzogen, aber für welche Ziele!

Wir sprechen offen von der Erziehung der Kinder durch die Gesellschaft; wir sichern sie materiell und richten sie auf das höchste humanistische Ziel: auf die Erziehung des sozialistischen Menschen. Das ist ein Mensch mit großem fachlichem Wissen, umfangreicher Allgemeinbildung, der sich seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechend entwickelt und dessen Handeln durch seine Achtung vor den Menschen und sein Verantwortungsgefühl gegenüber der Gemeinschaft bestimmt wird.

Sinnvolle Ergänzung

Stellen wir uns nun aber ehrlich eine Frage: Kann die Mutter – von der Schule abgesehen – dieses Ziel allein ohne weitere Gemeinschaftserziehung erreichen? Sie kann es meines Erachtens auch beim besten Willen nicht. Wieviel Zeit verbringt sie beim Einkaufen, Kochen, Abwaschen, Saubermachen? Wie unterschiedlich sind die Aufnahmefähigkeit, die Spiel- und Lernmethoden bei Geschwistern wegen des verschiedenen Alters. Oder wie schwer ist es bereits heute für viele Eltern, die Hausaufgaben der Kinder ernsthaft zu verfolgen?

Auch die materiellen Voraussetzungen für die Entfaltung der Fähigkeiten der Kinder sind in den meisten Familien nicht gegeben. Man denke nur an die vielen Fachkräfte, an die Sportgeräte, Musikinstrumente usw., die zum Beispiel den Jungen Pionieren zur Verfügung stehen, die durch die Gemeinschaft erst richtig ausgenutzt und von jedem Kind in Anspruch genommen werden können. In der bürgerlichen Gesellschaft ist es noch heute Privileg der Bourgeoissöhne und

-töchter, sich zu bilden, während gleichzeitig Tausende von Talenten aus Mangel an Geld verkümmern. Wir sollten als Mütter glücklich sein über die unbegrenzten Entwicklungsmöglichkeiten unserer Kinder und uns nicht irremachen lassen. Ein Mensch, der sich alle Kunst und Wissenschaft, alle geistigen Werte der Menschheit zu eigen macht und seine eigenen Fähigkeiten entwickeln kann, wird sich nicht zu einem Serienmenschen, sondern zu einer geachteten Persönlichkeit entwickeln.

Es geht bei uns überhaupt nicht darum, die Erziehung in der Familie durch die gesellschaftliche Erziehung zu ersetzen oder zu verdrängen. Unsere Kinder brauchen beides. Sie entwickeln sich in dem Maße, wie die gesellschaftliche Erziehung und Familienerziehung bewußt und mit gleichem Ziel zusammenwirken, wobei ihnen die Eltern vor allem Vorbild und Vertraute sind.

Und sollte, wie einige Leserinnen meinen, die Familienerziehung hier und da noch zu kurz kommen, und bemerken wir, daß in unseren Kinderheimen noch nicht immer alles zum besten steht, dann entspricht das dem augenblicklichen Entwicklungsstand, den wir schnell überwinden müssen. Das können wir unter anderem gerade dadurch, daß immer mehr Ehefrauen ihre Fähigkeiten für die Gesellschaft einsetzen. Durch unserer Hände Arbeit können die Kinder besser betreut werden, wird unser Leben verschönt und erleichtert, werden wir in Zukunft noch mehr freie Zeit gewinnen, die wir auch unseren Kindern widmen.

Quelle: Anita Grandke, „Zerstört die berufstätige Frau ihre Familie?“, Neues Deutschland, 11. Juni 1960, Beilage „Für die Frau“; abgedruckt in Dierk Hoffmann und Michael Schwartz, Hrsg., Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 8: 1949–1961: Deutsche Demokratische Republik. Im Zeichen des Aufbaus des Sozialismus. Baden-Baden: Nomos, 2004, Nr. 8/212.