Kurzbeschreibung

Wenige Wochen nach Kriegsende zeigen sich in einer Meinungsumfrage in der amerikanischen Besatzungszone die Nachwirkungen von Politik und Propaganda des NS-Regimes. Die Deutschen sind politikmüde und glauben nicht an einen positiven Neuanfang. Sie verachten die Russen, lehnen aber auch die Amerikaner ab, da sie ihnen den „freiwilligen“ Kriegseintritt zum Vorwurf machen und die zwangsweise Einführung einer „fremden“ Regierungsform – der Demokratie – erwarten. Die Aussagen zum Nationalsozialismus selbst sind widersprüchlich, deuten aber bereits auf ein später häufig genutztes Entlastungsargument, nämlich die Verantwortung für die Verbrechen ganz auf die Person Adolf Hitlers zu konzentrieren. Immer noch verbreitet sind antisemitische Vorurteile.

Bericht des amerikanischen Geheimdienstes über die Einstellungen der deutschen Bevölkerung in der US-Zone (12. August 1945)

Quelle

Stellungnahme zu den Alliierten. – Am unpopulärsten sind zweifellos die Russen. Auch heute halten 92 Prozent der Befragten die Russen für ein „minderwertiges“ Volk. Die Deutschen können und wollen nicht verstehen, daß sie „sogar“ von Russen besiegt worden sind. Hier sind starke Revanchegefühle wahrnehmbar. Die meisten Deutschen hatten offenbar gehofft, die Russen würden gezwungen werden, das zerstörte Deutschland aufzubauen. Auf unsere Frage: „Haben Sie angenommen, daß die westlichen Alliierten zusammen mit den Deutschen gegen die Sowjets Krieg führen werden?“ antworteten 72 Prozent im bejahenden Sinne. []

An zweiter Stelle stehen wir (die Amerikaner). Es ist erstaunlich, daß man uns allgemein feindlicher gegenübersteht als Franzosen und Engländern. Eine psychologische Auswertung der Meinungsbefragung ergibt, daß das auf zwei Gründe zurückgeht. Erstens: Es heißt allgemein, die Engländer und Franzosen seien zum Krieg „gezwungen“ worden, während die Amerikaner freiwillig in den Krieg gegen das Reich eintraten. Man nimmt an, daß sich Franzosen und Engländer so benehmen würden, „wie das nach einem Krieg üblich ist“, während man die Amerikaner „verdächtigt“, ihre eigenen Lebensformen (Demokratie) dem deutschen Volk aufzwingen zu wollen. Zweitens: Der Gedanke, daß wir einen „jüdischen Krieg“ geführt haben, ist nach wie vor vorherrschend. [] Den Engländern wird eine gewisse „Korrektheit“ nachgerühmt. Zu ihrer relativen Beliebtheit trägt es auch bei, daß sie nicht so „reich“ sind wie wir: das Element des Neides entfällt. Am beliebtesten sind die französischen „Erbfeinde“, wahrscheinlich, weil man annimmt, mit den Franzosen am leichtesten fertig werden zu können.

NATIONALSOZIALISMUS. – Es herrscht die Tendenz vor, einzelne Personen, insbesondere Hitler, für alle Greueltaten des Regimes verantwortlich zu machen. Hier werden starke Widersprüche offenbar. Eine Überprüfung der Ansichten (cross-checking) ergibt, daß auch von Personen, die immer noch als Nationalsozialisten angesehen werden können, 84 Prozent sich von der Person Hitlers distanzieren. Dagegen haben 53 Prozent der Befragten erklärt, Hitler habe von den Greueltaten in den Konzentrationslagern „nichts gewußt“.

ANTISEMITISMUS. – Der latente Antisemitismus äußert sich bei allen Befragungen. Er scheint auch dort ein motivierendes Gefühl zu sein, wo sich der Befragte von allen nationalsozialistischen Sympathien frei wähnt. Besondere Bedeutung kommt der Beantwortung der Frage zu: „Glauben Sie, daß Deutschland auch dann den Krieg verloren hätte, wenn die Juden nicht verfolgt worden wären?“ Mehr oder weniger qualifiziert haben 64 Prozent der Befragten erklärt, die Judenverfolgungen seien „entscheidend“ dafür gewesen, daß Deutschland den Krieg verloren hat. Viele dieser Befragten äußerten sich überaus ablehnend gegenüber den anti-jüdischen Maßnahmen des Reiches. Dennoch ist ihnen antisemitisches Gedankengut insofern eigen, als sie von der „Macht“ des „Weltjudentums“ überzeugt sind.

POLITIK. – Bei mehr als 90 Prozent der Befragten zeigt sich eine politische Müdigkeit. Sie ist wohl in erster Linie darauf zurückzuführen, daß die überwiegende Mehrheit der Deutschen überzeugt ist, Politik werde in Zukunft über die Köpfe der Deutschen hinweg gemacht werden. Dreiundsiebzig Prozent der Befragten glauben nicht an eine deutsche Selbstbestimmung innerhalb der nächsten fünfzehn Jahre. Auf die Frage: „Warum wollen Sie nichts von Politik wissen?“ antworteten 67 Prozent: „Weil Politik zum Krieg führt.“ Vielfach wird die Meinung vertreten, daß der wirtschaftliche Neubeginn „ohnedies keinen Sinn“ habe.

PRESSE. – Die „amerikanischen Zeitungen für die deutsche Bevölkerung“ sind populärer, als man annehmen möchte. Eine Befragung in Berlin ergab, daß 91 Prozent der Leser die „Allgemeine Zeitung“ für eine „anständige Zeitung“ halten. Im Widerspruch hierzu äußerten sich 66 Prozent zur Frage, ob die „amerikanischen Zeitungen die volle Wahrheit“ veröffentlichen, in negativem Sinne. Offenbar ist die Popularität unserer Zeitungen auf den Vergleich mit der nationalsozialistischen Presse zurückzuführen. Vierundachtzig Prozent der Befragten erklärten, die nationalsozialistische Presse habe „stets gelogen“, 15 Prozent meinten, sie habe „nicht immer“ die Wahrheit geschrieben, nur ein Prozent glaubte, die Hitler-Presse habe sich im wesentlichen an die Wahrheit gehalten. Die Frage nach der Aufmachung der amerikanischen Zeitungen wurde, je nach der Region, verschieden beantwortet. Im Durchschnitt ergibt sich, daß 59 Prozent der Leser die Aufmachung bejahen, 36 Prozent haben verschiedene Einwände – „zu sensationell“, „zuwenig Lesestoff“, „erhobener Zeigefinger“, „zuwenig Lokalnachrichten“ –, während 6 Prozent die journalistische Aufmachung ohne weitere Begründung ablehnen.

Quelle: Hans Habe, Im Jahre Null. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Presse (1966). München, 1977, S. 82 ff.; abgedruckt in Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1986, S. 372–73.