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Sünden um die ‚Sünderin‘
Es ist ein Jammer, daß die Frage, ob wir eine Filmzensur brauchen oder nicht, gerade durch die „Sünderin“ aufgeworfen wurde, durch jenen Film, der dem Regisseur Willi Forst, solange er lebt, zur Blamage gereichen wird. Er habe gegen die Moral verstoßen, so wirft man ihm vor. Aber das ist das Schlimmste noch nicht: er hat gegen die Kunst verstoßen. Würde er Wert darauf legen, ein Moralist zu sein, so hätte er den „Sünderin“-Stoff gar nicht erst gefilmt. Da er aber Wert darauf legt, ein Künstler zu sein, hätte er in seinen Kunstabsichten ehrlich sein müssen. Jetzt sind beide empört: die Moralisten und die Freunde der Kunst. Und beide haben recht, wenn sie sagen, die „Sünderin“ zähle zu dem Verlogensten, was man je auf der Leinwand sah.
Und da sieht man nun in Städten, wo die Gegenpropaganda arbeitet, Menschenschlangen vor den Kinos stehen. Die Leute treten ein, bereit, sich zu verlustieren oder zu entrüsten, und Hand aufs Herz: sie kommen weder hier noch dort recht eigentlich auf ihre Kosten. Keine wirklichen Verführungsszenen, keine Nahaufnahmen verfänglicher Situationen, nichts von Charme, nichts eigentlich auch von Erotik. Warum—da alle protestierten—haben die Besitzer von Stundenhotels nicht protestiert und eingewendet, gerade so gräulich öde wäre es nicht in ihren Etablissements? Da wird das Leben eines jungen Mädchens „auf der schiefen Bahn“ gezeigt; freilich eine unmoralische Story. Aber selbst jene jungen Mädchen, die—unbekümmert um die Moralisten—gern unmoralisch leben möchten, sie werden betrogen sein, wenn sie aus diesem Film Maximen für ihre Praxis ziehen möchten. Denn es ist nicht wahr, daß der Besuch von flotten Bars einem willigen weiblichen Wesen den Weg öffnet, mühelos Hunderte von Mark zu verdienen. Wahr ist vielmehr, daß es sich um lumpig—geringe Beträge handelt. Doch die Verlogenheit dieses Films wird an einem anderen Beispiel ja viel besser deutlich gemacht. Da ist der Vater des fehlkonstruierten weiblichen Geschöpfs: der hat’s mit der Ehre. Wie er nun erfährt, daß seine Tochter auf die „schiefe Bahn“ gegangen, da packt es ihn. Er zieht ein Paket hervor. Will er verreisen? Nein, aus dem Paket kommt seine Offiziersuniform heraus. Nanu? Unter gewisser Spannung des Publikums packt der gequälte Vater die alte Uniform aus und—trennt die Litzen, die Ehrenzeichen ab. Das Publikum lachte; einige, an deren nationale Gefühle sich Willi Forst listenreich wohl gewandt haben mochte, verließen still den Kinosaal. Nachdem die „erotische“ Karte in Forsts spekulativem Spiel nicht gezogen hatte, zog die „nationale“ ebenfalls nicht. Das war in Hamburg, wo man weder für noch gegen die „Sünderin“ Stimmung gemacht hatte. Hamburg ist eine liberale Stadt. Schon regelte sich hier alles von selbst. Man hatte einen schlechten Film gesehen, nichts weiter! Aber in Köln, aber in anderen Landen ...
Der Filmbeauftragte der Evangelischen Kirche, Pfarrer Werner Heß, der sein Amt in der „Freiwilligen Selbstkontrolle“ der Filmwirtschaft niederlegte, hat in dem von Landesbischof Lilje herausgegebenen „Sonntagsblatt“ den Satz geschrieben: „Wir wußten, daß der kirchliche Einspruch diesem Film eine große Reklame machen würde.“ Freilich, die Leute drängen sich vor den Kassen. Und der bisherige Leiter der „Freiwilligen Selbstkontrolle“, F. Podehl, gab in einer Zuschrift an die „Welt“ zu: „Wenn die ‚Sünderin‘ nicht von Stellen, die es gar nicht wollten, zu einem Riesenerfolg aufgebauscht worden wäre, so wäre sie keineswegs ,das‘ Geschäft geworden.“ Ebenso hat zweifellos auch Kardinal Frings nur weiterhin zur Publicity der „Sünderin“ beigetragen, als er jüngst während der Predigt in einer Mitternachtsmesse im Dom zu Köln die Gläubigen aufforderte, zur Selbsthilfe gegen schlechte Filme—er meinte natürlich: moralisch schlechte Filme—zu schreiten. Zurück aber zur Äußerung des Pfarrers Heß. Er hat nämlich seiner Erkenntnis der Reklamewirkung sogleich hinzugefügt: „Es gibt Entscheidungen, wo nicht mehr taktisch, sondern grundsätzlich gedacht werden muß.“ Was heißt das anders als dies: „Obwohl wir wissen, daß wir der ‚Sünderin‘ zu einem—sagen wir: finanziellen—Erfolg verhelfen, den dieser Film ohne unsere Kritik nie erreicht hätte, nehmen wir’s in Kauf, weil wir’s unserem Gewissen schuldig sind!“—Dem aber hält neuerdings die „Spio“, die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft, in einem Memorandum den Satz entgegen: „Aufforderungen zu Demonstrationen mit dem Ziel des organisierten Boykotts stellen einen eklatanten Mißbrauch des Rechts und der freien Meinungsäußerung dar.“ Zwei Fronten also. Hie die Kirchen, dort die Filmwirtschaft. Und schon erheben sich Stimmen, die in diesem Dilemma eine offizielle staatliche Filmzensur verlangen.
Einmal—und nicht zu Unrecht—ist die „Freiwillige Selbstkontrolle“ eine Dokumentation des gesunden Menschenverstandes genannt worden. Solange nämlich die „F. S. K. “, die ihren Sitz in Wiesbaden hat, nicht nur mit dem Blick auf den Gewinn der Filmwirtschaft, sondern auch auf den Nutzen der Öffentlichkeit ihre Aufgaben erfüllt, solange macht diese Konstitution die Einrichtung einer staatlichen Zensur überflüssig. Daß dies grundsätzlich einen Vorteil bedeutet, muß jedem klar sein, der die Geschichte jeglicher staatlichen Kunstzensur—und dies nicht nur in Deutschland, sondern auch in allen anderen Ländern—studiert: es ist noch allemal so weit gekommen, daß die Kunst nicht gegenüber der Moral, wohl aber gegenüber der Prüderie unterlag. Kein Zweifel andererseits, daß die Kirchen ein Recht, ja göttlichen Auftrag haben, in allen Bezirken des Daseins zu wirken. Doch schon meldeten politische Organisationen den Anspruch an, auch ihrerseits mitkontrollieren zu dürfen. Kontrolle aber ist in iedem Falle nicht gerade etwas Positives. Positiv ist Anregung. Und die Filmleute können nicht darüber klagen, mit zuviel Anregungen unterstützt zu werden; viel eher haben sie Grund, über Einsprüche und Einwendungen zu klagen.
Man wird darüber streiten dürfen, ob es überhaupt praktisch sei, Vertreter der Kirchen im Gremium der „Freiwilligen Selbstkontrolle“ zu haben. Die Kirchen legen Wert darauf. Gut, so werden sie in Kauf nehmen müssen, daß ihre Vertreter manches sehen, was ihre Eigenschaft, Priester zu sein, stört, Was etwa, wenn das Thema der „Sünderin“ wahrhaft künstlerisch und daher ehrlich gemeistert worden wäre? Pfarrer Heß, der aus der „F.S.K.“ austrat, hat die Antwort gegeben: er tadelte die „Sünderin“ und lobte den themaähnlichen Film „Vulcano“, und dies läßt hoffen, daß man sich im Prinzip einigen wird auf die Formel, daß im Film der Kunstanspruch den Vorrang habe. Aber hoffen läßt auch ein neuer Entschluß der „Spio“: sie glaubt—trotz allem—an den Wert der Selbstdisziplin, sie glaubt an Reformmöglichkeiten in der Zusammensetzung der „Freiwilligen Selbstkontrolle“. Sie spricht in wenig gutem Deutsch in ihrem Memorandum eine sehr gute Erkenntnis aus: „Selbstdisziplin ist im kulturellen Sektor höher zu bewerten als der Polizeiknüppel. Sollte es sein, daß die Reue um die ‚Sünderin‘ Gutes stiftet? Eine Hoffnung, die nicht nur aus christlicher, sondern auch aus künstlerischer Gesinnung der Sache des in jeder Hinsicht—vor allem künstlerisch—so gefährdeten deutschen Films angemessen wäre ...“
Quelle: Josef Marein, „Sünden um die ‚Sünderin‘“, Die Zeit, Nr. 11 (1951), 15. März 1951. Online verfügbar unter: http://www.zeit.de/1951/11/suenden-um-die-suenderin.