Quelle
Willi Forsts Erstling seit 1945: Ausgerechnet ein Dirnenfilm
Bel Amis Sünde wider die
Filmkunst
Die
westdeutsche Film-Misere am Tiefpunkt angelangt – Das Leben aus
der Perspektive der Gosse gesehen
Frankfurt a. M., Ende Januar
Handelte es sich um einen
Durchschnittsregisseur, so wäre der Meinungsstreit, den Willi
Forsts erster Film seit 1945, „Die Sünderin“, in westdeutschen
Städten hervorgerufen hat, sachlich kaum berechtigt. Willi Forst
aber ist nicht der erste beste; er steht seit 17 Jahren in der
sehr kurzen ersten Reihe der deutschen und österreichischen
Filmregisseure.
Willi Forsts Anfänge
Der Name Willi Forst hatte schon in der Stummfilmzeit guten Klang. Damals war der Schauspieler Forst der unwiderstehliche Herzensknicker, der elegante Kavalier, aber auch der Gentlemanverbrecher, der mit Charme durch die Maschen des Gesetzes schlüpfte. Und dann jene Wiener Nonchalance, mit der der junge Willi Forst seine Schlagerliedchen servierte: „Mein Mädel ist nur eine Verkäuferin in einem Schuhgeschäft mit 20 Franc in der Woche …“ Selbst Peter Voß, dem Millionendieb, konnte man nicht sehr böse sein, weil Willi Forst ihn einst mit so viel Charme ausstattete.
Zu Weltruhm kam Willi Forst jedoch erst durch den aufkommenden Tonfilm. 1932 führte der Schauspieler zum ersten Male Regie, in „Leise flehen meine Lieder“ einem Film um Franz Schubert, und gleich dieser erste Regieversuch zeigte die individuelle Handschrift eines ausgesprochenen Regietalents.
Der Film seines Lebens
Ein Jahr darauf brachte Willi Forst den Film seines Lebens heraus, ein Kunstwerk von einer psychologischen Geschlossenheit und dramaturgischen Einfachheit, wie sie seither nicht wieder erreicht wurden: „Maskerade“, der unvergeßliche Wiener Film mit dem großen Trio Paula Wessely, Adolf Wohlbrück und Peter Petersen.
Mit dem Pola-Negri-Film „Mazurka“ suchte Forst den Stil und Erfolg von „Maskerade“ zu wiederholen. Das gelang zwar nicht, und doch stand auch „Mazurka“ weit über dem künstlerischen Durchschnitt. Es folgte der ernste, schöne Film „Burgtheater“ mit Werner Krauß. Es folgte der diskrete, stille Film „Serenade“, mit dem Hilde Krahls Stern strahlend aufging. Es folgte eine relative Niete mit „Allotria“, ein Lustspielfilm; der Willi Forst zeigte, um wieviel schwerer das Leichte und Beschwingte zu treffen ist als die Wucht der tragischen Handlung.
Erfolge, Erfolge ...
Aber der große Regisseur zwang doch auch auf dem Gebiete des heiteren Films die internationalen Erfolge herbei: „Operette“ (unvergeßlich Leo Slezak als Franz v. Suppé, wie er am zertrümmerten Flügel den Schlager „Du bist verrückt, mein Kind“ komponiert), dann „Wiener Blut“ und die weiteren Filme dieses Genres, vor allem aber der leichte, spritzig nach Maupassant gemachte Film „Bel Ami“ mit der reizenden Lizzi Waldmüller—eine ganze Reihe heiterer Filme, die eine neue Blütezeit des schon sehr heruntergekommenen Operettenfilms heraufführten.
Und Willi Forst erwies sich fast mit jedem seiner Filme auch als ein erfolgreicher Menschenfischer mit dem sicheren Blick für die Zukunft junger Talente: Paula Wessely, Hilde Krahl, Maria Holst, Lizzi Waldmüller und viele andere hat Willi Forst ans Jupiterlicht gezogen. Und er hatte immer noch Zeit und Lust, nebenbei manche fette Rolle selbst mitzunehmen. Man sah ihn als noblen Partner der Wessely in „So endete eine Liebe“ und schließlich in einer sensationellen Doppelrolle von Zwillingsbrüdern mit extrem verschiedenen Charakteren in einem Kriminalfilm, in dessen Mittelpunkt eine Bildfälschung stand.
Er ließ sich Zeit
Nach 1945 tauchte Willi Forst in Wien auf, kam aber erst spät wieder in Fahrt. Er ließ sich Zeit. Nicht irgendein Dutzendfilm sollte sein neuer Start werden, er wollte wiederum das Besondere, das Einmalige bieten. Lange Suche nach einem Stoff und einem Star. Vor Jahresfrist kreuzte Forst in Hamburg auf, sicherte sich Gustav Fröhlich und die gerade enttäuscht aus Dollarika heimgekehrte, tatendurstige Hildegard Knef, hielt sich die Ohren zu, sobald Reporter kamen, und machte sich in einem Hamburger Vorort bei streng verschlossenen Ateliertüren an die Arbeit.
Nun liegt das Ergebnis vor: „Die Sünderin“. Der Film wurde vor kurzem in Frankfurt a. M. uraufgeführt und läuft nun in zahlreichen westdeutschen Städten. Ein fragwürdiger Film, um den es von der ersten Stunde an heiße Köpfe gegeben hat—mit der bisher einzigen Folge, daß die Menschenschlangen an den Kinokassen noch länger wurden…
Marina auf der schiefen Ebene
Das von Gerhard Menzel verübte Drehbuch läßt dies geschehen: Kaum flügge, wird das Mädchen Marina schon zur Dirne. Mutti geht ihr nämlich (in der Nazizeit) mit schlechtem Beispiel voran. Marina wird durch ihren Stiefbruder verführt, justament, nachdem der Stiefvater der Gestapo in die Hände fiel... Auf der untersten Stufe der sozialen Leiter angelangt, lernt Marina einen todkranken Maler kennen, der erblindet. Nunmehr setzt die „wahre Liebe“ ein, an der sich die vermanschte Marina emporranken—soll.
Indessen, dies macht sie sozusagen zweigleisig: Die Läuterung zeigt sich nur im Motiv, in der opferwilligen Liebe zu dem kranken Mann, nicht aber auch in der Methode, mit der Marina ihre Liebe unter Beweis stellt. Denn zwecks Geldbeschaffung zur Bezahlung der Operation des Geliebten geht sie doch wieder die bequemen Wege des Dirnentums. Das Ende vom Lied ist: Tötung auf Verlangen, gemeinsamer Selbstmord in Schönheit, frei nach der Marlitt...
War einst „Maskerade“ Willi Forsts künstlerischer Gipfel, so ist seine „Sünderin“ unstreitig der künstlerische Tiefpunkt, der wohl nicht mehr unterschritten werden kann.
Müssen unsere deutschen Mädchen und Frauen, die sich tapfer, unverdrossen, optimistisch neue Existenzen, neue Wohnstätten, neuen Lebensinhalt zu schaffen verstanden haben, sich ausgerechnet dieses private, gleichgültige, schmuddelige Dirnenschicksal vorführen lassen? Natürlich kann auch ein Straßenmädchen die Heldin eines Films sein, sofern er wirklich zeigt, daß und wie sie sich aus dem Sumpf befreit und schließlich in der Arbeit oder in der Liebe neuen Lebensmut findet. Willi Forsts Film aber entläßt den Zuschauer ohne jede Hoffnung, ohne jeden Kompaß, ohne jeden Zuspruch. Er ist ein deprimierendes Dokument des Nihilismus und als solches ein typisches Sinnbild für den kulturellen Verfall, für den geistigen Niveausturz des deutschen Westens als Folge der totalen Überfremdung durch amerikanische Verbrecher-, Sensations- und Revuefilme. Denn ihnen muß es mindestens gleichtun, wer heute in Westdeutschland als Filmproduzent überhaupt sich über Wasser halten will. Mit solider, künstlerischer, ernsthafter Wertarbeit kann sich im Westen unseres Vaterlandes längst niemand mehr gegenüber der massiven amerikanischen Konkurrenz behaupten.
Seltsamer „Prüfungsausschuß“
Bleibt noch zu registrieren übrig, welche Reaktion „Die Sünderin“ bisher hatte. Der Prüfungsausschuß der in Westdeutschland bestehenden „Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft“ hat den Film einmal vor und einmal nach der Premiere ohne Streichungen mit Stimmenmehrheit passieren lassen, zugleich allerdings festgestellt, daß sich „der Film hart an der Grenze des Zulässigen bewegt“. So läuft also der Film jetzt in sechzig westdeutschen Städten unverändert: inklusive der Szene, in der die halbwüchsige Marina von ihrem Stiefbruder verführt wird, und auch inklusive der zahlreichen Aktaufnahmen von Frau Hildegard Knef.
Wasch mir den Pelz …!
Der Vorsitzende des Arbeitsausschusses der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft, Fritz Podehl, hat über den Film eine wortreiche Erklärung vom Stapel gelassen, die wie die Katze um den heißen Brei herumstreicht. Alle seine den Film „erläuternden“ Sätze könnten abwechselnd mit „einerseits“ und „andererseits“ beginnen. Er nennt Willi Forsts Machwerk ausdrücklich eine „Dirnentragödie einer längst versunkenen Pseudoliteratur“, was dem gesunden Empfinden einen gewaltigen Stoß versetze. Trotzdem fand der Prüfungsausschuß keinen Grund zum Einschreiten!
Seine kirchlichen Mitglieder, der evangelische Pfarrer Heß, und der Vertreter der katholischen Kirche, Anton Kochs, hatten dem Ausschuß nach der Premiere protestierend den Rücken gekehrt, sind ihm aber inzwischen wieder beigetreten. Nun ist zum Ausgleich dafür der Zeitungswissenschaftler Professor Hagemann ausgetreten ... Die Verwirrung der Geister kann also nicht vollständiger sein.
Herr Forst bleibt eisern
Willi Forst selbst sitzt nach wie vor auf hohem moralischem Roß. Selbstherrlich hat er dekretiert: „Dieser Film ist ein Kunstwerk, er wird nicht geschnitten!“ In einer Pressekonferenz ging er noch weiter, indem er sagte: „Hier geht es um die Rettung des deutschen Films; wenn Sie die Sünderin verreißen, ziehe ich mich gänzlich von der Filmarbeit zurück“.
In Frankfurt haben gleich in den ersten Tagen 20 000 Personen den Film gesehen. Während es in Osnabrück Zwischenrufe hagelte: „Pfui! Schweinerei! Aufhören!“, war in Wien große Premiere, zu der Hildegard Knef eigens hinfuhr.
Gewiß würden einige Schnitte „Die Sünderin“ weder besser noch schlechter machen. Daß sich Herr Forst schützend vor sein „Kind“ stellt, wer wollte es ihm verargen? Doch müßte gerade ein so kluger Kopf wie Willi Forst selbst einsehen können, daß dieser filmische Kult des Gemeinen, des Morbiden, der Verkommenheit und Ausweglosigkeit genau das Gegenteil dessen ist, was unser Volk heute braucht
Trübes Fazit
Dies aber ist am schlimmsten:
Eine durch Heirat eines amerikanischen Offiziers Amerikanerin gewordene junge deutsche Schauspielerin wird dem deutschen Volke in der Rolle eines Kontrollmädchens, das zur Mörderin und Selbstmörderin wird, als stellvertretend und typisch für das Gegenwartsschicksal deutscher Frauen vorgestellt.
Ist das für Westdeutschland die Wahrheit, so bedeutet der Film eine flammende Anklage gegen den Bonner Klüngel, der diese Wahrheit nicht beseitigen will oder kann.
Ist das nicht die Wahrheit, so bedeutet der Film eine infame Herabwürdigung aller anständigen und arbeitsamen deutschen Frauen und Mädchen. Sie verbitten es sich, im Film durch westdeutsche Marinas und Veronikas repräsentiert zu werden.
In beiden Fällen: Uns langt es.
Quelle: Sebastian Ott, „Bel Amis Sünde wider die Filmkunst“, Neue Zeit, 1. Februar 1951, Nummer 26, S. 47.