Kurzbeschreibung

Die Kultur- und Filmpolitik war im Nachkriegsdeutschland heftig umstritten. Katholische und protestantische Kirchenführer erkannten den Bereich des Films und der Kultur als einen entscheidenden Teil des öffentlichen Lebens in Deutschland nach dem Krieg und versuchten, Filme zu regulieren und zu kontrollieren, um die soziale und kulturelle Macht zurückzugewinnen, die sie in der NS-Zeit verloren hatten. Die Film- und Kulturpolitik wurde zu einem Eckpfeiler des „Kampfes um das christliche Abendland“, bei dem Kirchenführer und andere Sozialkonservative versuchten, den Einfluss des Kommunismus und der amerikanischen Konsumkultur auf Westdeutschland zu begrenzen. Der Film Die Sünderin aus dem Jahr 1951 wurde zu einem Schlachtfeld in diesem Kampf, weil er gleich mehrere Tabus brach: Nacktheit, Prostitution, Selbstmord und Sterbehilfe; er verstieß gegen die „christliche Moral“, und die Kirche argumentierte, dass ein einziger Film das Gefüge der Gesellschaft bedrohen könne, da sich Deutschland in einer heiklen sozialen und moralischen Situation befinde. Dank der Kampagne gegen Die Sünderin konnte die Kirche nach dem Krieg erheblichen Einfluss auf den kulturellen Wiederaufbau in Deutschland nehmen. In diesem Artikel aus der westdeutschen Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird davor gewarnt, dass eine stärkere Einflussnahme der Kirchen auf die Filmpolitik die deutsche Filmindustrie gefährden könnte, und dies war tatsächlich der Fall: Die kirchliche Einflussnahme auf die Filmpolitik führte letztlich zu einem Rückgang des Ansehens der deutschen Filmindustrie im In- und Ausland.

Debatte über Filmzensur: Die Sünderin (1951)

Quelle

Filme, die ankommen

Zu der Auseinandersetzung über Willi Forsts „Sünderin“

Kaum war durch die Zeitungen und das Radio bekannt geworden, daß die beiden Kirchen ihre Vertreter aus der sogenannten freiwilligen Selbstkontrolle des deutschen Films zum Zeichen des Protests gegen den neuen Forstfilm „Die Sünderin“ zurückziehen, da wuchsen die Schlangen der Wartenden an der Kasse eines der größten Kinos in Frankfurt. Ähnlich dürfte es in anderen Städten sein. Willi Forst, der Mann mit einem der besten Regisseurnamen aus den Jahren, als Goebbels über Babelsberg regierte, der Schöpfer von so delikaten und feinnervig gemachten Filmen wie „Maskerade“ und „Bel Ami“ gerät mit seinem ersten großen Film nach 1945 in die anrüchige Zone von Schund und Schmutz? Man kann es nicht fassen und macht sich auf, selbst zu sehen, was für ein völlig unerwarteter Skandal sich an einen künstlerisch hochgeachteten Namen heftet. Als der evangelische Filmpastor Heß seinen Rücktritt erklärte und der katholische Erzbischof Berning von Osnabrück seine geistlichen Filmexperten zurückzog, mit der Vorsichtsklausel „einstweilen“, da waren sich die geistlichen Herren sicher im klaren, daß ihre sehr auffällige Maßnahme im Falle Forst eine geradezu ungeheure Propagandawirkung haben müsse. Es dürfte kein Zweifel daran möglich sein, daß nicht nur Sensationsgier, sondern in mindestens gleich hohem Maße ein echtes Unterrichtungsbedürfnis Hunderttausende ins Kino führt, die diesen Film, mit dem einigermaßen reißerischen Titel „Die Sünderin“, sonst nicht angesehen hätten. Der evangelische Bischof Lilje hat den Schritt seines Filmbeauftragten inzwischen öffentlich gebilligt. Katholischerseits erfolgte die Distanzierung sofort vom Oberhirten selbst aus. Die Kirchen werden den vermehrten Ansturm auf den Film vermutlich einkalkuliert haben. Sie werden sich sagen: Um so besser, je mehr ernsthafte und urteilsfähige Menschen den Film sehen. Das kann die Autorität der Kirchen in Fragen der Verantwortung für die öffentliche Sittlichkeit nur stärken, wenn es auch dem einzelnen Film selbst zunächst noch mehr Kasse einbringt, als seine eigene Anziehungskraft allein ihm verschafft hätte.

Wir glauben uns nicht zu täuschen, wenn wir vermuten, daß jetzt eine allgemeine Debatte darüber, ob der Forstfilm „Die Sünderin“ eine „entsittlichende“ Wirkung habe oder nicht, in Gang kommen wird. Es wird auch nicht an bösen Worten fehlen. Die Spio (Abkürzung für die in Wiesbaden-Biebrich sitzende Spitzenorganisation der deutschen Filmwirtschaft) hat bereits in einer Erwiderung das törichte und mißverständliche Wort „Kulturkampf“ fallenlassen. Der Fall ist deshalb voller Spannungen und gefährlich, weil Willi Forsts Film mit dem Prädikat „entsittlichend“ nicht eindeutig und nicht treffend charakterisiert ist.

Wir haben in dieser Zeitung mit deutlichen Sarkasmen nicht zurückgehalten, wenn man uns von draußen und von drinnen die marktgängigen Produkte eines filmischen Animierbetriebs zumutete. Wir haben uns, ohne den Vorwurf der Zimperlichkeit zu scheuen, ans Unterscheiden gehalten und etwa, die üppige, aus den Hüften gespielte Renommierweiblichkeit der Mangano in „Bitterer Reis“ von den viel fataleren schwächlichen Nervenkitzeln jener Filmdame, die von rechts die dritte ist, unterschieden. Daß wir einen hohen Prozentsatz der Kinoerotik für entnervend halten, weil Photowollust eine feige Wollust ist, haben wir uns auch bei Gelegenheit gefürsteter Diven mit dem mittelständlerischen Namen Rita Hayworth auszusprechen nicht gescheut.

Seit langem haben wir die verschiedenen Versuche einzelner christlicher Kreise, den lasziven Wirkungen des Films zu steuern, registriert. So scheint es uns gesund und vernünftig, daß christliche Jugendgruppen und selbstverständlich auch andere, die sich nicht ausdrücklich christlich nennen, offen gegen den Film „Die dritte von rechts“ angehen. Wenn es Gerichte geben sollte, die die offene und werbende Äußerung gegen erotische Laszivität als geschäftsschädigend erkennen, dann wird man zu dem Schluß berechtigt sein, daß die Warnung vor Verderbnis nicht zu den demokratischen Grundrechten gehöre.

Wie aber steht es mit Forsts „Sünderin“? Der Film ist in seinen beiden ersten Dritteln bei aller Anrüchigkeit des Sujets mit Behutsamkeit und meist mit künstlerischem Takt und, was noch mehr ist, mit künstlerischen Mitteln gemacht. Das junge Mädchen aus bürgerlichen Kreisen wird von dem Stiefbruder verführt. Der Realismus des gräßlichen Vorgangs ist durchweg ins Künstlerische übersetzt. Das bewirkt nicht nur die Form des erinnernden Monologs, das bewirken auch die andeutenden, behutsam auf das Erlebnis des Mädchens konzentrierenden Details und filmoptisch ausgezeichnet erfundenen Symbole, wie die erlöschende Lampe, das halbe Fenster, das in die kümmerliche Kammer nur ein böses halbes Licht einläßt, und viele solche einzelne Mittel mehr.

Aus dem Dirnenleben, deutlicher: Bardamenleben der Sünderin berichtet der Film einzelnes, das geradezu zeiterhellend genannt werden kann und künstlerisch mit Takt und Witz gefaßt ist, so etwa die Szene der um die hübsche Bardame wimmelnden jungen Offiziere, deren feldgraue Uniformen mit Hoheitsadler und den bekannten anderen Emblemen sich unversehens in die einfacheren olivbraunen Blusen mit der Marke US wandeln. Das Argument eines der Filmpastoren, die Rückfälligkeit ins alte Dirnenleben, der Selbstverkauf des Weibes aus Liebe zu einem Manne, den sie retten will, sei der eigentliche Skandal, scheint uns nicht glücklich formuliert und könnte den berechtigten Einwänden gegen den Film Eintrag tun. Es hat Frauen gegeben, die sich aus Liebe, zum Beispiel zu ihren hungernden Kindern, verkauft haben. Niemand kann der Kunst, sei die nun Roman oder Film oder welches Mittel sonst, solche tragischen und erschütternden Sujets verbieten. Was das Motiv in der „Sünderin“ anrüchig macht, ist das Wie. Diese widerwärtige romantische Verbrämung mit sogenannter Kunst und mit ästhetischem Getue um die Sonne und das Licht und den alten Heiden, mit der großen, großen Liebe aus Pappmaché, dies macht das grauenhafte „Opfer“, wenn man den Gang in die Hinterstube gieriger Menschenschänder mit dem hohen Wort benennen darf, anstößig und verderbt. Auch sind gewisse Grenzen des Anstands überschritten, wenn das Publikum erfährt, daß die Sünderin, der die Malerliebe das Herz gewandelt hat, sich auf die Künste der käuflichen Liebe nicht mehr so verstehe. In den Nuancen, im künstlersichen Wie liegen die Widerwärtigkeiten. Die Liebesgeschichte mit dem unheilbar kranken, auf Frist lebenden Maler enthält Partien von künstlerischem Reiz, Liebeszenen voller Glut und von jener Verhaltenheit, die Kunst von Schund unterscheidet. Wir nennen die großartig gespielten Szenen des Liebesglücks in Venedig und in Positano. Wer hätte nach der banalen Postkartenpracht von „Hochzeitsnacht im Paradies“ gedacht, daß der Markusplatz noch einmal eine filmische Entdeckung werden könnte? Wie sind die steilen Treppen von Positano zwischen den weißen Würfeln der Häuser perspektivisch kühn gesehen, wie weiß Forst die Schauspielerin Knef hochbeinig und rassig zum Strand jagen zu lassen, wie endet diese Szene in einem unanfechtbaren Finale der Leidenschaft! Es ließen sich mehr solcher Hinweise auf künstlerisch ausgezeichnete Szenen mehren, so vor allem auf die souveräne Bildraumregie. Sie werden nicht unbemerkt bleiben, auch im Ausland nicht, wo man fast verlernt hat, vom deutschen Film hohe differenzierte Kunst zu erwarten. Es ist kein Zweifel, daß die künstlerischen Meriten des Films „Die Sünderin“ seiner moralischen Verurteilung sehr im Wege stehen werden. Selten ist so deutlich bewiesen worden, wie das Drehbuch samt dem Dialog von großer Darstellung (neben der Knef überraschend konzentriert und scharf profiliert Gustav Fröhlich) und großer Filmbildnerei überspielt werden können.

Aber der Film enthält, insbesondere in seinem letzten Drittel, lange Passagen, die man schlicht und grob einen üblen Schmarren heißen muß. Der Fototod in Schönheit erinnert samt seinen ekelhaft klebrigen Liebesphrasen fatal an „Ich klage an“. Hier wird auf geheime Wolllustkitzel der Sentimentalität spekuliert, die uns noch verderblicher scheinen als die Sinn- und Moralwidrigkeit des bloßen Vorgangs. Viel gräßlicher noch als der von dem Filmpastor Heß beanstandete Rückfall ins alte Dirnenleben — aus Liebe zu dem Maler und um Geld zu beschaffen! — scheint uns die ans Lächerliche streifende Aktbildnerei. Daß die Schauspielerin Hildegard Knef es an erotischer Ausstrahlung mit ihrer italienischen Kollegin Mangano aufnehmen kann, daß ihre rassige Schlankheit fasziniert und gefällt im Verein mit einem pferdelangen Gesicht, in dem ein fast wulstiger Mund seltsam mit einer geistigen Stirn und kalten, hellen Augen kontrastiert, begrüßen wir mit großem Beifall. Das Weib hat seinen Platz in der Kunst. Daß aber ein Mann wie Forst diese Schönheit auszieht, sie lüstern darbietet und ein gemaltes Bild von ihr über den Kamin hängen läßt, das von dem verflossenen Herrn Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste stammen könnte und ins mythologische Genre nordische Dame, zufällig ohne Schwan, einzuordnen wäre, gäbe es noch die große Fleischbeschau, Haus der Deutschen Kunst benannt, das ist unfaßlich. Die sinnliche Wut und Raserei des todkranken Malers erhöht das Undelikate der Szene. Hier erlauben wir uns, von der Meinung des Hauptausschusses der Selbstkontrolle abzugehen und zu sagen, daß der Film nicht an, sondern jenseits der Grenze des „Zulässigen“, besser des Anstandes, angekommen sei.

Daß die Kirchen sich distanzieren, ist nur zu gut begreiflich. Daß sie es aber erst bei dieser Gelegenheit, das heißt bei einem Film tun, dessen künstlerische Verdienste unbestreitbar und zahlreich sind, macht den Fall nicht erfreulicher und verwickelt die Situation. Warum sind die Pastoren nicht viel früher aus der Mitverantwortung am Film, der nun einmal ein Markt, eine Ware und ein Produkt der sogenannten Kulturgüterindustrie ist, ausgestiegen? Etwa weil dies oder jenes Röckchen einen oder einen halben Zentimeter länger war? Glaubt man den harmlos getarnten Kitsch als weniger verderblich durchpassieren lassen zu können?

Wir stellen diese Fragen nicht, um die Initiative der Kirchenvertreter im Falle der „Sünderin“ in Mißkredit zu bringen. Wir tun es, um neuen Irrtümern vorzubeugen. Aus kirchlichen Kreisen — wir wissen, daß es innerhalb der Kirchen geteilte Meinungen über die Verfahrensformen gibt — werden Vorschläge laut, die Kirchenvertreter würden nur zurückkehren, wenn ihnen innerhalb der freiwilligen Kontrollorgane mehr Einfluß gegeben werde. Dieser Weg scheint uns gefährlich. Der Zensor ist nicht der Produzent. Er kann aber leicht für eine Gesamtsituation mitverantwortlich gemacht werden, an deren Zustandekommen er nicht beteiligt ist. Was wäre gewonnen, wenn die Kirchenvertreter in der Selbstkontrolle ein Vetorecht erhielten? Das graue Mittelmaß würde eine Zeitlang triumphieren, bis die finanzielle Pleite die ganze Institution auffliegen ließe. Es geht selbstverständlich nicht ohne Filmzensur, wir meinen Selbstzensur. Die Kirchen und verwandte Institutionen haben die Möglichkeit, sich indirekt durch nicht ordinierte Personen ihres Vertrauens vertreten zu lassen. Sie erhalten dadurch ihre Handlungsfreiheit zurück, weil sie die Verantwortung für das noch gerade Zugelassene loswerden.

Dies alles erschöpft sich freilich im Negativen. Als die beiden christlichen Kirchen, übrigens mit verschieden starker Intensität und Beteiligung, einmal den Versuch einer eigenen Filminitiative unternahmen, entstand die berühmte „Nachtwache“. Wir haben uns wegen unserer scharf ablehnenden Kritik manches Mißtrauen und scharfe Abwehr zugezogen. „Nachtwache“ war ein sittlich sauberer Film, ein Film der besten Absichten und ein Versuch mit filmungewohntem Stoff. „Nachtwache“ wurde ein großer, mehr als das, ein Riesenerfolg. Und doch ist dieser Film künstlerisch durchschnittlich geblieben und, was schwerer wiegt, nicht über jene Konventionalität hinausgekommen, die immer entsteht, wenn Instanzen das Heft in der Hand haben. „Nachtwache“ ist — es hat uns bis dato niemand eines besseren belehrt — ein Film, dessen Stoff nicht das Urerlebnis unsrer Zeit ausmacht. Der Gott der „Nachtwache“ ist der „liebe Gott“ der vergleichsweise behaglichen Bürgerzeit von vorgestern, jener liebe Gott, der die Obhut über die individuelle Seelenharmonie hat, an dem man zweifelt und verzweifelt, wenn individuelle Schicksalsschläge fallen. Was ist mit der „Sünderin“? Man verzeihe uns die Parallele. Auch sie ist ein bürgerlicher Film in jenem Sinne, wie wir nicht mehr bürgerlich sein können. „Die Sünderin“ ist die Kameliendame, auf 1950 frisiert. Der Luxus, der äußere und der innere, sind von vorgestern, das heißt aus einer Zeit, als die Bohemefiguren am Rande der bürgerlichen Gesellschaft viel interessanter waren als die wohlanständigen Bürger selbst. Wir sehen die entsittlichende Wirkung der „Sünderin“, von der Filmpfarrer Heß in seinem Schreiben an die Spio spricht, nicht so sehr in dem Kokottenthema. Diese Bardame ist viel zu luxuriös, viel zu sehr literarisches Klischee und sentimentale Staffage aus dem 19. Jahrhundert, in dem sich Willi Forst immer sehr zu Hause gefühlt hat, als daß man ihr das Elend, das physische und seelische derer „ohne Gnade“ glaubte. Das ist nur aufgeklebt und auf fein gemacht.

So sehr wir die Ablehnung des Films „Die Sünderin“ durch die Kirchen verstehen, so notwendig scheint es uns, auch bei dieser Gelegenheit erneut zu sagen, daß der Film überhaupt bei uns an Mut zur Wahrhaftigkeit und Rücksichtslosigkeit krankt. Wenn der Nachtwachenregisseur Harald Braun erklärt, er wolle nicht den Film, der nur bei Hunderttausend, sondern den, der bei fünf Millionen ankommt, dann offenbart dieses Wort mit grotesker Offenheit das eigentliche Übel. Wir wollen nicht Filme, wenn und weil und bei wie vielen sie ankommen, sondern, wir wollen wesenhafte, wahre Filme. Die komplizierten ökonomischen Gegenerklärungen sind dumm, weil sie von Leuten stammen, die sich immer noch einbilden, daß die Laien verstummen, wenn Fachleute ihnen vorreden wollen, daß es Filme wie „Ohne Gnade“ oder „Vulcano“ nicht gibt. Es gibt sie. Wir glauben sogar, daß sie ankommen, ohne genau zu wissen, bei wieviel Millionen. Es sind wohl Millionen...

Quelle: Karl Korn, „Filme, die ankommen: zu der Auseinandersetzung über Willi Forsts Sünderin,“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Januar 1951, S. 6.