Kurzbeschreibung

Knapp ein Jahr nach Kriegsende gründen der Soziologe und Politologe Eugen Kogon und der Publizist Walter Dirks die Frankfurter Hefte, die sich in den späten vierziger und den fünfziger Jahren zu einer der einflußreichsten gesellschaftspolitischen Zeitschriften in der Bundesrepublik mit einer durchschnittlichen Auflage von 60.000 Exemplaren entwickeln. Beide Herausgeber entstammen einem linksgerichteten christlichen Milieu und stehen der CDU Konrad Adenauers kritisch gegenüber. Kogon war seit 1939 im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert gewesen und hatte 1946 mit dem Buch Der SS-Staat eine erste grundlegende Analyse des nationalsozialistischen Systems veröffentlicht.

Einführung zur ersten Ausgabe der Frankfurter Hefte (April 1946)

  • Heinrich Abeken
  • Walter Dirks
  • Eugen Kogen

Quelle

An unsere Leser!

Wir schreiben es nachdenklich nieder, dieses Wort „An unsere Leser“. Wer wird zu ihnen gehören? Wir stehen in einem Kreis, der uns kennt; aber wir gehen durch ihn hindurch ins Volk, in die Welt, in das Unbekannte. Es ist ein Abenteuer, wie alles, was heute neu beginnt.

Wird der Lehrer, der eine veränderte Jugend vor sich hat, unsere Hefte zur Hand nehmen, um den Strom der Gedanken zu spüren, der Deutschland erneuern soll? Der heimgekehrte Soldat, der auf Straßen und Bahnhöfen müden und doch wachen Auges nach Spuren von Sympathie und Verständnis gesucht hat? Der Student mit vielen unausgesprochenen Forderungen, Ansprüchen, Erwartungen? Der Geistliche, der sich auf einem Felsen weiß, aber die Flut um die Füße spürt? Die Frau, die in der „Volksgemeinschaft“ trieb und nun auf neuen Boden zu kommen trachtet? Oder ihre Mitschwester, die aus der Unbeirrbarkeit des weiblichen Gefühls Widerstand geleistet hat und nun zur Gewißheit des Herzens die Sicherheit der Einsicht sucht? Der Politiker mit den großen Aspirationen und dem nagenden Zweifel im Herzen, der Arbeiter mit dem geprägten Parteidenken und dem unterscheidenden Blick für Utopien und Möglichkeiten, der Wirtschafter mit dem Drang zur gewohnten Aktivität und den pessimistischen Anwandlungen angesichts der Trümmer, die ihn umgeben, der abnehmenden statt sich ergänzenden Vorräte? Der Intellektuelle, der an die Kraft des Geistes glaubt, und der „Praktiker“, der nur sehen will, „was die Theoretiker da wieder zusammenschreiben“? Oder werden auch die Nur-Lesehungrigen, weil Bücher heute Mangelware sind, nach unseren Heften greifen, um neugierig und skeptisch darin herumzublättern?

Wir wissen nichts von unseren Lesern, die doch unsere Partner, unsere Teilhaber, unsere Freunde werden sollen.

Aber vielleicht ist das gut so. Ohnehin entschlossen, ihnen nicht nach dem Munde zu reden, werden wir keine falsche Rücksicht auf sie nehmen, sondern sagen, was wir für richtig und für notwendig halten. Das wird nicht selten hart und unbequem klingen. Auch nicht immer leicht, denn manche Dinge und Zusammenhänge dieser dunklen Erde und dieser besonders dunklen Gegenwart sind verwickelt und lassen sich nicht in Fibelart für jeden Unmündigen deutlich machen. Wir werden um Klarheit sehr bemüht sein, aber der Leser wird sich ebenfalls anstrengen müssen. Die gängige Phrase, das Nebelwort, das man so leicht einsog und rasch aus dem Hirn wieder verdampfen ließ, hat die Atmosphäre des Denkens verdickt. Wir können nicht atmen in ihr, wir wollen gute Sicht und einen präzis funktionierenden Verstand, – das lebendige Herz, das im Rhythmus der Zeit für die ewigen Ziele schlägt, versteht sich von selbst.

Wir erwarten also „nachdenkliche“ Leser. Wir glauben, daß wir so der Erneuerung Deutschlands einen Dienst erweisen – wir, das heißt die Herausgeber, die Mitarbeiter und jene Leser schon inbegriffen. Das Dunkel um uns soll sich lichten. Wir wollen alle mithelfen, das Undurchsichtige und das Rätselhafte, das uns bedroht, zu klären, soweit das uns, die wir eben aus einem Abgrund kommen, und dem Menschengeist überhaupt vergönnt ist.

Wir möchten indes mehr: nämlich den Leser, den wir nachdenklich gemacht haben, aus dieser Nachdenklichkeit zu notwendigen Scheidungen und Entscheidungen bringen, ihm Mut zum Nein geben und noch mehr Mut zum Ja. Wir wiederholen es, weil es wichtig ist: Mut zum Nein und noch mehr Mut zum Ja, und wir möchten die Kraft des Herzens und des Geistes, die dazu gehört, mit Einsicht nähren. Das klärende und nährende Wort, das hier zu lesen sein wird, soll vom christlichen Gewissen bestimmt sein; die Welt aber, auf die es sich bezieht, ist nicht etwa „das Religiöse“, sondern die ganze, vielschichtige, reiche, arme Wirklichkeit.

Wir hoffen, obgleich wir noch fast allein sind, daß alle in Deutschland, die wach und unruhig sind, ein solches Wort und eine solche Sprache verstehen werden, alle „Aufgeschlossenen“, die Lebendigen und Fragenden – eine Elite, die aus allen sozialen Schichten, Altersklassen und „Richtungen“ kommt. Wir hoffen, denn sonst hätten wir nicht den Mut gehabt, anzufangen. Mancher, der durchaus etwas zu sagen hätte, ist aus zweifelnder Vorsicht, die fast betäubten Ohren des Volkes möchten noch nicht aufnahmefähig, die Herzen noch immer verschlossen sein, und aus der Besorgnis vor vorschnellen Parolen bisher lieber stumm geblieben; auch war die Geschichte der letzten dreißig Jahre nicht gerade dazu angetan, in den Schriftstellern die Lust und den Mut zu programmatischer Arbeit zu erwecken. Auch wir hatten es mit solchen Bedenken zu tun. Aber wir sind am Ende doch zu der Meinung gekommen, daß viele Menschen im Lande gerade jetzt, da sich die Wasser einer propagandistischen Sintflut verlaufen haben, nach Sichtung und Orientierung verlangen. Und so sind wir denn an die Arbeit gegangen.

Quelle: Frankfurter Hefte, Zeitschrift für Kultur und Politik, herausgegeben von Egon Kogon und Walter Dirks, Jg. 1, April 1946, H. 1, S. 2 f.

Einführung zur ersten Ausgabe der Frankfurter Hefte (April 1946), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/die-besatzungszeit-und-die-entstehung-zweier-staaten-1945-1961/ghdi:document-4588> [09.05.2024].