Kurzbeschreibung

Während die amerikanischen Besatzungsbehörden das Entnazifizierungsprogramm verteidigten, sahen die Westdeutschen das Programm zunehmend kritisch, da es u.a. wichtige Fragen der Gleichheit vor dem Gesetz aufwarf. So fielen die Strafen für die Angeklagten, die vor den Tribunalen erschienen, in der Regel milder aus, wenn ihre NS-Belastung in den späten 1940er Jahren und nicht bereits 1946 geprüft wurde. Das Strafmaß hing auch davon ab, in welcher Besatzungszone der oder die Angeklagte lebte. Vor diesem Hintergrund warf Eugen Kogon eine grundlegende Frage der Gerechtigkeit auf: Durften Deutsche wegen ihrer früheren politischen Ansichten oder ihrer passiven Mitgliedschaft in der NSDAP verurteilt werden, wenn sie keine Verbrechen begangen hatten? In diesem Artikel stellt er die damit zusammenhängende Frage, ob es ein Recht gibt, politische Fehler zu begehen.

Seine Überlegungen sind von besonderer Bedeutung, weil Kogon, ein Katholik, ein NS-Gegner war, der ein Konzentrationslager überlebt hatte. Nach dem Krieg schrieb er eine große Studie über das nationalsozialistische Verfolgungs- und Repressionssystem mit dem Titel Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager (1977). Nach 1945 wurde er zusammen mit Walter Dirks Herausgeber einer linkskatholischen Intellektuellenzeitschrift, der Frankfurter Hefte, und war Professor für Politikwissenschaft an der Universität Darmstadt.

Eugen Kogon, „Das Recht auf politischen Irrtum“ (Juli 1947)

Quelle

Ein wahres Labyrinth verwirrender Zusammenhänge, von der Wirklichkeit heute um uns ausgebreitet, läßt uns nur durch Erörterungen, die wie Umwege, ja vorerst wie

Abschweifungen aussehen mögen, zu der Feststellung vordringen, daß wir ein Recht darauf haben, uns politisch zu irren, und daß sehr weittragende praktische Folgerungen aus diesem Recht abzuleiten sind.

Die Form, wie man das deutsche Volk seit nunmehr zwei Jahren vom Nationalsozialismus und Militarismus zu befreien versucht, hat zu dem reichlich chaotischen Zustand, in dem wir uns befinden, viel beigetragen. Das Ergebnis ist vorerst, jeder Kundige weiß es, weniger Denazifizierung als Renazifizierung. Das böse Wort läuft um: „Seitdem uns die demokratische Sonne bescheint, werden wir immer brauner.“ Deutsche Mängel und alliierte Fehler haben einander mit verhängnisvoller Sicherheit, als ob sie aufeinander abgestimmt gewesen wären, ergänzt und die Anstrengungen der Einsichtigen bisher beinahe um jeden Erfolg gebracht.

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Daß die sogenannte Denazifizierung in allen vier Zonen Deutschlands mißglückt ist, haben die aufgezeigten Verhältnisse dargetan, – sofern die Behauptung richtig ist, daß man keinen Hitler haben muß, um nazistisch gesinnt und nicht ohne hundertfachen Einfluß auf die weitere Entwicklung der öffentlichen Verhältnisse zu sein, und daß man kein Heer braucht, um als Militarist auf die nächste Gelegenheit zu warten, sich der oder jener Macht zu verdingen. (Ich denke, die Behauptung ist richtig.) Hitler ist tot, doch er lebt; die nationalistische Armee ist zerschlagen, ihr Geist wirkt (mehr als ihr Geist). Was ist also denazifiziert worden? Der Apparat, und das nur brüchig, aber mit vielfach verhängnisvollen Folgen. Es lag an den angewandten und immer noch angewendeten Methoden. Sie waren in jeder der vier Zonen verschieden; das Ergebnis ist überall ähnlich.

Sehen wir in der Analyse von der russischen und von der französischen Zone ab; die Umstände liegen dort teilweise anders. Trotzdem gelten auch für sie die Schlußfolgerungen, weil sie aus einer tieferen Schicht allgemeiner Unterlassungen und ihnen entsprechender Notwendigkeiten stammen.

Man hat mit Goebbels und im Zuge der eigenen Kriegspropaganda, um es zu wiederholen, das ganze deutsche Volk als nazistisch angesehen. Man hat es infolgedessen als Kollektiv-Einheit beschuldigt. Zwischen dieser Anklage, die auf die gesamte „Umerziehungspolitik“ von vornherein einen schweren Schatten legte, und der ersten von den Angelsachsen vorbereiteten Praxis der Denazifizierung war bereits ein Unterschied; sie brachten Listen nationalsozialistischer Kategorien mit. Es waren – von den Kriegsverbrecherlisten abgesehen – nicht Namensverzeichnisse, wie es hätte sein müssen, die in Deutschland sofort von kleinen Orts-, Bezirks- und Betriebsausschüssen einwandfreier, sachkundiger Männer und Frauen zu ergänzen, ja überhaupt erst recht auszufüllen gewesen wären (was damals, im ersten Schwung, noch hätte bewältigt werden können, mit Steckbriefen für abwesende Aktivisten, sodaß man Orts-, Bezirks- oder Betriebsfremde nach und nach, einzelweise, überprüfen konnte). Es waren Formalkataloge der NSDAP, ihrer Gliederungen und verwandter Organisationen. Nicht das ganze deutsche Volk wurde von ihnen erfaßt. Das war der Unterschied zur Ausgangsthese. Aber unterschiedslos wurde ein recht großer Teil erfaßt: in der US-Zone bis zum 1. April 1947 etwa 28 Prozent der über 18 Jahre alten Bevölkerung oder 3.303.557 Personen von 11.901.65, die verpflichtet waren, einen Fragebogen auszufüllen, wenn sie vom Bezug der Lebensmittelkarten nicht ausgeschlossen werden wollten; in der britischen Zone, wo ein etwas anderes, aber ebenfalls formales Verfahren zur Anwendung kam, wurden zwar nicht so viele Personen sofort betroffen, doch immerhin im Laufe der Zeit wahrscheinlich mehr als zwei Millionen. Sie alle galten als Nationalsozialisten. Ein geringer Prozentsatz von ihnen wurde aus Sicherheitsgründen für längere – zum Teil noch nicht beendete – oder für kürzere Zeit interniert: in der britischen Zone insgesamt annähernd 4,5 Prozent (jetzt 3 Prozent), in der amerikanischen Zone etwa 3 Prozent (jetzt 1,5 Proz.). Alle anderen wurden aus ihren Berufsstellungen entfernt, – bis auf jene, die über besondere Beziehungen verfügten. (War deren Zahl auch statistisch, im Ganzen, nicht sonderlich bemerkenswert, so war sie doch für das Empfinden des Volkes viel zu hoch.)

Was die prüfungslose, rein nach formalen Gesichtspunkten vorgenommene Ausschaltung von fünf Millionen und mehr Menschen allein in den zwei angelsächsischen Besatzungszonen für das Rechtsbewußtsein, für die Politik der „Umerziehung“, für den Staat, die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Schulen, die Publizistik, die Kirchen und jede Einrichtung unserer Öffentlichkeit bedeutete, haben wir erfahren. Es braucht nicht mehr geschildert zu werden. Die Militärregierungen sahen bald – allerdings spät genug –, daß jene Deutschen recht hatten, die dringend ein eigenes gesetzliches Verfahren mit Prüfung jedes einzelnen Falles durch Deutsche selbst vorschlugen. Es wurde in der US-Zone das Befreiungsgesetz, in der britischen Zone die Executive Instruction Nr. 54 erlassen; Spruchkammern und Prüfungsausschüsse traten in Tätigkeit.

Freilich wie! Denn inzwischen hatten vier entscheidende Umstände, derer das neue Verfahren nicht Herr zu werden vermochte, eine veränderte und dauernd sich verschärfende Lage geschaffen.

Die deutsche Gesamtsituation war erheblich schlechter geworden. Ein Teil der Folgen jener politischen Fehler, von denen bereits die Rede war, machte sich lähmend bemerkbar. Vor ihrem Hintergrund wirkte der Optimismus um die neugeschaffene Formaldemokratie – mit den geistig altgebliebenen Parteien samt allem ihrem Drum und Dran – nicht nur künstlich, sondern schon ein wenig erbitternd. Die Stimmung des Volkes war seit langem in raschem Absinken. Die „Denazifizierung“ mit dem Kernstück des Beschäftigungsverbotes, das alle gleichmäßig betraf, und der Verfügung, daß Nationalsozialisten, ob wirkliche oder formale, nur in „gewöhnlicher Arbeit“ tätig sein durften (was der Handarbeit auch noch Strafcharakter verlieh und ihr den Beigeschmack sozialer Deklassierung gab), hatte die schon reichlich beeinträchtigte „Begeisterung“ für „Befreiungen“ inmitten eines fast undurchdringlich gewordenen Entlassungswirrwarrs auf den Nullpunkt heruntergetrieben. Damals kam die vielerzählte Geschichte in Umlauf: Ein Straßenkehrer wird von einem herumstehenden Nichtstuer angesprochen: „Aber Herr Amtsgerichtsrat, ich wußte garnicht, daß Sie Straßenkehrer sind. Sie sind doch kein Nazi!“ „Ach, Herr Meier, ein Nazi bin ich natürlich nicht, aber in der Partei war ich, und nun lassen mich die Ami nur mehr straßenkehren.“ „Merkwürdig“, darauf der andere, „mich haben sie auch herausgesetzt, aber ich war nicht Amtsgerichtsrat, sondern Straßenkehrer!“ Die Amerikaner, für Kritik und gute Witze empfänglich, lachten darüber; aber dadurch wurde die Stimmung der Deutschen nicht besser. Schon wollten diese die ganze Sache loswerden. Nur widerstrebend ließen sie sich, von restlichem Verantwortungsgefühl und von den Parteien angetrieben, dazu herbei, in den nun neugeschaffenen Spruchkammern und Prüfungsausschüssen tätig zu sein.

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Revolutionen können nur schwer gebändigt werden, sie folgen ihren eigenen Gesetzen. Und diesen Gesetzen folgen wieder Männer. So fanden sich auch in Deutschland die Kräfte, die weiter entfesselten statt einzudämmen. Selbstverständlich mit Argumenten der Vernunft, selbstverständlich mit Teilen von Recht. Warum den kleinen Mann vor die Kammern und Ausschüsse zerren, warum ihn dem Beschäftigungsverbot unterwerfen, sagten sie, wenn doch die Politiker schuld sind, die dem Nationalsozialismus nicht energisch genug Widerstand geleistet haben? War der Formalismus der Anklage durch die Alliierten breit angelegt, so machten diese Deutschen ihn jetzt noch viel breiter. Sie zogen eine logische und trotzdem falsche Schlußfolgerung: Der Mitläufer ist im Sinne einer höheren Gerechtigkeit nicht schuldig, denn er folgte nur dem, der für den politischen Irrtum verantwortlich ist; folglich gehört zuerst der Verantwortliche auf die Anklagebank! – Mitnichten, antworten wir; keiner von beiden gehört dorthin, wenn es sich nicht um Verbrechen, sondern um politischen Irrtum gehandelt hat!

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Wir wollen es ohne Umschweife aussprechen: Es ist nicht Schuld, sich politisch geirrt zu haben. Verbrechen zu verüben oder an ihnen teilzunehmen, wäre es auch nur durch Duldung, ist Schuld. Und Fahrlässigkeit ist ebenfalls Schuld, wenn auch eine von anderer und von geringerer Art als Verbrechen und Verbrechensteilnahme. Aber politischer Irrtum – in allen Schattierungen – samt dem echten Fehlentschluß gehört weder vor Gerichte noch vor Spruchkammern. Irren ist menschlich. Es ist so sehr menschlich, daß es zu unserem Wesen gehört. So sehr gehört es zu unserem Wesen, daß wir den Fehler, indem wir ihn begehen, nicht einmal merken. Erst die Folgen machen es uns und der Umwelt, früher oder später, offenbar, daß wir die Mannigfaltigkeit der Zusammenhänge und die Qualität der Kräfte, die im Spiele waren, im Augenblick der Entscheidung nicht genügend berücksichtigt und nicht zureichend eingeschätzt haben. Uns zu irren, darauf steht uns geradezu ein Recht zu, wenn wir nicht Sklaven, Marionetten oder Götter sein wollen. Verlangt man denn nicht von uns, daß wir begangene Fehler einsehen und es ein andermal besser machen? Daß wir aus Fehlern Lehren ziehen sollen? Wer garantiert uns aber denn, daß wir angesichts vorliegender Folgen von Irrtümern, vor neue Entscheidungen zum Richtigen und Besseren gestellt, nun fehler- und irrtumsfrei geworden seien? Unser Weg zur Wahrheit – schon die Erwähnung des Wortes ist in der Politik irrealistisch und verdächtig, da sie ein Ergebnis notwendigerweise einander widerstrebender Gedanken und Kräfte ist! – führt in dieser Welt der Verworrenheiten, des Halbdunkels, der Leidenschaften und so vieler verschiedenartiger Beweggründe nur über Erfahrungen, und das will heißen: über die Erkenntnis von Folgen, die wir ganz und gar nicht mit mathematischer Sicherheit vorausberechnen können, die sonach aus bloß bruchstückhaften Einsichten und aus mangelhaften Willensakten entstehen, aus einem Gemisch von Wahrheit und Irrtum. Die Voraussetzung echter Demokratie ist das, denn in ihr glaubt man, daß niemals ein Einzelner oder eine Gruppe, Schicht oder Klasse die ganze Wahrheit gepachtet hat; nur in Teilen und Splittern ist sie vorhanden, sodaß sie durch Argumente und friedlichen Wettbewerb allmählich zu einer verhältnismäßig vollkommenen Wirklichkeit gebracht werden muß. Behauptung wie Praxis, schuldig sei, wer geirrt hat, ist undemokratisch, totalitär und überdies pharisäisch; man erschüttert auf solche Weise von vornherein jede Politik der Umerziehung in den Grundlagen. Wir stimmen durchaus dem Präsidenten des kantonal-bernischen Schriftstellerverbandes Dr. Hans Zbinden zu, wenn er in seinem Büchlein „Um Deutschlands Zukunft“ Schriften zur Zeit, Artemis-Verlag, Zürich, Heft 14, 1947, 79 Seiten, die These von der „Kollektivschuld eines ganzen Volkes“, die ja die Freiheit von Irrtum einschließt, „eine Greuellehre“ und „ein trojanisches Pferd totalitärer Denkweise“ nennt. Ist nicht der bisherige Versuch einer Denazifizierung Deutschlands, wie wir gesehen haben, selbst voll von Fehlern, die auf irrtümliche Einschätzung von Kräften, bei besten Beweggründen, zurückgehen? Kein Staatsmann, kein Wirtschafter, kein General, kein Pädagoge, kein Schriftsteller, niemand, kein Mensch mit Verstand und Wille auf Gottes weitem Erdboden wäre mehr in Freiheit, wenn Irrtum mit Internierung, am Leben, wenn er mit dem Tode bestraft würde. Wir müßten uns alle gegenseitig einsperren und umbringen. Aus wäre es in der neuen Demokratie Deutschlands mit sämtlichen Politikern aller vier Parteien! Die Kommunisten haben im Preußischen Landtag und im Deutschen Reichstag vor 1933 an die zweihundert Mal Oppositions- und Obstruktionsanträge der Nationalsozialisten gegen alle anderen Parteien unterstützt, sie allein. Weil sie Herrn Hitler den Weg bereiten wollten? Gewiß nicht, sondern weil sie gegen die damalige Regierung waren, – genauso wie die Nationalsozialisten, denen die Hilfe der äußersten Linken nur recht war. Gleiches gilt auf ähnlichen Gebieten von anderen. Das Ausland hat mit Hitler paktiert – und wie! –, noch lange nach dem 30. Juni 1934, als die Fratze des braunen Regimes schon jedermann, der Augen im Kopfe hatte und Grundsätze im Herzen, klar war. Schuld? Die Umstände waren sehr verwickelt: konnte nicht jeder Deutsche von Anfang an sehen, gar vor 1933, daß die Dämme, die einer Flut von Verbrechen entgegenstanden, niedergebrochen würden, so konnte nicht jede ausländische Regierung vor 1938 es auf sich nehmen, das Wagnis eines Weltkrieges einzugehen, ohne die friedlichen Möglichkeiten erschöpft zu haben (was gleichfalls nicht geschah). Wir sprechen von Schuld, nicht von Fehlern, Mängeln, Unterlassungen, Irrtümern.

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Ziehen wir die Schlußfolgerungen. Die Denazifizierung Deuschlands hat eine erste Etappe durchlaufen. Das Ergebnis ist in allen vier Zonen unbefriedigend. Die Methode war falsch. Wir sind mit dem Problem nicht fertiggeworden und wir werden auf diese Weise mit ihm nicht fertig. Beispiel US-Zone: 3.303.557 Personen wurden betroffen. Sie verloren ihre Stellungen. In den ersten 13 Monaten seit dem Erlaß des Befreiungsgesetzes standen 251.845 von ihnen vor Spruchkammern. Wie viele erwiesen sich – dort – als Hauptschuldige? 501! Als Belastete 5.552. Als Minderbelastete 22.194. Als Mitläufer 176.073. Entlastet wurden – weil sie in Opposition gegen das nationalsozialistische Regime gestanden und dadurch Nachteile erlitten hatten – 13.756. Gegen den Rest, 33.769, wurde das Verfahren auf Grund einer Jugend- und einer Weihnachtsamnestie eingestellt. Es hat sich (mangels zureichender Unterlagen der Befreiungsministerien erst nachträglich!) gezeigt, daß beinahe 1,5 Millionen Betroffene unter diese Amnestie fallen. Rund 1 Million Fälle wären also noch abzuwickeln. Mit dem gleichen Ergebnis: 0,2% Hauptschuldige, 2,2% Belastete? Der Rest von 97,6% könnte erst im Verlauf von fünf Jahren oder bis 1950, wenn wir in der Lage wären, die

Zahl der Spruchkammern zu verdoppeln, den Bescheid erhalten, daß sie nicht zu den beiden Hauptgruppen der Schuldigen gehören, – über 5% Oppositionelle, rund 70% Mitläufer! Alle währenddessen von ihrer Berufsarbeit ausgeschlossen? In der britischen Zone wurden bisher etwa 1.160.000 Personen die „Beschäftigungswürdigkeit“ von den Prüfungsausschüssen erneut zugesprochen, für ein Jahr Bewährungsfrist vorerst. Diese bedingten Bescheide sind von der britischen Militärregierung anerkannt worden; sie entsprechen der Einreihung in die Gruppen IV und V (Mitläufer oder Entlastete) der amerikanischen Zone. Das Ergebnis ist dort teilweise … – siehe Klage der „Weltbühne“ über Hamburg! In einem Landkreis der französischen Zone (Rheinland) mußte neulich ein zurückgekehrter hoher Nazifunktionär, gegen den nicht weniger als über ein Dutzend Anzeigen wegen Hausfriedensbruch, Erpressung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Vergewaltigung und dergleichen häßlicher Dinge mehr vorlagen, verhaftet werden. Warum war er zurückgekehrt? Er hatte die wunderschönsten Denazifizierungspapiere aus der britischen Zone! (Nun heißt das natürlich wieder nicht, daß jeder, der mit einem solchen Papier kommt, oder die allermeisten von ihnen nationalsozialistische Verbrecher waren!) Im russischen und im französischen Bereich liegen die Dinge viceversa.

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Was kann noch erreicht werden – radikal und doch unter Berücksichtigung der gegebenen Machtverhältnisse, sowie des politischen Ansehens der regierenden Männer auf alliierter und auf deutscher Seite?

Erstens. Strikte Beschränkung der erlassenen Befreiungsgesetze und -befehle (die entsprechend abzuändern sind) auf alle jene Deutschen, die politischer Verbrechen oder im Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Regime krimineller Handlungen irgendwelcher Art dringend verdächtig sind. Also Beschränkung auf die Gruppen I und II. Sie allein sollen vor Gerichte, Spruchkammern, Prüfungs- und Säuberungsausschüsse gestellt werden, wielange immer das dauern mag (es würde nicht sehr lange dauern).

Zweitens. Aufhebung des Beschäftigungsverbotes für alle übrigen. Allerdings ohne Anspruch auf Wiedereinsetzung in „Rechte“, die nach dem 30. Januar 1933 entstanden sind. Formal belastet erscheinende Oppositionelle erhalten Anspruch auf Wiedergutmachung, doch müssen ihre Fälle, soweit dies noch nicht geschehen ist, geprüft werden; sie können entsprechenden Antrag stellen.

Drittens. Gegen Minderbelastete und Mitläufer ergeht ohne besonderes Verfahren ein genereller Sühnebescheid. Der Beitrag zur Wiedergutmachung der vom Nationalsozialismus heraufbeschworenen Folgen, an dem sie aus irgendwelchen nichtoppositionellen Gründen beteiligt waren, kann auch freiwillig geleistet werden. Die Sühne soll vorwiegend in

Sachgüterabgaben für die Hinterbliebenen Opfer des Nationalsozialismus, für die

Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge und Ausgewiesenen oder in

Gemeinschaftsleistungen bestehen, nur ausnahmsweise in Geld. Die günstigere oder die schlechtere wirtschaftliche Lage des Betroffenen ist mitzuberücksichtigen.

Viertens. Über die Art der Wiederbeschäftigung von Nationalsozialisten, wo immer es sei, entscheiden in den einzelnen Berufszweigen verantwortliche Männer und Frauen, die mit dieser Aufgabe betraut werden. Sie sollen fachlich zuständig und politisch geschult sein. Das Verfahren der Amerikaner, in allen Zweigen der Publizistik sogenannte Lizenzträger mit der vollen Verantwortung für Neueinstellungen von Personal zu betrauen, kann entsprechend angewendet werden. Die Gremien der Berufsvertrauensleute sind innerhalb der Betriebe, der Ämter und sonstigen Einrichtungen zu wählen. Ihre Unabhängigkeit muß wirksam gesichert werden, besonders gegen parteipolitische Einflüsse, die es heute zum Beispiel schon, meist über Betriebsräte oder durch mancherlei höchst bedenklichen Druck gegen Betriebsführungen, verhindern, daß sogar Entlastete, geschweige denn Mitläufer, die ihre gültigen Spruchkammerbescheide erhalten haben, wieder Arbeit finden können. Berufungs- und Schlichtungsinstanzen sind unerläßlich. Als Grundsatz für die Entscheidungen der Berufsvertrauensleute gilt: Nicht allein die Vergangenheit eines Menschen ist ausschlaggebend, sondern mehr noch die Gesamtheit seiner Qualitäten und die Bedeutung der Person für die Zukunft. Führungsfunktionen im eigentlichen Sinne können von Nationalsozialisten erst nach gründlicher Bewährung, wenn durch bewiesene Leistung kein Zweifel mehr an ihrer demokratischen Untadeligkeit besteht, eingenommen werden. Die Möglichkeit, die jeder wieder erhält, ist „einmalig“. (Das Wort mag sie längere Zeit an ihren früheren Herrn und Meister erinnern, dem sie sich hingegeben haben oder nachgelaufen sind.) Wer diese Möglichkeit politisch mißbraucht, wird ohne jede weitere Rücksicht endgültig entfernt. Jeder andere erarbeitet sich, nach dem Urteil der Berufsvertrauensleute, die volle Gleichberechtigung.

Diese Bewährung wird von manchen als Zweitrangigkeit empfunden werden. Wir meinen aber, daß jemand, der sich als fahrlässig, als bloß konjunkturell gesinnt oder ganz einfach als dumm erwiesen hat – ob von idealistischen Beweggründen geleitet oder nicht –, daß ein solcher Mann oder eine solche Frau kaum erwarten sollte, alle Welt werde über die Folgen des früheren Verhaltens schlicht und gutmütig hinwegsehen. In der Geschichte pflegt das glücklicherweise nur selten der Fall zu sein, – ausgenommen bis gestern die Generäle, die jahrhundertelang Ruhm und Pensionen einstecken durften, wenn sie ihre Mitmenschen ins Elend gestürzt hatten. Politiker und Beamte jedenfalls müssen in Demokratien ihren Platz räumen, wenn sie garzuviele Fehler gemacht haben, allzuvielen Irrtümern erlegen sind und ein unterdurchschnittliches Maß an Wissen, Können und Charakter an den Tag gelegt haben. Es ist Sache der Öffentlichkeit, nicht von Spruchkammern, diesen Vergangenheits- und Gegenwartsmaßstab auch auf die heutigen Politiker und Beamten anzuwenden.

Mit dem Vorschlag, das Beschäftigungsverbot für die „Mitläufer“ aufzuheben, haben wir die Grenze der ersten Etappe der Denazifizierung überschritten und uns in die zweite hineinbegeben. Sie hat nämlich eine zweite Etappe, und diese ist weitaus wichtiger als die erste, auf welche bei uns bisher von allen Seiten fast ausschließlich das Augenmerk gerichtet wurde. Wir meinen die positive Befreiung des deutschen Volkes von Nationalsozialismus und Militarismus! Wie stellt man sich eine „Lösung“ denn auf Dauer vor, die so aussieht: Millionen ausschalten und sie sich selber überlassen? Sind sie nicht mehr da, weil man sie ausgeschaltet hat, „ausgeklammert“, in die Konspirationswinkel gedrängt, – „nichtexistent im Eigen-Sinne“, um mit Christian Morgenstern zu sprechen? Man kann sie nur töten oder gewinnen, anders sollen nach den Erfahrungen der Weltgeschichte Feinde nie behandelt werden. (Und wie viele echte Feinde befinden sich schon unter diesen Millionen!) Töten kommt hierzulande, auf den Breitengraden der Demokratie, der verkündeten Humanität und des da und dort immerhin noch nachwirkenden, noch wirkenden Christentums nicht in Frage. Also muß man sie gewinnen. Nicht, indem man sie umwirbt (wozu bei uns schon wieder manche Leute und manche Parteien ebenso heftig wie verdächtig neigen), sondern indem man sich ihrer sachlich annimmt. Man muß beweisen, daß Demokratie besser ist. Folglich wollen wir ihnen eine geregelte, geordnete und überwachte Möglichkeit geben, – konkret, nicht bloß in Phrasen. Ich würde sie mit aufklärenden, Leben und Gesinnung ändernden Tatsachen füttern, nicht bloß mit der einen: Weg mit euch! (Was dann gar nicht radikal geschieht und geschehen kann.) Wer zeigt, daß er gelernt hat – in selbstverständlicher, nüchterner, unpathetischer Bewährung –, der gehört zu uns: zur kämpfenden Gemeinschaft der weiter irrenden, aber um ein System bemühten Menschen, in dem das Recht auf politischen Irrtum nicht mit Schuld verknüpft zu sein braucht. Nur wirkliche Demokratie ist positive Befreiung.

Wir haben versucht, in der Frage der Denazifizierung zu den wahren Ursachen vorzudringen und einen anderen, möglichen, gangbaren Weg aufzuweisen, um Etappe Eins abzuschließen und Etappe Zwei einzuleiten. Wir werden von dieser im einzelnen sprechen, wenn sie nähergerückt sein wird. Es sind bei den Alliierten und bei uns manche einflußreichen Kräfte am Werk, um das Fahrzeug, das vorerst nur die Aufschrift trägt „Demokratie“, in Wirklichkeit aber noch nichts ist als ein Trümmerbeseitigungskarren, aus dem Gestrüpp von Hindernissen, in dem es zur Zeit steckt, herauszumanövrieren. Spreche niemand in Deutschland hämisch von Kurswechsel, Prestigeverlust, durch Not erzwungenes Eingeständnis begangener Fehler und dergleichen mehr, wenn uns demnächst – hoffentlich bald – Möglichkeiten zu neuer Initiative eröffnet werden sollten. Wir sind daran, das Recht auf den politischen Irrtum zurückzuerhalten. Wir, aus deren Reihen in der Vergangenheit viele nicht ohne schwerste Schuld oder Schuldteilhaberschaft davon Gebrauch gemacht haben, wollen es dann denen nicht aufrechnen, die ihm in diesem gegenwärtigen Abschnitt der Entwicklung ohne ein auch nur ähnliches Maß von Schuld gleichwohl Tribut gezahlt haben. Das sachliche Ziel der Befreiung von Faschismus und Militarismus verbindet uns alle, – die Gutwilligen diesseits wie jenseits der Grenzpfähle, der Stacheldrähte, der Mauern von Regierungs-, Verwaltungs- und Befehlsgebungsstellen.

Quelle: Eugen Kogon, „Das Recht auf den politischen Irrtum“, Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik, Juli 1947, Heft 7 (2. Jahrgang), S. 641–55.