Quelle
Bericht von Earl G. Harrison
Reise nach Europa zur Erkundung der Lage und der Bedürfnisse derjenigen unter den Displaced Persons in den befreiten Ländern Westeuropas und im SHAEF-Gebiet (Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Force) in Deutschland, die möglicherweise staatenlos oder nicht repatriierbar sind – unter besonderer Berücksichtung der jüdischen Flüchtlinge
London, England
An den
Präsidenten,
The White House,
Washington
MEIN LIEBER MR. PRESIDENT:
Gemäß Ihrem Briefes vom 22. Juni 1945 habe ich die Ehre, Ihnen hiermit einen Teilbericht über meine kürzlich erfolgte Reise nach Europa vorzulegen, auf der ich Informationen sammelte (1) zur gegenwärtigen Lebenslage der Displaced Persons und insbesondere derjenigen, die möglicherweise staatenlos oder nicht repatriierbar sind, vornehmlich in Deutschland und Österreich (2) zu den Bedürfnissen dieser Personen, (3) darüber, wie diese Bedürfnisse momentan durch die Militärbehörden, die Regierungen am Aufenthaltsort und internationale und private Hilfsorganisationen befriedigt werden sowie (4) zur Sicht der möglicherweise nicht repatriierbaren Personen im Hinblick auf ihre zukünftigen Ziele.
Meine Anweisung lautete, den Problemen, Bedürfnissen und Sichtweisen der jüdischen Flüchtlinge unter den Displaced Persons, vornehmlich in Deutschland und Österreich, besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Der Bericht, insbesondere dieser Teilbericht, bezieht sich dementsprechend in der Hauptsache auf diese Gruppe.
Bei zahlreichen Gelegenheiten wurde von den Opfern der Nazi-Verfolgung Dankbarkeit für das Interesse der US-Regierung zum Ausdruck gebracht. Wie mein Bericht zeigt, brauchen sie Aufmerksamkeit und Hilfe. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind sie eher in einem militärischen Sinne als tatsächlich „befreit“ worden. Aus Gründen, die im Bericht dargelegt werden, ist ihren spezifischen Problemen bis jetzt keine Aufmerksamkeit in nennenswertem Umfang entgegengebracht worden. Folglich meinen sie, dass sie, die auf so vielfältige Weise die ersten und ärgsten Opfer der Nazis waren, von ihren Befreiern vernachlässigt werden.
Auf mein Gesuch hin erteilte das Department of State Dr. Joseph J. Schwartz die Genehmigung, an meiner Mission teilzunehmen. Dr. Schwartz, dem European Director of the American Joint Distribution Committee, wurde eine Freistellung von dieser Organisation gewährt, damit er mich begleiten konnte. Seine lange und vielfältige Erfahrung mit Flüchtlingsproblemen sowie seine Vertrautheit mit dem Kontinent und seinen Bewohnern machten Dr. Schwartz zu einem äußerst wertvollen Begleiter. Dieser Bericht stellt unsere gemeinsamen Ansichten, Schlussfolgerungen und Empfehlungen dar.
Während verschiedener Etappen der Reise konnte ich auch auf die Hilfe von Mr. Patrick M. Malin, Vice Director of the Intergovernmental Committee on Refugees und von Mr. Herbert Katzski vom War Refugee Board zurückgreifen. Diese beiden Männer haben ebenfalls eine beträchtliche Erfahrung in Flüchtlingsangelegenheiten vorzuweisen. Ihre Hilfe und ihre Mitarbeit waren im Verlauf der Untersuchung äußerst hilfreich.
I. DEUTSCHLAND UND ÖSTERREICH
Ausgangslage
(1) Allgemein gesprochen leben viele jüdische Displaced Persons und andere möglicherweise Nicht-Repatriierbare drei Monate nach dem Sieg in Europa und sogar noch länger nach der Befreiung einzelner Gruppen bewacht hinter Stacheldrahtzäunen in diversen Lagern (die von den Deutschen für Zwangsarbeiter und Juden errichtet wurden), darunter einige der berüchtigtsten Konzentrationslager, unter beengten, oftmals unhygienischen und insgesamt trostlosen Bedingungen, in völliger Untätigkeit und ohne Möglichkeit, mit der Welt außerhalb des Lagers zu kommunizieren (außer heimlicherweise), wo sie ausharren und auf irgendein aufmunterndes Wort und eine Maßnahme zu ihren Gunsten warten.
(2) Während hinsichtlich der Gesundheit derjenigen, die das Programm von Aushungern und Verfolgung der Nazis überlebt haben, eine merkliche Verbesserung zu verzeichnen ist, gibt es viele mitleiderregende Fälle von Unterernährung unter den Hospitalisierten und der allgemeinen Bevölkerung der Lager. Die Sterberate seit der Befreiung ist hoch, wie zu erwarten war. Ein Armeegeistlicher, ein Rabbi, hat seit der Befreiung persönlich an 23.000 Beerdigungen (90 Prozent davon Juden) allein in Bergen-Belsen teilgenommen, eines der größten und barbarischsten Konzentrationslager, wo im Übrigen und trotz anhaltender gegenteiliger Berichte immer noch vierzehntausend Displaced Persons leben, darunter mehr als siebentausend Juden. In vielen Lagern und Zentren, einschließlich derjenigen mit schweren Fällen von Hungertod, besteht ein ausgeprägter und gravierender Mangel an nötigster medizinischer Versorgung.
(3) Auch wenn es einigen Lagerkommandanten trotz aller offensichtlichen Schwierigkeiten gelungen ist, für ihre Schützlinge Kleider irgendwelcher Art aufzutreiben, hatten viele der jüdischen Displaced Persons Ende Juli nichts anderes anzuziehen als ihren KZ-Häftlingskleidung – die noch am ehesten aussieht wie ein hässlicher Pyjama –, während andere zu ihrem Leidwesen gezwungen waren, deutsche SS-Uniformen zu tragen. Es ist fraglich, welche Kleider sie mehr hassen.
(4) Von wenigen erwähnenswerten Ausnahmen abgesehen, ist noch nichts in Gestalt eines Aktivitätsprogramms oder eines organisierten Versuchs im Hinblick auf eine Resozialisierung in Angriff genommen worden, und die Internierten, denn als solche muss man sie ansehen, haben wenig mehr zu tun, als über ihre Misere und ihre ungewisse Zukunft nachzugrübeln, und, was noch bedauerlicher ist, Vergleiche anzustellen zwischen ihrer Behandlung „unter den Deutschen“ und „nach der Befreiung“. Abgesehen von der Gewissheit, dass ihnen keine Gaskammern, keine Folter oder andere gewalttätige Todesarten mehr drohen, sehen sie wenig Veränderung – die es auch nicht gibt. Die geistige und seelische Verfassung derjenigen, die entweder staatenlos sind oder die nicht in die Länder ihrer Nationalität zurückkehren möchten, ist sehr schlecht. Sie haben die große Aktivität und die Effizienz mitbekommen, mit der Menschen in ihre Heimat zurückgeführt worden sind, aber sie hören oder sehen nichts Vergleichbares an Plänen für sie, und infolgedessen fragen sie sich und erkundigen sich oft, was „Befreiung“ eigentlich bedeutet. Diese Situation ist dort erheblich zugespitzt, wo sie – was oft der Fall ist – in der Lage sind, aus ihren überfüllten und kahlen Quartieren herauszuschauen und zusehen können, wie die deutsche Zivilbevölkerung besonders in den ländlichen Gebieten allem Anschein nach in ihren eigenen Häusern ein normales Leben führt.
(5) Die brennendste Sorge dieser Opfer der Nazis und des Krieges gilt ihren Angehörigen – ihren Frauen, Ehemännern, Eltern, Kindern. Die meisten von ihnen sind seit drei, vier oder fünf Jahren von ihren Nächsten getrennt, und sie können nicht verstehen, warum die Befreier nicht sofort einen organisierten Versuch unternommen haben, Familienverbände wieder zusammenzuführen. Bei dem Großteil der sehr wenigen Schritten, die in diese Richtung bisher unternommen worden sind, handelt es sich um informelle Aktionen, von den Displaced Persons selbst durchgeführt mit Hilfe von engagierten Armeegeistlichen, oftmals Rabbis, und dem American Joint Distribution Committee. Die Verlesung von Namen und Aufenthaltsorten im Rundfunk, die die Psychological Warfare Division in Luxemburg organisiert hat, war hilfreich, auch wenn der Mangel an Empfangsgeräten die Wirksamkeit des Programms beeinträchtigt hat. Selbst dort, wo Informationen über Verwandte, die in anderen Lagern in Deutschland leben, erhalten worden sind – und das ist durchaus passiert –, hängt es von der persönlichen Einstellung und Bereitschaft des Lagerkommandanten ab, ob die Erlaubnis oder Hilfe gewährt wird, der Information nachzugehen. Einige Lagerkommandanten sind diesbezüglich sehr unnachgiebig, während andere jede nur mögliche Hilfe bereitstellen, um Familien zusammenzuführen.
(6) Es ist schwierig, die Nahrungssituation gerecht zu beurteilen, weil man dabei im Kopf behalten muss, dass Lebensmittel im Allgemeinen knapp sind, und sich die Situation mit dem kommenden Winter wahrscheinlich noch verschärfen wird. Andererseits muss man bei dem Versuch, die Faktenlage zu beschreiben, die Frage aufwerfen, wieviel länger viele dieser Menschen, insbesondere diejenigen, die über eine so lange Zeitspanne hinweg Verfolgung erdulden mussten und fast den Hungertod gestorben sind, auf der Grundlage einer Kost überleben können, die hauptsächlich aus Brot und Kaffee besteht, ungeachtet des Kaloriengehalts. In vielen Lagern bestanden die 2000 Kalorien zu 1250 Kalorien aus einem schwarzen, feuchten und extrem unappetitlichen Brot. Ich habe den deutlichen Eindruck gewonnen, der durch umfangreiche, glaubwürdige Informationen untermauert wurde, dass weite Teile der deutschen Bevölkerung – wiederum vor allem in den ländlichen Gebieten – eine abwechslungsreichere und schmackhaftere Ernährung zu ihrer Verfügung haben als die Displaced Persons. Die Lagerkommandanten meldeten ihren Bedarf dem deutschen Bürgermeister, und viele schienen sich mit dem zufriedenzugeben, was dieser mit der Versicherung ablieferte, es sei das Beste, das verfügbar war.
(7) Viele der Gebäude, in denen die Displaced Persons untergebracht sind, taugen eindeutig nicht für den Gebrauch im Winter, und überall wird die große Sorge über die Aussicht auf einen vollständigen Mangel an Brennmaterial geäußert. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden sich bei Wintereinbruch annähernd eine Million Displaced Persons in Deutschland und Österreich aufhalten. In vielen Gebieten sind die Aussichten alles andere als rosig, was Unterkunft, Ernährung und Brennmaterial angeht.
II. BEDÜRFNISSE DER JUDEN
Während es unmöglich ist, die Zahl der Juden genau anzugeben, die sich momentan in dem Teil Deutschlands aufhält, der nicht unter russischer Besatzung ist, deutet alles auf die Tatsache hin, dass es sich um eine kleine Zahl handelt, die Obergrenze sind wahrscheinlich hunderttausend. Einige informierte Personen behaupten sogar, die Zahl sei erheblich kleiner. Die größten Gruppen nach Nationalitäten sind Polen, Ungarn, Rumänen, Deutsche und Österreicher.
Das erste und einfachste Bedürfnis dieser Leute ist eine Anerkennung ihres momentanen Status’, und damit meine ich ihren Status als Juden. Die meisten von ihnen haben Jahre in den schlimmsten Konzentrationslagern verbracht. In vielen Fällen sind sie, auch wenn das ganze Ausmaß noch nicht zu überblicken ist, die einzigen Überlebenden ihrer Familie und viele mussten die Höllenqual erleiden, den Tod ihrer Liebsten mitanzusehen. Verständlicherweise ist daher ihr gegenwärtiger Zustand, sowohl physisch als auch mental, weitaus schlimmer als derjenige anderer Gruppen.
Während die politischen Leitlinien von SHAEF (jetzt Combined Displaced Persons Executive) früher verfolgte Personen, inklusive Angehörige feindlicher und ehemals feindlicher Nationalität, als eine der besonderen Kategorien von Displaced Persons anerkannt haben, besteht die allgemeine Praxis bisher darin, sich nur an der Nationalität zu orientieren. Während es zugegebenermaßen normalerweise nicht erstrebenswert ist, bestimmte rassische oder religiöse Gruppen von ihrer Nationalitätenkategorie auszunehmen, sieht die schlichte Wahrheit so aus, dass die Nazis genau dies so lange gemacht haben, dass dadurch eine Gruppe mit besonderen Bedürfnissen geschaffen wurde. Die Juden sind als Juden (nicht als Angehörige ihrer Nationalität) auf weitaus schlimmere Weise zu Opfern gemacht worden als die nicht-jüdischen Mitglieder derselben oder andere Nationalitäten.
Wenn sie jetzt nur als Mitglieder bestimmter Nationalitäten angesehen werden, bedeutet das im Ergebnis, dass ihren anerkanntermaßen größeren Bedürfnissen nicht Rechnung getragen werden kann, weil das, so wird argumentiert, eine Vorzugsbehandlung darstellen würde und dies zu Problemen mit dem nicht-jüdischen Anteil dieser bestimmten nationalen Gruppe führen würde.
Es besteht also eindeutig eine unrealistische Umgangsweise mit dem Problem. Eine Weigerung, die Juden als solche anzuerkennen, hat in dieser Situation zur Folge, die Augen vor ihrer vorhergehenden und barbarischeren Verfolgung, aufgrund derer sie bereits zu einer eigenen Gruppe mit größeren Bedürfnissen geworden sind, zu verschließen.
Ihr zweites großes Bedürfnis kann nur dargelegt werden vor dem Hintergrund dessen, was ich als
ihre Wünsche bezüglich ihrer künftigen Aufenthaltsorte herausgefunden habe.
(1) Aus offensichtlichen Gründen, die keiner weiteren Erklärung bedürfen, wollen die meisten Juden Deutschland und Österreich so schnell wie möglich verlassen. Das ist ihre erster und größter ausdrücklicher Wunsch, und während es in diesem Bericht notwendigerweise um andere Bedürfnisse in der gegenwärtigen Situation geht, begegnen viele der Betroffenen selbst anderen Vorschlägen oder Plänen zu ihrer Unterstützung mit Sorge, weil sie die Möglichkeit fürchten, die Aufmerksamkeit könnte auf diese Weise von der allerwichtigsten Sache abgelenkt werden: der Evakuierung aus Deutschland. Ihr Wunsch, Deutschland zu verlassen, ist ein sehr dringender. Das Leben, das sie während der letzten zehn Jahre geführt haben, ein Leben voller Angst und Umherirren und physischer Folter, hat sie ungeduldig werden lassen, was Verzögerungen angeht. Sie wollen jetzt nach Palästina evakuiert werden, genauso wie andere nationale Gruppen in ihre Heimatländer zurückgeführt werden. Der Vorstellung, untätig und unter schlechten Bedingungen monatelang in einem deutschen Lager auszuharren, bis gemächlich eine Lösung für sie gefunden wird, stehen sie nicht gerade mit Wohlwollen gegenüber.
(2) Einige haben den Wunsch, in ihre Heimatländer zurückzukehren, aber was das betrifft, gibt es beträchtliche Unterschiede zwischen den Nationalitäten. Sehr wenige polnischen oder baltischen Juden wollen in ihre Heimatländer zurückkehren; größere Prozentanteile der ungarischen und rumänischen Gruppen möchten zurückkehren, auch wenn sich viele beeilen hinzuzufügen, dies nur vorübergehend zu wollen, um nach Verwandten zu suchen. Einige der deutschen Juden, insbesondere solche aus Mischehen, ziehen es vor, in Deutschland zu bleiben.
(3) Hinsichtlich möglicher Wiederansiedlungsorte für diejenigen, die staatenlos sind oder die nicht in ihre Heimatländer zurückkehren möchten, ist Palästina eindeutig vor allen anderen Lösungen die erste Wahl. Viele haben inzwischen Verwandte dort, während andere, die in ihren Heimatländern jahrelange Intoleranz und Verfolgung erfahren haben, der Auffassung sind, dass sie nur in Palästina willkommen geheißen werden und dort Frieden und Ruhe finden und eine Möglichkeit zum Leben und Arbeiten bekommen werden. Im Fall der polnischen und der baltischen Juden beruht der Wunsch, nach Palästina zu gehen, in einem Großteil der Fälle auf einer Liebe zum Land und Zuneigung zum zionistischen Ideal. Es trifft allerdings auch zu, dass viele nach Palästina auszuwandern wünschen, weil sie realisieren, dass ihre Chance, in den Vereinigten Staaten oder in anderen Länder der westlichen Hemisphäre Aufnahme zu finden, begrenzt, wenn nicht gar unmöglich ist. Was auch immer die Motive sein mögen, die sie bewegt, sich nach Palästina zu orientieren, ist es zweifellos richtig, dass die große Mehrheit der Juden, die sich momentan in Deutschland befinden, nicht in ihre Herkunftsländer zurückzukehren wünschen.
(4) Auch wenn Palästina eindeutig für die meisten die erste Wahl ist, ist es nicht das einzige mögliche Emigrationsziel, das genannt wird. Einige wünschen, in die Vereinigten Staaten auszuwandern, wo sie Verwandte haben – allerdings ist ihre Zahl nicht sehr groß -, andere nach England, in die Britischen Dominions oder nach Südamerika.
Insofern ist das zweite große Bedürfnis die umgehende Entwicklung eines Plans, so viele wie möglich derjenigen, die das wünschen, aus Deutschland und Österreich herauszuholen.
Abgesehen davon sind die Bedürfnisse der jüdischen Gruppe unter den Displaced Persons einfach zu benennen: Unter ihre physischen Bedürfnisse fallen Kleidung und Schuhe (die am dringendsten gebraucht werden), eine abwechslungsreichere und geschmackvollere Ernährung, Medikamente, Betten und Matratzen, Lesestoff. Die Kleidung für die Lager wird bei der deutschen Bevölkerung beschlagnahmt, und ob nicht genug aufgetrieben werden kann oder ob die deutsche Bevölkerung nicht willig ist oder nicht gezwungen wurde: Die Internierten sind besonders verbittert über den Zustand ihrer Kleidung, wenn sie sehen, wie gut die deutsche Bevölkerung immer noch angezogen ist. Die deutsche Bevölkerung ist heutzutage noch immer die am besten angezogene Bevölkerung in ganz Europa.
[…]
IV. SCHLUSSFOLGERUNGEN UND EMPFEHLUNGEN
1. Da jetzt der größte Druck der Massenrepatriierung hinter uns liegt, ist es nicht unangemessen vorzuschlagen, dass in der nächsten und vielleicht schwierigeren Phase denjenigen, die am meisten und am längsten gelitten haben, die erste und nicht die letzte Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Besonders in der unmittelbar bevorstehenden Zeit sollten die Juden in Deutschland und Österreich das erste Anrecht auf das Gewissen der Menschen in den Vereinigten Staaten und Großbritannien und des Militärs und des übrigen Personals haben, die sie mit ihrer Arbeit in Deutschland und Österreich repräsentieren.
2. Die Evakuierung aus Deutschland sollte das allerwichtigste Thema in Politik und Praxis sein.
(a) Unter Anerkennung der Tatsache, dass eine Repatriierung aus der Sicht aller Beteiligten höchst wünschenswert ist, sollte den Juden, die in ihre eigenen Länder zurückzukehren wünschen, dabei ohne weitere Verzögerung geholfen werden. Was auch immer an besonderen Maßnahmen vonnöten ist, um dies hinsichtlich der Aufnahmeländer oder der Zustimmung der Militär- oder anderer Behörden durchzuführen, sollte mit Energie und Entschlossenheit angegangen werden. Für den Fall, dass diese und andere Maßnahmen, die im Folgenden vorgeschlagen werden, nicht ergriffen werden, muss mit erheblichen inoffiziellen und nicht autorisierten Bevölkerungsbewegungen gerechnet werden, zu deren Verhinderung beträchtliche Gewalt eingesetzt werden müsste. Denn die Geduld der betroffenen Personen ist, meiner Meinung nach zu Recht, bald am Ende. Man kann nicht deutlich genug betonen, dass viele dieser Leute jetzt völlig verzweifelt sind, dass sie sich unter der deutschen Herrschaft daran gewöhnt haben, jedes nur mögliche Mittel zum Erreichen ihres Ziels einzusetzen, und dass die Angst vor dem Tod sie nicht zurückhält.
(b) Auch hinsichtlich derjenigen, die aus gutem Grund nicht in ihre Heimatländer zurückzukehren wünschen, muss ein rascher Plan ausgearbeitet werden. In diesem Zusammenhang ist die Palästina-Frage zu behandeln. Da jetzt nicht mehr eine so große Anzahl involviert ist – und wenn irgendeine aufrichtige Anteilnahme daran besteht, was diese Überlebenden erlitten haben – sollte eine vernünftige Ausweitung oder Änderung des britischen White Paper von 1939 ohne allzu große Auswirkungen möglich sein. Für einige der europäischen Juden gibt es keine akzeptable oder auch nur würdige Lösung für ihre Zukunft außer Palästina. Diese Aussage beruht auf einer rein humanitären Grundlage, ohne Bezugnahme auf ideologische oder politische Erwägungen, was Palästina betrifft.
Meinem Kenntnisstand zufolge, der auf zuverlässigen Informationen beruht, werden am Ende des laufenden Monates (August 1945) die Einwanderungsgenehmigungen nach Palästina praktisch ausgeschöpft sein. Wie soll dann die Zukunft aussehen? Jedem, der die Konzentrationslager besichtigt und mit den verzweifelten Überlebenden gesprochen hat, muss es fast ungeheuerlich erschienen, in Betracht zu ziehen, die Tore Palästinas könnten bald geschlossen werden.
Die Jewish Agency of Palestine hat der britischen Regierung eine Petition übergeben, in der die Bereitstellung hunderttausender zusätzlicher Einwanderungsgenehmigungen gefordert wird. In einem Memorandum, das der Petition beiliegt, werden auf überzeugende Weise die momentanen Aufnahmekapazitäten Palästinas und der aktuell tatsächlich dort herrschende Mangel an Arbeitskräften dargelegt.
Während es Raum für Meinungsunterschiede hinsichtlich der genauen Anzahl solcher Genehmigungen geben mag, die unter den gegebenen Umständen als vernünftig angesehen werden könnte, steht es außer Frage, dass diese Forderung viel zu einer tragbaren Lösung für die Zukunft der Juden beitragen würde, die noch in Deutschland und Österreich sind und sogar für andere vertriebene Juden, die entweder nicht wünschen, dort zu bleiben oder in die Länder ihrer Nationalität zurückzukehren, wenn ihr denn nachgegeben würde.
Keine andere Angelegenheit ist darum aus Sicht der Juden in Deutschland und Österreich und an anderen Orten, die den Horror der Konzentrationslager erfahren haben, so wichtig wie die Entscheidung der Palästina-Frage.
Dr. Hugh Dalton, ein prominentes Mitglied der neuen britischen Regierung, hat angeblich auf dem Labour-Parteitag im Mai 1945 gesagt:
„Diese Partei hat festgelegt und noch im vergangenen April wiederholt, dass es dieses Mal mit Blick auf die unaussprechlichen Schrecken, die den Juden in Deutschland und in anderen besetzten Ländern in Europa zugefügt worden sind, moralisch falsch und politisch nicht zu verteidigen ist, jetzt Hindernisse für die Einreise nach Palästina aufzubauen für alle Juden, die dorthin möchten...
Wir haben auch klar zum Ausdruck gebracht, dass dies keine Angelegenheit ist, die als eine angesehen werden sollte, für die die britische Regierung alleine verantwortlich ist. Aber wenn sie im internationalen Bereich zum Thema wird, wie viele andere, ist es unverzichtbar, dass eine enge Abstimmung und Kooperation zwischen der britischen, amerikanischen und sowjetischen Regierung besteht, insbesondere, wenn wir eine sichere Ansiedlung in Palästina und in den benachbarten Ländern erreichen wollen...“
Wenn dies die Sichtweise der neuen Regierung in Großbritannien wiedergibt, wäre es sicherlich nicht unangemessen für die Regierung der Vereinigten Staaten, ihr Interesse an und ihre Unterstützung für irgendeine gerechte Lösung der Frage zum Ausdruck zu bringen, die es einer vertretbaren Zahl von verfolgten Juden aus Europa, die jetzt in jeder Hinsicht heimatlos sind, möglich machen würde, sich in Palästina niederzulassen. Das ist ihr Wunsch, und dieser wird wiederum erstrebenswert durch die allgemein akzeptierte Politik, Familien zu erlauben, sich zu vereinigen oder wiederzuvereinigen.
(c) Die Vereinigten Staaten sollten den bestehenden Einwanderungsgesetzen entsprechend einer vertretbaren Zahl solcher Personen erlauben, hierher zu kommen, wiederum besonders denjenigen, die Familienbande mit diesem Land verbinden. Wie bereits erwähnt, ist die Zahl derjenigen, die in die Vereinigten Staaten auszuwandern wünschen, nicht groß.
Wenn Großbritannien und die Vereinigten Staaten diese erwähnten Maßnahmen ergreifen würden, könnte es sein, dass andere Länder ebenfalls bereit wären, ihre Türen vernünftigerweise aus solchen humanitären Erwägungen geöffnet zu halten und auf praktische Weise ihr Missfallen an der Politik der Nazis zum Ausdruck zu bringen, die unglücklicherweise so viel von Europa vergiftet hat.
3. Sollte eine solche Auswanderung aus Deutschland und Österreich verzögert werden, muss eine sofortige Zwischenlösung gefunden werden. In jedem Fall wird es eine beträchtliche Anzahl unter den verfolgten Personen geben, die physisch nicht in der Lage oder aus anderen Gründen im Augenblick nicht bereit zur Emigration sind.
Diesbezüglich ist mir sehr daran gelegen, dass größere und umfangreichere Anstrengungen unternommen werden, sie aus den Lagern zu holen, denn sie sind das Lagerleben leid. In erster Linie besteht echter Bedarf an spezialisierten Einrichtungen wie (a) Tuberkulose-Sanatorien und (b) Pflegeheimen für diejenigen, die psychisch krank sind oder die einer Phase der Wiederanpassung bedürfen, bevor sie wieder in der Allgemeinheit leben können – wo auch immer. Einige werden zumindest kurzer Ausbildungs- oder Umschulungszeiten bedürfen, bevor sie wirklich nützliche Staatsbürger sein können.
Aber um es noch einmal allgemeiner zu formulieren: Hier bietet sich eine Gelegenheit, den Grundsätzen, die in Potsdam verabschiedet wurden, reale Bedeutung zu verleihen. Sollte es zutreffen, was weitverbreitete Auffassung zu sein scheint, dass das deutsche Volk im Allgemeinen bezüglich des Krieges und seiner Ursachen und Folgen keinerlei Schuldgefühl hat, und wenn die Politik sein soll, „das deutsche Volk davon zu überzeugen, dass es eine totale militärische Niederlage erlitten hat und dass es der Verantwortung für das, was es selbst über sich gebracht hat, nicht entgehen kann“, dann fällt es schwer zu verstehen, warum so viele Displaced Persons, besonders solche, die so lange verfolgt wurden und deren Repatriierung oder Umsiedlung voraussichtlich verzögert werden wird, dazu genötigt sein sollten, in primitiven, überfüllten Lagern zu leben, während die deutsche Bevölkerung in den ländlichen Gebieten weiter ungestört in ihren Häusern wohnt.
Nach dem jetzigen Stand der Dinge wirkt es so, als behandelten wir die Juden genauso, wie die Nazis sie behandelt haben, außer, dass wir sie nicht vernichten. Sie befinden sich in großer Zahl in Konzentrationslagern unter unserer militärischen Bewachung statt unter der der SS-Truppen. Man ist geneigt, sich die Frage zu stellen, ob das deutsche Volk angesichts dieses Zustands nicht annimmt, wir würden die Politik der Nazis fortführen oder zumindest billigen.
Es kommt dem Betrachter weitaus gerechter vor und so wie es sein sollte, wenn er die wenigen Orte in Augenschein nimmt, wo furchtlose und entschiedene Militärs entweder ein ganzes Dorf zugunsten der Displaced Persons beschlagnahmt und die deutsche Bevölkerung gezwungen haben, sich ihre eigene Unterkunft zu suchen, oder von der lokalen Bevölkerung verlangt haben, eine vertretbare Anzahl von ihnen zu beherbergen. Auf diese Weise leben die Displaced Persons, einschließlich der Verfolgten, mehr wie normale Leute und weniger wie Gefangene oder Kriminelle oder wie eingepferchte Schafe. Die meisten unter ihnen, mit Sicherheit jedoch die Juden, befinden sich nicht durch eigene Schuld oder auf eigenen Wunsch in Deutschland. Diese Tatsache wird auf diese Art und Weise der deutschen Bevölkerung vor Augen geführt wird, allerdings wird das in zu geringem Ausmaß getan.
An vielen Orten lassen jedoch die Angehörigen der Militärregierung äußersten Unwillen oder Abneigung, wenn nicht sogar Scheu erkennen, die deutsche Bevölkerung zu belästigen. Sie sagen sogar, ihr Auftrag sei es, die Gemeinschaften wieder richtig und gründlich ans Arbeiten zu bekommen und dass sie „mit den Deutschen leben müssen, während die DPs (Displaced Persons) ein eher vorübergehendes Problem seien“. So kann es geschehen (und ich bin gerne bereit, Beispiele zu nennen), dass, wenn einer Gruppe Juden befohlen wird, ihr behelfsmäßiges Quartier zu räumen, das für militärische Zwecke benötigt wird, und es gibt zwei mögliche Ausweichquartiere, das eine ein Wohnblock (bescheidene Wohnungen) mit sanitären Anlagen und das andere eine Reihe von schäbigen Gebäuden mit Außentoiletten und Waschmöglichkeiten, es dem Bürgermeister ohne Weiteres gelingt, den Stadtkommandanten zu überzeugen, letztere den Displaced Persons zuzuweisen und erstere für die zurückkehrenden deutschen Zivilisten zurückzuhalten.
Diese Tendenz macht sich auch auf andere Weise bemerkbar, und zwar in der Beschäftigung deutscher Zivilisten in den Büros der Angehörigen der Militärregierung, wo man doch unter den Displaced Persons, deren Repatriierung nicht unmittelbar bevorsteht, ohne Probleme gleichermaßen qualifiziertes Personal finden könnte. In der Tat hat es Situationen gegeben, in denen Displaced Persons, besonders Juden, Schwierigkeiten hatten, Termine bei den Behörden der Militärregierung zu bekommen, weil sie ironischerweise gezwungen waren, sich zunächst an die deutschen Angestellten zu wenden, was die Sache nicht einfacher machte.
Ganz allgemein wird von den Diensten der Displaced Persons unzureichend Gebrauch gemacht. Viele von ihnen sind imstande und begierig darauf, zu arbeiten, aber anscheinend werden sie in dieser Hinsicht nicht berücksichtigt. Ich sehe zwar ein, dass es manchmal Verständigungsschwierigkeiten geben mag. Dennoch bin ich überzeugt, dass sowohl inner- als auch außerhalb der Lager ein größerer Nutzen aus den persönlichen Diensten jener Displaced Persons gezogen werden könnte, die aller Wahrscheinlichkeit noch eine ganze Weile zur Verfügung stehen werden. Glücklicherweise wird in einigen Lagern jede Anstrengung unternommen, die Dienste der Displaced Persons nutzbar zu machen, und just diese tendieren auch dazu, in jeder Hinsicht die besten Lager zu sein.
4. Sollte (a) eine Evakuierung aus Deutschland und Österreich nicht sofort möglich sein und können (b) die ehemals Verfolgten nicht in Dörfern untergebracht oder bei der deutschen Bevölkerung einquartiert werden können, empfehle ich dringend, dass getrennte Lager für die Juden eingerichtet werden oder wenigstens für diejenigen, die mangels einer besseren Lösung in solchen Lagern zu leben wünschen. Es gibt dafür mehrere Gründe: (1) eine große Mehrheit möchte dies; (2) es ist die einzige Art und Weise, ihre speziellen Bedürfnisse und Probleme verwaltungstechnisch zu regeln, ohne sich dem Vorwurf einer Sonderbehandlung auszusetzen oder (seltsam genug) den Vorwürfen von „Diskriminierung“ gegenüber den jüdischen Organisationen zu begegnen, die jetzt darauf eingestellt und bereit sind, ihnen Unterstützung zu gewähren.
In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, dass es sich hierbei nicht um einen Fall von Aussortierung einer besonderen Gruppe für spezielle Privilegien handelt. Es handelt sich vielmehr darum, die Position einer Gruppe auf ein normaleres Niveau zu heben, die durch jahrelange organisierte, unmenschliche Unterdrückung auf das denkbar niedrigste Niveau erniedrigt wurde. Die Maßnahmen, die für ihre Entschädigung nötig sind, fallen nicht in den Bereich einer vernünftigen Interpretation von Sonderbehandlung und sind aus juristischen und humanistischen Erwägungen erforderlich.
An einigen Stellen besteht die Tendenz, in Richtung getrennter Lager für diejenigen zu planen, die möglicherweise staatenlos sind oder nicht-repatriierbar, oder deren Repatriierung wahrscheinlich noch einige Zeit verzögert werden wird. In der Tat ist dies auch vor einiger Zeit als Politik der SHAEF angekündigt worden, aber in der Praxis hat das nicht viel bedeutet, da es abgelehnt wird (was verständlich ist, wenn damit nicht übertrieben wird), eine mögliche Staatenlosigkeit in Betracht zu ziehen und darauf bestanden wird, im Sinne des großen Repatriierungsprogramms, alle als repatriierbar anzusehen. Das führt zu einem Widerstand gegen alles, was nach spezieller Planung für den „harten Kern“ aussieht, obwohl alle zugeben, dass eine solche besteht und unvermeidlich in Erscheinung treten wird. In unserem Bericht über die Lager muss auch darauf hingewiesen werden: Während es sein kann, dass die Bedingungen in Deutschland und Österreich noch immer solcherart sind, dass gewisse Sicherheitsmaßnahmen erforderlich sind, scheint es wenig Rechtfertigung für das Fortbestehen von Stacheldrahtzäunen, bewaffneten Bewachern und Verboten zu geben, das Lager zu verlassen, außer mit Passierscheinen, die an einigen Orten nur widerstrebend ausgestellt werden. Als Grund für diese strikten Maßnahmen wird die Verhinderung von Plünderungen angegeben, aber es ist interessant, dass es in Bereichen der Seventh Army, wo eine größere Bewegungsfreiheit in und aus den Lagern gewährt wird, tatsächlich weniger Plünderei gibt als in anderen Gebieten, wo die Leute, die das Lager zeitweilig zu verlassen wünschen, dies nur heimlich tun können.
5. So schnell wie möglich muss die eigentliche Leitung solcher Lager einer zivilen Behörde, der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration), übertragen werden. Diese Organisation ist sich der Schwächen in ihrer momentanen Struktur bewusst und drängt darauf, diese zu beheben. In diesem Zusammenhang besteht die Auffassung, dass von Seiten der Militärbehörden, von denen jegliche Zivilbehörde in Deutschland und Österreich heutzutage in Bezug auf Wohnraum, Transport und andere Belange abhängig ist, mehr Hilfe geleistet werden könnte. Während es einerseits zutrifft, dass das Militär UNRRA gedrängt hat, sich zur Übernahme von Verantwortung bereit zu halten, ist es andererseits eine Tatsache, dass unzureichende aktive Zusammenarbeit geleistet worden ist, um das gewünschte Ziel zu erreichen.
6. Da in jedem Fall die Militärbehörden notwendigerweise weiter am Programm für alle Displaced Persons beteiligt sein werden, insbesondere mit Blick auf Unterbringung, Transport, Sicherheit und bestimmte Versorgungsgüter, wird empfohlen, das militärische Personal, das für die Position der Lagerkommandanten ausgewählt worden ist, einer Revision zu unterziehen. Einige derjenigen, die momentan auf diesen Posten sind, mögen vielleicht für den Job der Massenrepatriierung geeignet sein, sind aber offenkundig ungeeignet für die längerfristige Arbeit in einem Lager, in dem sich Menschen aufhalten, deren Repatriierung oder Wiederansiedlung voraussichtlich verzögert werden wird. Diejenigen Offiziere, die irgendeinen Hintergrund oder Erfahrung in der Sozialfürsorge haben, sollten bevorzugt werden, und es besteht die Auffassung, dass es durchaus einige davon gibt. Es ist äußerst wichtig, dass die ausgesuchten Offiziere dem Programm wohlwollend gegenüberstehen und dass sie von ihrem Temperament her in der Lage sind, mit UNRRA und anderen Hilfsorganisationen und Sozialbehörden zu arbeiten und zu kooperieren.
7. Solange die Verantwortungsübernahme der täglichen Organisation durch die UNRRA noch aussteht, wäre es wünschenswert, wenn ein umfassenderer Plan zur Besichtigung vor Ort durch die entsprechenden Army Group Headquarters eingeführt würde. Es besteht die Auffassung, dass viele der momentan in den Lagern herrschenden Bedingungen nicht toleriert würden, wenn sie den übergeordneten Offizieren durch Inspektionsreisen besser bekannt wären.
8. Es wird dringend empfohlen, dass die Pläne für Suchdienste, die im Augenblick zur Diskussion stehen, in höchstem Massen beschleunigt werden und dass (was in dieselbe Richtung geht) den Displaced Persons innerhalb Deutschlands und Österreichs so rasch wie möglich ein System des Nachrichtenaustauschs zur Verfügung gestellt wird, wenn auch nur auf offenen Postkarten. Die Schwierigkeiten dabei werden zwar gewürdigt, aber es wird angenommen, dass, wenn die Angst der Menschen, die so lange misshandelt und gequält wurden, gänzlich nachvollzogen würde, in naher Zukunft Mittel und Wege gefunden werden könnten, um einen derartigen Nachrichtenaustausch und die Suche nach Verwandten zu ermöglichen. Ich glaube auch, dass einige der privaten Organisationen in dieser Richtung weiterhelfen könnten, wenn man ihnen die Möglichkeit gäbe, tätig zu werden.
V. WEITERE KOMMENTARE
Obwohl ich den Auftrag erhielt, über die Bedingungen zu berichten, wie ich sie vorfand, sei das Folgende hinzugefügt, um das Bild zu vervollständigen:
(1) Die Besatzungsarmeen in Deutschland und Österreich sahen sich einer gigantischen Aufgaben gegenübergestellt: so viele wie möglich von den mehr als sechs Millionen Displaced Persons, die in diesen Ländern vorgefunden wurden, in ihre Heimat zurückzuführen. Weniger als drei Monate nach dem V-E-Day („Victory in Europe-Day“), sind mehr als vier Millionen dieser Menschen repatriiert worden – eine phänomenale Leistung. Der erste Eindruck, der sich einem aufdrängt, wenn man die Situation betrachtet, ist vollständige Bewunderung für das, was die Militärbehörden geleistet haben. Sie haben dabei faktisch die Zeitspanne, die für diese enorme Aufgabe eingeplant war, unterboten. Dafür gebührt allen militärischen Einheiten höchstes Lob bezüglich dieser Phase nach Einstellung der Kampfhandlungen. Wenn ich die Aufmerksamkeit auf bestehenden Zustände lenke, die ohne Frage der Behebung bedürfen, ist damit weder die Absicht noch der Wunsch verbunden, auch nur entfernt von den vorhergehenden Feststellungen abzurücken.
(2) Auch wenn ich die Zustände, wie sie sich unmittelbar nach der Befreiung darstellten, nicht wirklich gesehen habe, wurden sie mir ausreichend detailliert geschildert, um mir vollkommen deutlich zu machen, dass es in der Zwischenzeit zu manchen Verbesserungen in den Lebensumständen der verbleibenden Displaced Persons gekommen ist. In den Berichten, die inoffiziell aus Deutschland zu uns gedrungen sind, entweder von den Flüchtlingen selbst oder von Personen, die sich der Flüchtlingsgruppen annehmen, zeichnet sich eine Tendenz ab, das ganze Ausmaß der überwältigenden Aufgabe und der Verantwortung, vor die sich die Militärbehörden gestellt sehen, nicht mit einzubeziehen. Während es verständlich ist, dass bei denjenigen, die über eine derartig lange Zeit hinweg verfolgt und anderweitig misshandelt wurden, Ungeduld aufkommt, wenn es ihnen so vorkommt, als käme es zu einer unzumutbaren Verzögerung bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse, ist es ein Gebot der Fairness, sich bei der Bewertung des erreichten Fortschrittes das Gesamtproblem und alle seine Auswirkungen vor Augen zu halten. Mein Versuch bestand also darin, die vielen Beschwerden, die während meiner Untersuchung sowohl von den Displaced Persons selbst, als auch in ihrem Namen an mich herangetragen worden sind, wirklich sorgfältig gegen die vielen Verantwortungen abzuwägen, denen sich die Militärbehörden gegenübersehen.
(3) Während dieser Bericht der Kürze halber zu weiten Teilen aus allgemeinen Feststellungen besteht, sollte deutlich werden, dass es bezüglich praktisch aller dieser Generalisierungen Ausnahmen gibt. Ein ranghoher Angehöriger der Militärbehörde sagte mir voraus, dass ich während meiner bevorstehenden Reise durch Deutschland und Österreich hinsichtlich der Lager für Displaced Persons einige vorfinden würde, „die ziemlich gut seien, einige die sehr schlimm seien, der Durchschnitt sei irgendwo unter befriedigend“. Meine anschließende Reise bestätigte diese Vorhersage in jeder Hinsicht.
Um diesen Bericht zeitnah abliefern zu können, so dass möglicherweise einige Maßnahmen zur Abhilfe für ein frühestmögliches Datum ins Auge gefasst werden können, habe ich mir weder die Zeit genommen, alle Notizen zu analysieren, die ich mir während der Reise gemacht habe, noch die Situation in Frankreich, Belgien, Holland oder der Schweiz zu kommentieren, die ich ebenfalls bereiste. Dementsprechend bitte ich respektvoll darum, diesen Bericht als notwendigerweise unvollständig anzusehen. Die Probleme, die sich in Deutschland und Österreich darstellen, sind weitaus ernster und schwieriger als in irgendeinem der anderen genannten Länder, und auch diese Tatsache ließ die Abgabe eines Teilberichts unmittelbar nach Abschluss der Mission wünschenswert erscheinen.
Zusammenfassend möchte ich wiederholen, dass die wichtigste Lösung des Problems, in vielerlei Hinsicht die einzige reale Lösung, in der raschen Evakuierung aller nicht-repatriierbaren Juden in Deutschland und Österreich, die das wünschen, nach Palästina liegt. Soll dieser Plan Wirkung zeigen, darf er nicht lange hinausgeschoben werden. Die Dringlichkeit der Situation sollte anerkannt werden. Es ist unmenschlich, von den Leuten zu verlangen, unter den bestehenden Bedingungen noch eine Zeitlang weiter zu leben. Die Evakuierung der Juden aus Deutschland und Österreich nach Palästina wird das Problem der betroffenen Individuen lösen und wird zugleich für die Militärbehörden ein Problem aus der Welt schaffen, mit dem sich diese bisher befassen mussten. Die Fähigkeit der Armee, Millionen Menschen schnell und effizient zu verschieben, ist bereits zu Genüge bewiesen. Die Evakuierung einer relativ kleinen Anzahl von Juden aus Deutschland und Österreich wird für das Militär kein großes Problem darstellen. Mit dem Ende des Krieges in Japan sollte sich auch die Transportsituation ausreichend verbessern, um eine derartige Verlagerung in Erwägung ziehen zu können. Die zivilisierte Welt schuldet es dieser Handvoll Überlebenden, ihnen eine Heimat zu bieten, wo sie sich wieder niederlassen und ein Leben als Menschen beginnen können.
Hochachtungsvoll,
Earl G. Harrison
Quelle: Erstveröffentlichung in The New York Times, 30. September 1945. Erneut abgedruckt in Leonhard Dinnerstein, America and the Survivors of the Holocaust. New York 1982, S. 291 ff.