Kurzbeschreibung

Nach der interministeriellen Konferenz vom 12. November 1938 verordnete Göring die Einrichtung einer Reichszentrale für jüdische Auswanderung im Innenministerium. Nach Adolf Eichmanns (1906–1962) österreichischem Vorbild sollte hier die NS-Vertreibungs- und Plünderungspolitik gegen deutsche Juden durch die Koordinierung aller staatlichen Auswanderungsbehörden und unter erzwungener Kooperation der jüdischen Gemeinden drastisch verschärft werden. Die Stufenfolge der NS-Regierung, die jüdische Bevölkerung erst vollkommen wirtschaftlich auszubeuten und dann aus dem deutschen Machtbereich abzuschieben, kollidierte jedoch mit den Einreisebestimmungen der meisten Staaten, die einen Massenzustrom verarmter jüdischer Flüchtlinge verhinderten.

Auf Veranlassung des US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt (1882–1945) waren im Juli 1938 Delegierte von 32 Staaten sowie von rund 40 privaten Hilfsorganisationen zu einer Flüchtlingskonferenz im französischen Evian zusammengetroffen. Hier kam es zwar zu generellen Sympathieerklärungen für die deutschen Flüchtlinge, nicht aber zu Liberalisierungen der Einwanderungsbeschränkungen. Die Abschlussresolution veranlasste trotzdem die Einrichtung des sogenannten Intergovernmental Committee on Political Refugees (IGC), dessen Vorsitzender George Rublee bald mit der deutschen Regierung in Verhandlung trat. Rublee und sein deutscher Verhandlungspartner Helmuth Wohlthat einigten sich im Februar 1939 auf einen vom Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht (1877–1970) ausgearbeiteten Plan. Hiernach sollte die jüdische Auswanderung durch einen Teil des konfiszierten jüdischen Vermögens selbst finanziert werden. In dem folgenden Bericht des US-Konsuls Raymond H. Geist an den Assistant Secretary of State George S. Messersmith bezweifelt Geist das Gelingen des Schacht-Planes und stellte eine düstere Prognose für die im deutschen Reich verbleibenden Juden auf.

Raymond Geists Bericht an George Messersmith über die interministerielle Konferenz im Reichsluftfahrtministerium und die Zukunftspläne des NS-Regimes für die Juden (4. April 1939)

  • Raymond Geist

Quelle

VERTRAULICHBerlin, 4. April 1939

The Honorable George S. Messersmith
Assistant Secretary of State
Washington, DC

Sehr geehrter Mr. Messersmith,mir liegt Ihr persönlicher und vertraulicher Brief vom 17. März vor, dem Sie eine Kopie des von der Jewish Telegraph Agency ausgefertigten vertraulichen Berichts zur „Lage der Juden“ vom 6. März 1939 beilegen. Sie machen auf in diesem Bericht getroffene Feststellungen aufmerksam, die sich Ihrer Meinung nach auf mich beziehen.Es stimmt, dass ich ein Gespräch mit Mr. Bernstein geführt habe, dem Korrespondenten der Jewish Telegraph Agency, der seit der Ausweisung von Ben Smolar, mit dem ich ziemlich regelmäßig in Verbindung stand, etwa ein Jahr lang hier in Deutschland tätig war. Bernstein hat in Berlin und Wien sehr gute Arbeit geleistet und hatte zu meiner Überraschung während der ganzen Zeit nie mit der Gestapo zu tun. Er ist ein Mann von außergewöhnlicher Intelligenz und unermüdlicher Energie. Als er mich kurz vor seiner Abreise aus Berlin wissen ließ, dass er Deutschland verlassen werde, lud ich ihn und Mrs. Bernstein zum Tee ein, um die allgemeine Lage mit ihm zu besprechen, wobei es insbesondere meine Absicht war, ihm vertrauliche Informationen zu übermitteln, die er, so hoffte ich, zum Wohl potenzieller jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland verwenden würde. Ich wollte ihm auch Hintergrundinformationen über die Verhandlungen mit auf den Weg geben, die das Zwischenstaatliche Komitee hier geführt hat, und wenn möglich durch ihn eine Interpretation der Lage verbreiten lassen, die einen konstruktiven Effekt haben würde.Es fällt mir sehr schwer, in einem Brief zu erklären, wie ich die wahre Situation der Juden in Deutschland einschätze. Das ganze Problem ist eng verwoben mit unserer eigenen Einwanderungspolitik, und der Erfolg der Arbeit des Zwischenstaatlichen Komitees liegt mir aus zwei Gründen sehr am Herzen: Erstens wäre es günstig, den Druck auf uns sowohl innerhalb als auch außerhalb von Deutschland zu entspannen; und zweitens geht es darum, die Bedrängnis Tausender unschuldiger Menschen in diesem Land zu lindern. Ich bin sehr an einer Fortsetzung der Verhandlungen zwischen dem Zwischenstaatlichen Komitee und den Deutschen interessiert, weil ich der Meinung bin, dass sich die Deutschen, solange diese Beziehung aufrecht ist, einen gewissen Grad an Mäßigung auferlegen werden und so das Los der Flüchtlinge erleichtert wird. Aus diesem Grund habe ich die Gelegenheit ergriffen, ein abschließendes Gespräch mit Bernstein zu führen, da er, so hoffte ich, nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten auf der Grundlage seiner im vergangenen Jahr in diesem Land gesammelten reichen Erfahrung seine Eindrücke und Überzeugungen vielen wichtigen Persönlichkeiten in den USA näher bringen würde, deren Einstellung zum Zwischenstaatlichen Komitee und seiner Arbeit von großem Gewicht ist, und ich versuchte Bernstein klar zu machen, wie wichtig es sei, in der amerikanischen Presse keine Kampagne loszutreten, die bewirken könnte, dass die Deutschen aus Rache die Verhandlungen mit dem Zwischenstaatlichen Komitee abbrechen und die physische Verfolgung der Juden mit noch größerer Gewalt als bisher vorantreiben. Die körperliche Gewalt erhöht den Druck auf uns, obgleich wohl wahr ist, dass die Juden durch die diversen gesetzlichen Einschränkungen noch furchtbarer zu leiden haben. Ich ergreife nun die Gelegenheit, die von Mr. Bernstein getroffenen Feststellungen zu korrigieren, und Sie werden erkennen, dass ich falsch zitiert wurde. Gleichwohl bin ich davon überzeugt, dass Mr. Bernstein nicht die geringste Absicht hatte, mich falsch zu zitieren, er machte sich von dem, was ich ihm sagte, keine Notizen und hatte gewiss vor, meine Bemerkungen so getreu wie möglich wiederzugeben.Mr. Bernstein hat folgendes berichtet:1) Die Vereinbarung, die Mr. Rublee mit sich genommen hat, ist das beste Angebot, das man von den Nazis erwarten kann.2) Die Nazis werden halten, was sie versprochen haben.3) Das amerikanische Judentum sollte voll mit dem Plan kooperieren, egal wie abstoßend manche seiner Bedingungen sein mögen.4) Deutschland hat gelernt, Amerika zu respektieren, es ist Zeit, dass Botschafter Wilson auf seinen Posten zurückkehrt, und das amerikanische Judentum sollte nichts unternehmen, um diese Entwicklung zu verhindern.Was ich gesagt habe, ist Folgendes:1) Die Vereinbarung, die Mr. Rublee mitgenommen hat, ist zweifellos das Beste, was man bei den Deutschen erreichen kann und stellt das Maximum an Kooperation dar (wenn man überhaupt von Kooperation sprechen kann), mit dem sich die Radikalen einverstanden erklären wollten. Göring hat diese Zugeständnisse gemacht, ich habe aber gute Gründe zur Behauptung, dass er in den Augen der Gestapo zu weit gegangen ist.2) Ich habe nicht gesagt, die Nazis würden ihre Versprechen halten. Das ist eine allgemeine Feststellung, die niemand jemals treffen könnte, der die deutsche Situation kennt. Ich sagte Mr. Bernstein, ich sei mir sehr sicher, dass die Deutschen sich im Wesentlichen an den Plan halten würden, vorausgesetzt das Zwischenstaatliche Komitee kann einer erheblichen Anzahl von Personen die Auswanderung ermöglichen. Ich sagte, dass man sich im Wesentlichen an den Plan halten würde, weil ich persönlich weiß, dass sowohl Göring als auch Hitler damit einverstanden sind, weshalb Personen wie Himmler, Streicher und Goebbels es nicht wagen würden, ihn zurückzunehmen; ich sagte auch, dass es zweifellos Abstriche geben und man die Flüchtlinge schikanieren würde, dass man aber gewiss jene Teile des Plans ausführen würde, die ihnen nützen.3) Ich erinnere mich nicht, dem amerikanischen Judentum geraten zu haben, voll mit dem Plan zu kooperieren, egal wie abstoßend manche seiner Bedingungen sein mögen. Der Zweck meines Gesprächs mit Bernstein bestand natürlich darin, ihn zu veranlassen, für den Fall einer Veröffentlichung der Details seinen Einfluss in den Vereinigten Staaten geltend zu machen, damit der Plan nicht abgelehnt werde, weil ich in einem solchen Fall nur Chaos voraussehe.4) Nun zum vierten Punkt: Wie Sie wissen, vertrete ich den Standpunkt, dass es in Zeiten der Krise und des großen Stresses ratsam ist, im Ausland so gut wie möglich vertreten zu sein, und zum Zeitpunkt der Unterhaltung hielt ich es im Interesse aller Betroffenen für sinnvoll, wenn Botschafter Wilson zurückkäme. Ich bemühte mich insbesondere darum, Mr. Bernstein zu vermitteln, dass es nicht empfehlenswert wäre, wenn führende Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft in Amerika Schritte unternähmen, um die Rückkehr des Botschafters zu verhindern, da die Nationalsozialistischen Führer dazu neigten, die Juden für die Einbehaltung des Botschafters in Amerika verantwortlich zu machen. Ich hielt Mr. Bernstein für die geeignete Person, die Situation in einer Weise zu interpretieren, die für alle Betroffenen vorteilhaft und hilfreich sein würde. Ich bin mit Ihnen einverstanden, dass jede Feststellung einer Person mit langjähriger Erfahrung in Deutschland, die Nazis würden sich an irgendwelche ihrer Versprechungen halten, als äußerst verwegen und gewagt angesehen werden muss. Was jegliche Art von Transaktion mit den Nazis anbelangt, hege ich keine Illusionen über deren Verlässlichkeit. Das Bulletin beunruhigt mich nicht, weil ich nicht glaube, dass Bernstein irgendeine Absicht hatte, mich falsch zu zitieren, insbesondere auch nicht deshalb, weil ich das Gespräch mit oben erläuterter Zielsetzung arrangiert hatte. In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, dass jüdische Führungspersonen hier der Meinung sind, das allgemeine Klima habe sich seit Mr. Rublees Besuch merklich entspannt, und ich hoffe sehr, dass dies nicht aufhört.Die Gestapo hat in Verbindung mit der Jüdischen Gemeinde eine Reihe von Auswanderungsbüros eingerichtet, die in Berlin täglich zwischen 180 und 200 Personen auf die Auswanderung vorbereiten. Der wichtigste Teil in diesem Verfahren ist die Ausstellung eines Passes für diese Leute. Die Aushändigung eines Passes ist gleichbedeutend mit einer strengen Warnung, das Land zu verlassen. Seit Einrichtung dieser Büros sind schätzungsweise 10-15.000 Menschen in Berlin auf diese Weise vorbereitet worden, und das wird nach den sehr akkuraten Informationen von Würdenträgern der Jüdischen Gemeinde mit einer Rate von etwa 200 Personen täglich fortgesetzt. Ich mache mir große Sorgen darüber, wie der Druck ausfallen wird. Ich wäre überhaupt nicht überrascht, wenn er eine Form annehmen könnte, die eine geordnete Auswanderung unmöglich machen würde. Die Deutschen fühlen sich gewiss keineswegs verpflichtet, irgendeine ihrer im Rahmen der Vereinbarung mit dem Zwischenstaatlichen Komitee eingegangenen Verpflichtungen einzuhalten, solange es keinen bindenden Nachweis für die Anzahl der Auswanderer gibt, die das Ausland aufzunehmen bereit ist. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist der diesbezügliche Bericht, den Mr. Pell den Deutschen versprochen hat, noch nicht eingetroffen. Dr. Wohlthat möchte Mr. Pell nochmals sprechen und hat ihn für Donnerstag dieser Woche eingeladen. Von Pell habe ich allerdings keine neue Nachricht, ob er zu kommen beabsichtigt. Ich fürchte, die Deutschen könnten schließlich die Ergebnisse der Bemühungen des Zwischenstaatlichen Komitees als so gering einschätzen, dass sie die ganze Vereinbarung platzen lassen und daran gehen, die Judenfrage auf ihre eigene Weise zu handhaben. Es kann natürlich nur eine interne Lösung der Judenfrage in Deutschland geben, und ich glaube, sie sind dabei, das Problem auf diese Weise anzugehen. Die Lösung wird natürlich so aussehen, dass sie alle leistungsfähigen Juden in Arbeitslager stecken, das Vermögen der gesamten jüdischen Bevölkerung konfiszieren, die Juden isolieren, den Druck auf die gesamte Gemeinschaft erhöhen und sich von so vielen wie möglich durch Gewalt entledigen werden.Hinsichtlich der Einwanderungsarbeit sehe ich mit Erleichterung, dass alles glatt vonstatten geht und die Registrierungen sich allmählich ihrem Ende zuneigen, weshalb ich hoffe, dass im Laufe der Zeit eine Reduzierung des Personals möglich sein wird. Ich werde Ihnen bei anderer Gelegenheit mehr über die Probleme im Zusammenhang mit den Visa-Abteilungen berichten.Mit sehr freundlichen Grüßen,
Ihr
[gezeichnet] Raymond [Geist]

Quelle: Raymond Geists Bericht an George Messersmith über die interministerielle Konferenz im Reichsluftfahrtministerium und die Zukunftspläne des NS-Regimes für die Juden (4. April 1939). George S. Messersmith Papers, Item 1187, University of Delaware Library, Newark, Delaware. Raymond H. Geist, Berlin, to G.S. Messersmith, Washington, DC, April 4, 1939.

Übersetzung: aus dem Englischen ins Deutsche: Erica Fischer