Quelle
Was wird mit Lippenstift und Puderdose?
Kann ich mit meinem Freund noch allein spazierengehen oder passt das nicht zum sozialistischen Leben? Fragen, die zu Beginn des Wettbewerbs auch die Mädchen aus Leuna bewegten. Ohne ein Wort zu erklären, gaben sie selbst die besten Antworten. Da ist Liane Heinrich, blond, schlank, modern und geschmackvoll gekleidet. Mit dem Lippenstift abgestimmt ist der Nagellack auf den Fingern des ehemaligen Schlosserlehrlings. Am Abend trug die jetzige Elektromechanikerin zum weißen Perlonkleid nahtlose Strümpfe und weiße Sandaletten mit roten Bleistiftabsätzen. Aber sie fällt deswegen nicht auf in der Brigade. Alle verstehen sich nett anzuziehen, alle können mit Lippenstift und Puderdose umgehen. Am Abend im Theater bewiesen sie es. Sozialistisch leben übersetzen sie richtig mit schöner leben. Dazu gehört für sie auch, sich selbst schön zu machen. Ihr Werkzeugkasten in der Betriebskontrolle wird allerdings nicht zum Kosmetikkoffer. Dort wird ungeschminkte Qualitätsarbeit geliefert. Und der Freund? Liane hatte hren Hans-Joachim mitgebracht. Die Brigade kennt ihn und weiß um die große Liebe der beiden. Auch in Berlin fanden die beiden so manche stille Viertelstunde ganz für sich allein.
Ist tanzen und trinken unsozialistisch?
Weshalb denn? Fragt Ute und hebt das Glas mit goldenem „Mosel“. Weshalb denn? Schütteln Rosi, Inge und Liane, alles begeisterte Tänzerinnen, erstaunt den Kopf. Unsozialistisch finden sie es, wenn man sich besäuft, deshalb die Arbeit versäumt, das Kollektiv im Stich lässt. Unsozialistisch finden sie es, wenn man, nach westlichem Vorbild, wie ein Affe auf der Tanzfläche herumhopst und dabei versucht, noch möglichst blöd auszusehen. Unsozialistisch, weil es unwürdig ist. Doch so dachten sie, die alle seit Jahren Mitglied der FDJ sind, eigentlich schon immer. Was ist nun das Neue in ihrer Lebensweise? An ihrem Arbeitsplatz beginnt es. Hier, wo sie, wie Millionen Menschen, täglich mitarbeiten am steigenden Wohlstand unserer Republik, wachsen die neuen Formen unseres Lebens. Da wird die kameradschaftliche Hilfe und Zusammenarbeit untereinander nach und nach zur Selbstverständlichkeit. Der unbegründete „Krieg“ mit der Nachbarbrigade wird für immer beendet. Man hilft ihnen und dankt für manchen Ratschlag. Schließlich will ja die Nachbarbrigade genau dasselbe: den Siebenjahresplan erfüllen helfen. Doch die neuen Formen des Lebens werden nicht am Werktor zurückgelassen. Gemeinsam verlebte Brigadeabende, Theater- und Kinobesuche, an denen die Männer, Verlobten und Freunde teilnehmen, verändern auch das sogenannte Privatleben. Je besser sie sich kennenlernen, desto besser verstehen sie sich – die Männer ihre Mädchen und Frauen und umgekehrt. In den täglichen 10-Minuten-Gesprächen vor Arbeitsbeginn kann dann auch so manches „private“ Problem gelöst werden. – Gegner behaupten, bei uns wird die Familie zerstört. Das ist Unsinn. Überlebt hat sich bei uns aber die alte spießbürgerliche Lebensweise nach dem Motto „Trautes Heim, Glück allein“. Gemeinsam wollen wir uns ein Glück für alle schaffen.
Quelle: Neue Berliner Illustrierte, Nr. 14, 1956, S. 5; abgedruckt in Ina Merkel, Und du, Frau an der Werkbank: Frauen in der DDR in den fünfziger Jahren. Berlin: Elefanten Press, 1990, S. 105