Kurzbeschreibung

Dieser Bericht über das Kultur-, Restaurant- und Freizeitangebot 1960 in Berlin, der in der einflussreichen Jugendzeitschrift Twen erschien, lässt erkennen, wie sehr sich die Stadt seit der unmittelbaren Nachkriegszeit verändert hatte. Das „Wirtschaftswunder“ der 1950er Jahre hatte Berlin Espresso-Bars, elegante Cafés und Kneipen beschert, dazu Live-Musik, eine erstklassige Theaterszene und Einkaufsmöglichkeiten. In diesem Artikel erscheint Berlin als eine kosmopolitische Stadt mit einem aktiven Nachtleben und unbegrenzten Möglichkeiten des Konsums.

„Twen Bummel Berlin“ (1960)

  • Rolf Palm

Quelle

Als ich nach Berlin kam, wusste ich auch, dass Berlin die Stadt ohne Polizeistunde ist und die Stadt mit der höchsten Selbstmordziffer in der Welt. Jetzt weiß ich außerdem, dass es immer noch eine ganze Menge Lokale in Berlin gibt, die ich bis heute nicht zu sehen bekommen habe. Wahrscheinlich werde ich sie auch ne zu sehen bekommen, da ich hinreichend damit beschäftigt bin, die Pinten, die ich kenne, regelmäßig anzulaufen. Aber ich kann Ihnen die Schuppen nennen, in denen Sie immer Leute treffen, die all die anderen Schuppen kennen.

Wenn es jetzt gerade Nachmittag ist, dann nimmt man am besten erst einmal an einem Trottoirtisch vor einem Kurfürstendamm-Café Platz. Das Berlin von früher – habe ich mir sagen lassen – war berühmt für seine Revuen in den Varietétheatern. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Show aufregender war, als die Girlparade, die nun an Ihrer Kaffeestunde vorbeidefiliert. Zweckmäßigerweise suchen Sie sich den Tisch vor dem Café Kranzler aus, der genau auf dem spitzen Winkel der linken Ecke steht. Dann haben Sie den vollen Genuss von allen Wuchtbrummern, die vom Bahnhof Zoo kommen und außerdem von den regulären Ku-Damm-Gängern. Sagen Sie nicht, Sie kennen das schon. Es ist soeben wieder ein neuer Jahrgang dazugekommen, die Röckchen wurden kürzer, die Blusen enger, der Kaffee hat den Preis behalten, also es lohnt sich. Noch ein Tip: Setzen Sie sich allein. Wenn Sie schon Gesellschaft vom gegenteiligen Geschlecht haben, dann hindert Sie das am vollen Genuss. Sie können sich dann nicht mehr so unbeschwert vorstellen, dass Sie jedes Objekt Ihres Dreißig-Sekunden-Interesses ein Stück den Ku-Damm rauf begleiten. Aber wenn sich jemand zu Ihnen setzt und Ihnen vorschlägt, mit ins „Old Vienna“, ins „Ricci“, die „Paris Bar“ oder in den „Eden Saloon“ zu gehen, dann akzeptieren Sie ruhig. Das „Old Vienna“ ist eins der wenigen Espresso in Berlin. Die große Espresso-Welle hat sich noch nicht ganz bis an Havel und Spree durchgefressen. Dies ist ein gebührenfreier Tip für unternehmungslustige Unternehmer. Im „Old Vienna“ war ich gleich am ersten Abend gelandet. Neben mir war gerade ein Filmmensch damit beschäftigt, die Starkarriere einer blusenbewussten Julia aufzubauen. Der Romeo stand derweil daneben und begann sich damit abzufinden, am weiteren Sternenflug seiner Party-Fee nur noch aus einem mittleren Sperrsitz teilzunehmen. Er tat gut daran, denn der Filmmensch nahm die Julia mit sich und ließ den Romeo mit trüben Gedanken und einer höheren Whiskyrechnung zurück. Julia tröstete ihn und vermutlich sich auch, mit dem Bemerken, dass es notwendig für ihre Zukunft sei. Gegen Morgen sah ich Julia bei einem einsamen Katerfrühstück im Bahnhofswartesaal wieder. Sie hatte verheulte Augen und einen Riss in der Bluse. Jetzt sah sie wirklich fotogen aus. Wie man sich bettet, so flach fällt manchmal die Zukunft.

Es muss ja nicht gleich Hollywood sein. Vielleicht genügt es Ihnen, im „Old Vienna“ Magen und Kehle für naheliegendere Ambitionen anzuheizen. Ein ansehnlicher Imbiss – wie zum Bespiel Spaghettiteller – ist hier um zwei Mark herum zu haben. Der Innenarchitekt hatte ein Herz für Schüchterne: Die Drehstühle an der Bar sind eng genug aneinander gebaut, um schon beim Aufsteigen Tuchfühlung mit den zukünftigen Viertelstunden-Nachbarn zu gewährleisten. Stille Genießer versenken sich in die Spiegel, akustisch Interessierte müssen sich mit dem Mithören beim Gespräch der Nachbarn nebenan begnügen, Musikbox Fehlanzeige.

Fünf Minuten frischen Eroberungen imponiert man gern mit Tapetenwechsel. Die Tapete im „Ricci“ eignet sich gut dazu. Das „Ricci“ besteht aus drei Teilen: Vor der Tür, hinter der Tür und über der Tür. Wenn Sie die Treppe hinaufgehen und im Ku-Damm-wärts gelegenen Café-Salon über der Tür sitzen, haben Sie hier prima Gelegenheit, Ihre übliche Einführungsmasche abzuschießen. Aber Vorsicht, wenn Se mit angeblichen Prominentenbekanntschaften prahlen. Die bringen es nämlich fertig und kommen rein. Dieser Tage traf ich den Freddy Quinn dort. Er spielte mit dem „Null-acht-Fünfzehn“-Carsten Huckepack. Ich fand es albern, aber immerhin besser, als wenn es gesungen hätte. So konnte ich noch gemütlich sitzenbleiben und mit der Bardame über französische Chansonsänger plaudern, die alle viel besser sind als de deutschen Schnulziers. Der Freddy Quinn hat trotzdem nicht mit mir Huckepack gemacht, woraus Sie ersehen können, dass im „Ricci“ ein toleranter Ton herrscht.

Jetzt müssen Sie überlegen, ob Ihnen nach Krawallmusik, einem Klavierkonzert von Tschaikowskij, einer Vibrationsmassage, oder nach Schuhputzen zumute ist. Wenn Sie sich für eine dieser vier Möglichkeiten entschlossen haben, dann gehen Sie in den „Eden-Saloon“. Da finden Sie das nämlich alles – und nicht nur das. Rolf Eden hat insgesamt neunzehn Automaten in seinem Laden stehen sowie das Prinzip, dass jeder nur dann bedient [wird], wenn er etwas bestellt. Wodurch Sie im Eden auch dann gut bedient sind, wenn Sie nicht bedient werden wollen. Rolf Eden ist einer von den seltenen Gastronomen, die den Eindruck erwecken, als betrachteten Sie ihren Beruf als Hobby, und seien gar nicht so sehr darauf versessen, Geld zu machen. Aber indem er seine Gäste nicht neppt, macht er am meisten Geld. Auf diese Tour hat er es in drei Jahren von einem zerfransten Paar Schuhen zu einem weißen Porsche, Kai Fischer und beachtlichem Lokalruhm gebracht. Die Kai Fischer ist er wieder los, der weiße Porsche stand – als ich Rolf Eden besuchte – wegen Gelbsucht vor dem Krankenhaus. Eine seltene Farbenzusammenstellung fanden seine Freundinnen und erkundigten sich per Telefon stündlich nach der Entwicklung der Nuancen. Das lohnt sich bei Rolf Eden, bei dem passiert jede Stunde was Neues. Das Zeug zum Millionär hat er jedenfalls: Er hat nämlich schon mal als Tellerwäscher gearbeitet. Das war in Paris. Ein amerikanisches Ehepaar engagierte ihn als Reiseführer. In Berlin ließ es ihn sitzen. Zur Klärung der Situation platzierte er sich mit seinem letzten Zehnmarkschein an eine nahegelegene Bar und dachte nach. Er tat es auf französisch und laut. Ein Herr auf dem Barhocker neben ihm hatte ebenfalls Probleme zu bedenken, und so kamen die beiden ins Gespräch. Der Herr nebenan war gerade sein Lokal satt – Rolf suchte eine Chance. Voilà, da saß die Chance neben ihm. Rolf malte den Laden nach Pariser Motiven aus und wartete auf Kundschaft. Heute wartet die Kundschaft auf ihn, und wenn er nicht in seinem Saloon ist, beschleicht dunkle Melancholie die Gemüter, und Mozarts C-Moll-Konzert auf der Musikbox klingt noch moller als sonst.

Zweimal in der Woche gibt es Rock’n Roll-Meisterschaften, zweimal in der Viertelstunde projiziert ein Bildwerfer klassische Werke von Gauguin bis Kai Fischer an die Leinwand. An weiteren Sehenswürdigkeiten sind ein handbetriebener Ventilator aus Napoleons Besitz, eine Kinderbratpfanne der Kannibalen, eine Getränke transportierende Schwebebahn und Bar-Hostesse Evi zu empfehlen. Preise: Bier 70 Pfennig, Weinbrand 80 Pfennig, Whisky zwei Mark. Für zehn Pfennig zieht man sich aus einem diesbezüglichen Automaten heißes Wasser und rasiert sich. Denn jetzt gehen wir in ein feines Etablissement: Die „Badewanne“. Ja, die ist jetzt piekfein geworden. Das einzige, was noch an früher erinnert, ist Johannes Rediske, der hier wie seit dem Tag der Eröffnung Musik macht. Aber auch der hat jetzt feine Maßanzüge an. Alles ist sehr sauber, sehr hell und sehr restaurantisch. Wenn Sie mit einem gestrengen Elternpaar unterwegs sind, werden dieselben hierorts ihre reine Freude an den vielen lieben Kinderchen nicht verhehlen. Die Atmosphäre, die früher in der Badewanne lebte, ist in den Eden-Saloon geflüchtet. Andererseits hat sich viel von der hemdärmeligen Dixieland-Happyness in die „Eierschale“ verpflanzt. Die „Eierschale“ ist zwar etwas weit vom Schuss, in Dahlem, ausgebrütet worden. Aber Berlin ist nicht so eifersüchtig, alle seine Attraktionen gebündelt im Zentrum anzubieten, wie das in kleineren Städten der Fall ist. In der „Eierschale“ ist immer dichtes Gedränge, die Spree-City-Stompers heizen tüchtig auf, und wem davon nicht die Brillengläser beschlagen, der kann die Schilder- und Sprüchekollektion an den Wänden goutieren. Da wir auf der Jazz-Straße sind: das „New Orleans“ ist ziemlich neu, und das dunkelste von allen Berliner Jazz-Lokalen. Das macht aber nichts. Der Cool-Jazz, der hier entgegen dem Etikett fabriziert wird, ist sowieso nur fürs Ohr. Wenn einer ein Ohr dafür hat. Wenn einer keins dafür hat, kann er – während seine Freunde auf cool machen – nebenan im Hippodrom ein paar Runden auf einem Pferderücken drehen. Da traben drei Vierbeiner durch eine Sägemehl-Arena. Der Zeitvertreib scheint indessen nicht hoch geschätzt zu sein. Die Pferde stehen meistens leer. So haben sie Muße genug, die Zweibeiner zu beäugen, die auf dem Weg zu den zum New Orleans gehörenden sanitären Installationen an ihrem Rundlauf vorbei müssen.

Könnte ja sein, dass Sie nun ein Bedürfnis nach Ruhe verspüren. Ruhe ohne Langeweile finden Sie in der „Vollen Pulle“. Das ist ein Etablissement, das vorn wie ein riesengroßes Weinfass aussieht und innen wie das Interieur eines Bienenhauses, so viele Waben hat es. Ich habe vergessen zu fragen, ob die Leute sich mal um ihre Garderobe geprügelt und bedauerlicherweise nicht genug Handschlagwaffen zur Hand hatten. Jetzt wäre jedenfalls über mangelnde Rüstung nicht zu klagen. Statt Garderobenmarken bekommt man einen Kochlöffel.

Wenn Sie die „Paris Bar“ entern, dürfen Sie sich an zwei Dingen nicht stoßen: dass die „Paris Bar“ weder eine Bar ist noch hat, und dass der maître dieses sehr pariserischen Plätzchens Müller heißt. Aufgebaut hat es sein Onkel, und der war ein echter Franzose. Der Stil der „Paris Bar“ ist irgendwo auf dem Pariser Boul‘ Mich‘ oder dem St. Germaine des Près zu lokalisieren. Bis auf das Schild, dass man auf seine Garderobe selbst achten soll, ist die Illusion vollkommen. Die lederbezogenen Sitzbänke an der Wand, die Spiegelwand über der Lehne, der offene Kamin und zu guter Letzt das sehr französische Menü mit Zwiebelsuppe und Rotwein zum Beefsteak – das könnte genau zwischen dem „Deux Magots“ und dem „Café de Flore“ liegen. Übrigens: das Menü kostet runde drei Mark.

Außerdem gibt es eine Unzahl französischer Weine, Cognacs und Apéritifs. Wer bei guter Juke-Box-Music ein paar stille Bierchen vor sich hintrinken will, kann das „Domingo“ in der Uhlandstraße (aber ganz weit rauf) ansteuern. Und wenn Georgia, die farbige Barherrin in Stimmung ist, singt sie sogar dazu. Auf amerikanisch und kaffeebraun liegt der Akzent auch in der Galerie Bremer. Hier steht eine Bar und hängen Bilder mitten im Raum, moderne Bilder, von denen ein Teil auch, ohne dass man mit verführerischen Alkohol-Anfeindungen in Berührung käme, im Vorraum zu besichtigen ist. Ein kleines Schwätzchen mit Rudi, dem farbigen Mixer, ist alleweil informativ. Zumindest kann man erfahren, welche Bühnenkünstler zur Zeit in Berlin gastieren, denn wenn sie da sind, dann sind sie bei Rudi.

Theater wird in Berlin groß geschrieben. Das ist einer der wenigen Bereiche, in denen Berlin wieder nationale Bedeutung zurückgewonnen hat. Berlin bietet die einmalige Möglichkeit, Theater westlichen und östlichen Zuschnitts miteinander vergleichen zu können. Denn in den Ostsektor können Sie ungehindert hinüberfahren – auch mit dem Wagen -, und Theaterkarten sind ziemlich das einzige, was Sie mit im Westen erwechseltem Ostgeld kaufen können, ohne ihren Personalausweis vorzeigen zu müssen oder wegen Währungsschwindel Ärger zu kriegen. Wenn Sie sich sonst im Osten nichts ansehen – das Brecht-Ensemble in Ostberlin ist eine Sektorenüberquerung wert. Selbst wenn es eins der nicht so „brechtischen“, produzierten Stücke ist wie „Furcht und Elend des Dritten Reiches“, so können Sie hier doch allerlei bemerkenswerte Theatertechniken studieren. Genieren Sie sich nicht, ihr westlich benummernschildertes Auto direkt vor dem Theater zu parken – es kommen noch mehr dazu.

Einen Abend können Sie ja mal früh schlafen gehen, um morgens früh aufzustehen – dann besuchen Sie ein paar Altwarenhändler. Aber Sie müssen wirklich früh sein. Die Berliner Antiqueure unterscheiden sich von ihren Kollegen im übrigen Deutschland dadurch, dass sie nicht darauf warten, bis jemand zu ihnen kommt und ihnen ein paar alte Klamotten anbietet. Sie gehen in Trauerhäuser und kaufen ganze Witwenwohnungen auf. Da gibt es viel herrlich ollen Kleinkram. Aber Sie müssen früh sein – andere sind es auch.

Ja, ich weiß, ich habe eine ganze Menge vergessen. Zum Beispiel, dass man sich im Hilton Hotel ins Foyer setzen und auf große Welt mimen kann. Dass es auch bei Carow am See nett ist und in der Casa Leon, und dass im Riverboat auch guter Jazz gemacht wird. Und von Mode haben wir überhaupt noch nicht gesprochen, wo doch der Oestergaard in Berlin ist, und die Modegeschäfte Horn und Rochlitz auf dem Ku-Damm mit ihren Etiketten einen in der Fremde lebenden Berliner zu Tränen rühren, wenn sie ihn im Nacken kratzen.

Übrigens: wenn sonst nichts Sie nach Berlin reizt, dann vielleicht dieser Tip: In Berlin können Sie Auto fahren wie sonst nirgendwo in Westdeutschland. Weil nämlich die Berliner prozentual weniger Autos haben als die Westdeutschen. Weil nämlich die meisten Berliner gar nicht wissen würden, wohin sie mit ihren Autos fahren sollten. An Parkplätzen ist kein Mangel.

Quelle: Rolf Palm, „Twen Bummel Berlin“, Twen, 25. Juni 1960, S. 64–65.

„Twen Bummel Berlin“ (1960), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/die-besatzungszeit-und-die-entstehung-zweier-staaten-1945-1961/ghdi:document-4602> [05.11.2024].