Kurzbeschreibung

Dieser Rechenschaftsbericht des Zentralen Frauenausschusses von Bergmann-Borsig kritisiert, daß sich im mittleren und höheren Management des Betriebs keine Frauen finden, obwohl es entsprechend qualifizierte Kandidatinnen gebe. Offensichtlich hat in diesem DDR-Betrieb die offizielle Propaganda nicht zu einer Änderung traditioneller Vorbehalte gegenüber Frauen in der Industrie geführt. Das Gebot der Gleichbehandlung von Frauen und Männern im Arbeitsleben wird unterlaufen.

Rechenschaftsbericht des Zentralen Frauenausschusses (Bergmann-Borsig) zum 10-jährigen Bestehen der Frauenausschüsse (1962)

Quelle

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!

Wir feiern das 10-jährige Bestehen der Frauenausschüsse (8. Januar 1962) in einer bedeutsamen Zeit – wenige Wochen nach dem welthistorischen XXII. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (1961).

Auf ihm wurde das Programm für die Entwicklung der Sowjetunion in den nächsten 20 Jahren beschlossen. In diesem Programm ist nach Ablauf von zwei Jahrzenten u. a. vorgesehen:

unentgeltliche Unterbringung der Kinder in Erziehungseinrichtungen oder Internatsschulen;

unentgeltliche Benutzung der Wohnungen sowie unentgeltliche Inanspruchnahme der kommunalen Dienste;

unentgeltliche Benutzung der kommunalen Verkehrsmittel;

unentgeltliche Inanspruchnahme einiger Arten von sonstigen Dienstleistungen;

immer größere Gewährung von Beihilfen, z. B. Beihilfen für alleinstehende und kinderreiche Mütter;

allmählicher Übergang zum unentgeltlichen Gaststättenessen, d. h. Mittagessen in den Betrieben usw.

Das ist eine Perspektive, die auch uns Frauen in der Deutschen Demokratischen Republik beflügelt []

[Es qualifizierten] sich 4 Kolleginnen für leitende Funktionen, davon sind die Kolleginnen AAAA und BBBB ausgeschieden, während die Kolleginnen CCCC und DDDD im Betrieb verblieben sind. Aber man findet keine von diesen Frauen im Betrieb in leitenden oder mittleren Funktionen.

Lassen wir die Tatsachen sprechen. Es gibt in unserem Betrieb nur männliche Direktoren; selbst deren Assistenten sind Männer. Unter den Meistern und Abteilungsleitern ist nicht eine Frau zu finden. Bestehen in unserem Betrieb keine Möglichkeiten, Frauen für leitende Funktionen auszubilden und sie dafür einzusetzen?

Wir meinen doch. Warum sollte es nicht möglich sein, im Massenbedarf oder im Generatorenbau eine Frau als Meister zu qualifizieren?

Wäre es nicht möglich, in der Gütekontrolle oder in der Schaufelfräserei weibliche Meister heranzubilden? Wir denken, daß das sehr wohl möglich wäre.

Gibt es bisher keine qualifizierten Frauen in Bergmann-Borsig, die die Fähigkeiten hätte, in mittleren oder leitenden Funktionen eingesetzt zu werden? Die Praxis beweist etwas anderes. Im Bereich der Arbeitsdirektion gibt es allein 2 Frauen mit Hochschulqualifikation als Diplomwirtschaftler. Eine Kollegin erwarb das Fachschulexamen als Arbeitsökonom und eine Kollegin befindet sich noch im Fachschulstudium. Sämtliche Gruppenleiter sind aber Männer – der Abteilungsleiter und sein Stellvertreter, wie kann es anders sein – ein Mann! Wobei nur am Rande vermerkt sei, daß keiner von ihnen ein Studium durchgeführt hat. In einer letztlich geführten Aussprache wurde keiner dieser Frauen die politische oder fachliche Befähigung für höhere Funktionen abgesprochen – nur eines fehle ihnen, worüber die derzeitig eingesetzten männlichen Kollegen selbstverständlich verfügen – nämlich, die Fähigkeit zu leiten.

Wir fragen die Verantwortlichen in der Arbeitsdirektion, was tut man, um diesen Zustand zu ändern?

Nehmen wir ein weiteres Beispiel. In der Abteilung Wirtschaftskontrolle gab es bis 1961 2 Frauen mit Hochschulexamen als Diplomwirtschaftler. Eine davon hatte den Wunsch, eine andere Aufgabe zu übernehmen, da sie für ihre bis dahin ausgeübte Tätigkeit keine Perspektive sah. Es wurde in Erwägung gezogen, sie als Assistentin für den Chefkonstrukteur Generatoren vorzusehen. Das schlug fehl. Dann sollte sie als Mitarbeiterin für die Abteilung Neue Technik eingesetzt werden. Das schlug fehl. Argument: ‚Es mangele der Kollegin am entsprechenden technischen Verständnis‘. Meinen Sie nicht, Genosse Hauptbuchhalter, daß es sich gelohnt hätte, dieser noch jungen Kollegin das technische Verständnis beizubringen? Die junge Kollegin verließ inzwischen unseren Betrieb.

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Allein diese wenigen Beispiel zeigen deutlich, daß die Wirtschafts-, Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre der Rolle der Frau in der sozialistischen Gesellschaft unterschätzen.

Wie will der Betrieb Bergmann-Borsig z. B. weitere Frauen zur Erlernung eines technischen Berufes gewinnen, wenn die bisher übliche Praxis eindeutig beweist, daß man bereits vorhandene qualifizierte Frauen versauern läßt.

Desweiteren stellen wir fest, daß unsere leitenden Mitarbeiter eine Kaderpolitik betrieben, die im Widerspruch zum Wesen unseres Staates steht. So ist es gang und gäbe bei uns, wenn eine ‘gut bezahlte Planstelle’ zu besetzen ist, daß ein Mann eingestellt wird. Es ist auch gar nicht von Bedeutung, daß er aus einer artfremden Tätigkeit hervorgegangen ist. Er erhält ab sofort das dementsprechende Gehalt. Anstatt einer langjährigen berufserfahrenen Mitarbeiterin das Vertrauen zur Ausübung dieser Tätigkeit und Unterstützung zu geben, hat diese Kollegin dann die Ehre, ihre Kenntnisse und Erfahrungen dem Unwissenden beizubringen. Was bei männlichen Kollegen mit Hochschulabschluß selbstverständlich ist, wird bei einer Frau zum Problem. []

Noch einige Bemerkungen zur Aktivistenbewegung. In den vergangenen 10 Jahren haben 24 Kolleginnen eine Staatsauszeichnung – Aktivist, bzw. Medaille für Ausgezeichnete Leistungen erhalten. Darunter sind 3 Kolleginnen, Kollg. T., Kollg. S. und Kollg. J., die diesen Titel zweimal erhalten haben. Und voller Stolz können wir berichten, daß die Kollegin F. R. bereits 6-fache Aktivistin ist. Sie ist es auch, die als einzige Vertreterin unseres Betriebes im obersten Organ unseres Staates, in der Volkskammer, als Abgeordnete die Interessen der Werktätigen vertritt.

Demgegenüber steht die Aktivistenauszeichnung von 456 Kollegen. Das ist fürwahr eine beschämende Bilanz für die Männer. Wir können doch keinesfalls behaupten, daß unsere Frauen und Mädchen keine, oder geringere aktivistische Leistungen vollbracht haben. Nein, so ist das doch gar nicht. Aber warum sieht man nicht die Leistungen unserer Arbeiterinnen an der Stanze im Generatorenbau oder in der Fräserei, die im Schichtsystem fleißig, pflichtbewußt arbeiten, Wartezeiten vermieden, Qualitätsarbeit leisten, nicht bummeln, im Produktionsaufgebot ihren Mann stehen und Haushalt und Kinder versorgen? Doch nur weil sich einige Kollegen nicht freimachen wollen von der althergebrachten Auffassung, in der Frau nur den „Kochtopfaspiranten und Latschwärmer“ zu sehen. Und noch nicht das Neue, die große Wandlung der Frau unseres sozialistischen Staates begriffen haben.

Quelle: LAB (StA), Rep. 432, Nr. 448; abgedruckt in Peter Becker und Alfred Luetke, Hrsg., Akten, Eingaben und Schaufenster. Die DDR und ihre Texte. Erkundungen zu Herrschaft und Alltag. Berlin: Akademie Verlag, 1997, S. 219–22.

Rechenschaftsbericht des Zentralen Frauenausschusses (Bergmann-Borsig) zum 10-jährigen Bestehen der Frauenausschüsse (1962), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/die-besatzungszeit-und-die-entstehung-zweier-staaten-1945-1961/ghdi:document-4531> [11.05.2024].