Kurzbeschreibung

In seinem provokativ „Scheitert Deutschland?“ genannten Buch fordert der Publizist Arnulf Baring das Ende der vorherrschenden Anspruchsmentalität und ruft zu einem erneuerten Geist von Unabhängigkeit und Verantwortung auf.

Publizist Arnulf Baring warnt vor einem deutschen Niedergang (1997)

  • Arnulf Baring

Quelle

Scheitert Deutschland?

Abschied von unseren Wunschwelten

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Bisher fehlt in Deutschland noch immer das Bewußtsein der Herausforderung. Der Ernst der Lage wird verkannt. Damit ist auch die Bereitschaft zum Strukturwandel nicht wirklich vorhanden, und die Appelle, wir müßten endlich umdenken, uns auf die neuen Zeiten einstellen, bleiben mehr oder weniger abstrakt und damit unverbindlich. Sie haben den Charakter von Sonntagspredigten, die kaum zur Kenntnis genommen, rasch vergessen werden. Der Bundespräsident kann davon ein Lied singen: Er findet häufig viel Zustimmung, namentlich mit seiner großen Rede vom April 1997. Aber der breite Beifall bleibt folgenlos. Im Grunde genommen wird unsere Misere immer noch mit einer Gelassenheit – oder auch Müdigkeit – hingenommen, die stutzig macht. So waren die Deutschen nicht immer.

Das Schrumpfen des Mittelstandes

Die industrielle Strukturkrise hängt nicht nur mit mangelnder Initiative und Innovation, der ausbleibenden Gründung neuer Unternehmen zusammen. Vielmehr muß man das Schrumpfen des Mittelstandes, das Schrumpfen der Zahl der Selbständigen beklagen. Ihr Anteil an der arbeitenden Bevölkerung ist in Deutschland in den vergangenen Jahren von 14 auf neun Prozent zurückgegangen. Jährlich werden rund neun Prozent der mittelständischen Unternehmen liquidiert. Verrechnet mit den Neugründungen ergibt das einen Verlust von nicht weniger als 120 000 Betrieben im Jahr. Gleichzeitig hat zwischen 1950 und 1987 die Zahl der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst um 120 Prozent zugenommen. Der Bund vervierfachte sogar die Zahl seiner Beschäftigten. Jeder fünfte Arbeitnehmer in Deutschland arbeitet im öffentlichen Dienst. []

Aber die deutsche Gesellschaft ist eher eine risikoscheue Arbeitnehmergesellschaft. Die Selbständigkeit reizt hierzulande nur wenige, denn sie bedeutet, sich ohne Fürsorge eines Arbeitgebers immer wieder neu um Aufträge bemühen müssen.

Alle Versprechungen jedoch, die Welt so zu erhalten, wie wir sie uns eingerichtet haben, sind illusionär. Deutschland wird – wie andere Länder auch – Abschied nehmen müssen von dem Traum, es könne eine Garantie für materielle Sicherheit und dauernde Prosperität geben, Abschied nehmen auch von der Wunschvorstellung eines lebenslang gesicherten Arbeitsplatzes.

Die skandalösen Subventionen

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Es ist erstaunlich, in welchem Umfang wir nach wie vor Stützungsfinanzierungen für längst obsolet gewordene, zumindest auslaufende Industriezweige weiterschleppen, sei es die Kohle oder den Schiffsbau, die Stahlindustrie, die Landwirtschaft oder industrielle Restkerne in den neuen Ländern, von denen jeder weiß, daß aus ihnen keine neuen, zukunftsfähigen Industrien wachsen werden. Wir müssen auf Neues setzen, statt sentimental Altes, Überlebtes künstlich am Leben zu erhalten.

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Die fatale Arbeitslosigkeit

Auf dem Arbeitsmarkt herrscht in Deutschland augenblicklich eine paradoxe Situation: Offiziell gibt es vier bis fünf Millionen Arbeitslose. Schätzungen der wirklichen Situation gehen jedoch angesichts der verdeckten Arbeitslosigkeit von sechs bis sieben Millionen aus, weil man ABM-Beschäftigte und andere, irgendwo, etwa in Universitäten, als Studenten geparkte Arbeitskräfte hinzurechnen müsse. Die wahre Arbeitslosenquote soll im Westen bei fünfzehn, im Osten bei 25 Prozent liegen.

Auf der anderen Seite gibt es heute ganze Berufssparten, die aussterben. Ob sich solche Mängel durch Einwanderung auf Dauer beheben lassen, ist zweifelhaft. In der sozialdemokratischen Bildungspolitik der späten sechziger und frühen siebziger Jahre war es eine Grundannahme, daß sich die Deutschen allmählich in hochqualifizierte Berufe hinauf bewegten, während einfache Arbeiten Ausländern überlassen würden. Es war verwunderlich, daß eine auf soziale Gleichheit bedachte Partei wie die SPD in diesem Punkt derart elitär dachte und eine horizontale Gliederung in Deutsche oben, Ausländer unten für angemessen und richtig hielt.

Wir werden jedoch nicht umhin kommen, eigenen Landsleuten künftig Berufe nahezulegen, für die sie sich heute noch zu schade fühlen. Das gilt gerade für junge Menschen, die am beruflichen Anfang stehen. Denn die Jugendarbeitslosigkeit (der natürlich nicht allein auf diesem Wege beizukommen ist) kann sich zu einem sozialen Sprengstoff mit großer Explosionskraft entwickeln. Wenn junge Leute in großer Zahl in unserer Gesellschaft keinen Arbeitsplatz finden, wird das ganz andere Auswirkungen haben, als wenn man Leute mit 55 oder mit 60 vorzeitig in die Rente entläßt.

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In ganz Deutschland ist die Arbeit nicht nur teurer, die Deutschen haben im internationalen Vergleich die mit Abstand kürzesten Arbeitszeiten. Im Jahr 1994 leistete ein Beschäftigter in der deutschen Industrie im Durchschnitt 1527 Arbeitsstunden jährlich. In den USA lag die Arbeitszeit demgegenüber bei 1994 Stunden, in Japan bei 1964 Stunden. Auch bei den Maschinenlaufzeiten liegt Deutschland mit 60 Stunden pro Woche abgeschlagen auf dem letzten Platz. Im Vergleich dazu laufen die Maschinen in Belgien beispielsweise 98 Stunden in der Woche. Die verheerenden Auswirkungen kann man an der Entwicklung der Auslandsinvestitionen in Deutschland ablesen: 1996 investierten ausländische Unternehmen nur noch 1,1 Milliarden Mark in Deutschland. 1995 waren es immerhin noch 18,2 Milliarden gewesen. Auch die deutschen Investitionen im Ausland sanken innerhalb dieses einen Jahres – von 52 Milliarden 1995 auf 38,8 Milliarden im Jahr darauf.

Momentan ist kein Ende der Schraube nach unten in Sicht. Wir gehen von offiziell gegenwärtig vier bis fünf Millionen Arbeitslosen womöglich auf die doppelte Zahl zu, ohne daß man sähe, wie dieser Trend kurzfristig gestoppt werden könnte. Bis zu welchem Punkt werden Gesellschaft und Staat mit diesem Schwund leben können? Wie werden wir Mittel für Zukunftsinnovationen aufbringen, die Deutschland braucht, wenn unsere Leistungskraft wieder zunehmen soll?

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Es ist auch kein Geheimnis, daß es einen breiten Sozialmißbrauch gibt. Bei der gegenwärtigen Höhe von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe sind viele finanziell bessergestellt, wenn sie sich arbeitslos melden und nebenher schwarz arbeiten oder einen steuerfreien 590-Mark-Job annehmen. Es kann doch beispielsweise nicht angehen, sollte man denken, daß ein Drogeriebesitzer keine Vollzeit-Verkäuferin findet, keine junge Frau, die bereit ist, einer tariflich bezahlten, regulär versteuerten Tätigkeit nachzugehen, und sich statt dessen mehrfach anhören muß: eine Regelung unter der Hand, am Finanzamt vorbei, würden die Bewerberinnen akzeptieren.

Für manchen, so muß man vermuten, ist die Arbeitslosigkeit zu einem finanziell vorteilhaften Status geworden – vergleichbar einem Studenten, der zwar an der Universität eingeschrieben ist, um durch die Studenten eingeräumten Vergünstigungen Geld zu sparen, sich aber nicht ums Studium, sondern ums Geldverdienen kümmert.

Unser großzügiges Sozialsystem verdirbt die Arbeitsethik und ist außerdem nicht mehr finanzierbar. So einfach ist das.

Lähmende Überbürokratisierung

Ein wichtiges, alle Initiativen hemmendes Problem ist die lähmende Überbürokratisierung des Landes. „Zu beginnen ist bei unserer Gesetzgebung“, schreibt der CDU-Politiker Rupert Scholz. „Wurden auf Bundesebene in der zehnten Wahlperiode (1983 bis 1987) lediglich 612 Gesetzesvorhaben eingebracht, so waren es in der zwölften (1990 bis 1994) bereits 895 und sind es in der laufenden schon knapp 600. Fast 2000 Bundesgesetze und fast 3000 Bundesrechtsverordnungen mit rund 85 000 Einzelvorschriften spiegeln das Maß gesetzgeberischer Überregulierung und damit auch gesellschaftlicher Überforderung wider. Vom allpräsenten Gesetzgeber muß rasch Abschied genommen werden.“ Auch Helmut Schmidt spricht von einer „übermäßigen Gängelung durch Abertausende staatlicher Vorschriften“; nur die nackten Gesetzestexte der Bundesrepublik machten über 80 000 Blatt aus. Allein schon das Baurecht ist ein Paragraphendschungel, was natürlich der Korruption Tür und Tor öffnet. Wir sind von einer Regulierungswut besessen, die alles Leben im Keim zu ersticken droht.

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Die Krise der Staatsfinanzen

Die Krise des Sozialstaates zeigt sich am deutlichsten in der katastrophalen Lage der Staatsfinanzen. Die Verbindlichkeiten der öffentlichen Hand sind zwischen 1949 und 1989 von 20 auf 900 Milliarden Mark angewachsen. In den folgenden sechs Jahren hat sich die Schuldenlast verdoppelt. 1996 mußte Bundesfinanzminister Theo Waigel Kredite in Höhe von rund 195 Milliarden Mark aufnehmen. Der größte Teil davon, nämlich 135 Milliarden Mark, ist nicht für den Bundeshaushalt bestimmt, sondern dient zur Tilgung früher aufgenommener Kredite. Aber auch die Nettoneuverschuldung wuchs 1996: auf 78,3 Milliarden Mark, das waren 18,4 Milliarden Mark mehr als im Haushaltsplan vorgesehen. Die Schuldenquote (gemessen am Bruttosozialprodukt) stieg von 41 Prozent im Jahr 1989 auf 60,5 Prozent Ende 1996. Damit überstieg sie erstmals den nach Maastricht-Kriterien zulässigen Grenzwert. Entsprechend hoch ist der Schuldendienst: Die Zinslast des Bundes wächst und wächst. Im Jahr 1990 reichten noch knapp 35 Milliarden aus, um die Schulden zu bedienen. 1996 rechnete der Bundesfinanzminister mit 53,8 Milliarden Mark Zinsausgaben. Das sind fast zwölf Prozent der Gesamtausgaben des Bundes. Und die Belastung wird in den kommenden Jahren noch steigen. Denn weil der Bund Jahr für Jahr neue Schulden macht (im Dezember 1996 betrug sein Schuldenberg fast 800 Milliarden Mark), nimmt auch die Zinslast weiter zu. Nach Berechnungen, die Waigel Ende 1996 in seiner mittelfristigen Finanzplanung anstellte, werden die Zinsausgaben im Jahr 2000 gut 68 Milliarden Mark betragen; jede siebte Mark, die der Bund dann ausgibt, fließt in den Zinsendienst. Rechnet man die Schulden von Ländern und Gemeinden hinzu, kommt man glatt auf das Doppelte, also weit über hundert Milliarden Mark nur für Zinsen!

Die Ausgaben für den Sozialstaat 1996 entsprachen in etwa einem Drittel der volkswirtschaftlichen Gesamtleistung Ost- und Westdeutschlands. „Jede dritte Mark in unserem Staat wird nach wie vor für Soziales ausgegeben“, brüstete sich Norbert Blüm im Juni 1996 vor dem Bundestag und fügte stolz hinzu: „Das gibt es fast auf der ganzen Welt nicht mehr.“

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Das Ende des Wohlfahrtsstaates

Es ist vollkommen klar und unbestreitbar, daß die Sozialleistungen wie die Staatsschulden und damit der Zinsendienst kräftig sinken müssen, wenn unser Land seine Zukunft sichern will. Zwar hört man manchmal, eher seien Posten wie der Verteidigungsetat, der schon so oft herhalten mußte, weiter reduzierbar. Aber das verkennt die weiterbestehende Wichtigkeit einer raschen Abwehrbereitschaft wie die Proportionen: der Verteidigungshaushalt ist, relativ gesehen, klein; er betrug 1996 mit 47 381 Milliarden Mark nicht einmal ein Drittel dessen, was allein der Sozialetat des Bundes verschlang, nämlich 167 386 Milliarden Mark.

Es ist ein Gebot der Selbstachtung unserer Gesellschaft, dafür zu sorgen, daß Hilflose und Schwache, unverschuldet zeitweilig in Not geratene Mitbürger, nicht auf der Strecke bleiben. Das ist so selbstverständlich, daß es kaum der Erwähnung bedarf. Aber wenn von der unerläßlichen Überprüfung des Wohlfahrtsstaates die Rede ist, geht es nicht um die Unterstützung, der, wie man früher gesagt hätte, „verschämten Armen“, sondern um die Masse jener Staatsleistungen, die wir alle als willkommene Annehmlichkeiten der letzten Jahrzehnte betrachtet und gern in Anspruch genommen haben. Viele haben sich so sehr an diese Wohltaten gewöhnt, daß sie sie längst für selbstverständlich halten, sich oft gar nicht mehr der Tatsache bewußt sind, in welchem Maße ihre Lebensverhältnisse durch öffentliche Mittel erleichtert, verschönt, bereichert worden sind.

Das ist jetzt, einfach aus Mangel an Masse, bedauerlicherweise zu Ende. Die Kassen sind leer, Bund, Länder und Gemeinden gefährlich überschuldet. Leider kann man dennoch bisher keineswegs sicher sein, ob der notwendige Prozeß des Umdenkens leicht und bald in Gang kommt. Unerläßlich sind so geduldige wie hartnäckige Versuche, unsere Mitbürger aufzurütteln und ihnen klarzumachen, daß es wie bisher auf keinen Fall weiter geht. Ob wir von Notgemeinschaft, Solidarität oder Patriotismus reden, ist unerheblich. Wichtig ist allein die Einsicht, daß die guten Jahre vorüber sind. Stürme ziehen auf, und wir alle gemeinsam müssen auf Deck mithelfen, unser Schiff wetterfest zu machen. Sonst könnte es kentern.

Natürlich muß darauf geachtet werden, daß alle Bevölkerungsteile gleichermaßen belastet werden. Daher gehören die Steuerreform mit Beseitigung vieler Abschreibungsmöglichkeiten, die Renten- und die Gesundheitsreform, der Abbau von Sozialleistungen und von Subventionen notwendig zusammen, weil es jeweils um andere Gruppen und Interessen geht. Nur wenn eine große Mehrzahl Landsleute die Überzeugung gewinnen kann, jeder sei im Maße seiner Möglichkeiten von Einschränkungen betroffen, wird der soziale Friede gewahrt bleiben.

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Hat eigentlich der bisherige Sozialstaat die in ihn gesetzten Hoffnungen erfüllt? Hat er nicht vielmehr das Selbstvertrauen der Betroffenen abgetötet, weil sie sich, abhängig geworden, nicht mehr zutrauten, aus eigener Kraft ihr Leben zu meistern? Hinzu kommt, daß die Abhängigkeit von einer anonymen Bürokratie Ängste schafft, zumal im gleichen Maße, in dem staatliche Sozialinstanzen entstanden, ursprüngliche Solidarverbände – wie Familien, Nachbarschaften, Berufskollegen, freiwillige Zusammenschlüsse – sich zurückbildeten, ja ganz verschwanden.

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Diese Entwicklung hat, wie gesagt, die Vereinzelung des einzelnen enorm befördert. Er fühlt sich nicht mehr in irgendwelche Gruppen eingebunden, die ihm im Notfall helfen werden, sondern sieht sich an eine anonyme Bürokratie mit wechselnden Sachbearbeitern verwiesen – und das erhöht sein Unsicherheitsgefühl, statt psychische Stabilität zu schaffen. Wenn das aber der Fall ist, wenn Menschen durch eine Abhängigkeit, die ihr Selbstgefühl untergräbt, ängstlicher, innerlich unfreier werden, dann ist der ganze Sozialstaat womöglich auf einer falschen Prämisse errichtet.

Wer dagegen eine grundstürzende, umfassende Veränderung des öffentlichen Bewußtseins fordert, muß sich darüber im klaren sein, daß man ihm Hartherzigkeit und soziale Unsensibilität (bis hin zu Rechtsradikalismus) vorwerfen wird. Man wird sagen, weil der existierende Sozialstaat als links gilt, müsse, wer sein Ende konstatiere, notwendig politisch rechts sein. Aber der Einwand wird nicht durchschlagen, weil ihm die Fakten widersprechen. „Der größte Feind der neuen Ordnung ist, wer aus der alten seine Vorteile bezog“, heißt es schon bei Machiavelli.

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Das Scheitern dieser Republik ist möglich

Andernfalls bliebe, leider Gottes, nur die Prognose, daß ein allmählicher Abstieg, die Fortsetzung jenes schleichenden Niedergangs, den wir seit langem erleben, die wahrscheinlichste Entwicklung ist, vergleichbar dem Verfall Großbritanniens in den sechziger und siebziger Jahren.

Der lebenskluge Albert O. Hirschman hat mir gegenüber die Meinung vertreten, erst unter dem Eindruck großer Katastrophen änderten sich Gesellschaften. Bis dahin schlügen sie alle Warnungen in den Wind und setzten ihre eingewurzelten Verhaltensweisen immer weiter fort. Das gelte für ökonomisch-soziale Lethargien ebenso wie für die immer noch vorherrschende ökologische Sorglosigkeit, aus der die Menschheit wohl nur dann plötzlich aufwachen und sich zu durchgreifendem Handeln bereitfinden werde, wenn zuvor Millionen in einer gewaltigen Katastrophe zu Tode gekommen seien.

Unsere weitaus weniger dramatischen deutschen Verhältnisse im Blick, fragt man sich natürlich, welche Faktoren in unserer gegenwärtigen Situation eine derartige krisenhafte Verschärfung der Lage und damit den Umbruch herbeizwingen könnten. Eine drastische Reduzierung sozialer Leistungen? Die Abschaffung der Deutschen Mark? Das Aufkommen einer neuen, radikalen, politischen Bewegung?

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Insofern ist der Gedanke, daß das heutige Regime, weil für andere Verhältnisse und unter Ausnahmebedingungen konstruiert, scheitern könnte, vielleicht nicht so abwegig, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag. Dürfen wir sicher sein, daß unser Staat wetterfest, daß er inneren und äußeren Krisen gewachsen ist? Oder dauert die Mißwirtschaft schon so lange, daß man anfangen kann zu hoffen, sie werde ohne Katastrophe ablaufen?

Harry Graf Kessler hat diese letzte Frage im Herbst 1906 Walther Rathenau gestellt. Dieser erwiderte: „Sie irren sich, eine Bank wie die Deutsche Bank kann fünf Jahre von gänzlich unfähigen Direktoren geleitet werden, ohne daß draußen jemand etwas merkt; aber dann wird allmählich der Abstieg beginnen. Bei einem Staat wie Deutschland kann ein Mißregiment vielleicht zwanzig Jahre ohne großen Schaden dauern; dann melden sich aber plötzlich überall die Folgen.“

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Quelle: Arnulf Baring, Scheitert Deutschland. Abschied von unseren Wunschwelten, München: DTV, 1997, S. 30-38, 42-43, 88-89, 101-02, 108-09, 115-17. © 1997, Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH