Kurzbeschreibung

Der Regierungswechsel, so der neu gewählte Bundeskanzler Gerhard Schröder, sei auch ein Generationenwechsel. Die „finanzielle Erblast“ der Kohl-Ära zwinge die Regierung zur Konsolidierung der Ausgaben. Schröder erinnert an den Wahlslogan der SPD „Wir wollen nicht alles anders, aber besser machen“. Seine Erklärung, den Erfolg oder Misserfolg seiner Regierungsarbeit an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu messen, verfolgte ihn angesichts der beständig hohen Arbeitslosenzahlen während seiner gesamten Amtszeit.

Nicht alles anders, aber besser machen (10. November 1998)

  • Gerhard Schröder

Quelle

Herr Präsident,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik haben die Wählerinnen und Wähler durch ihr unmittelbares Votum einen Regierungswechsel herbeigeführt. Sie haben Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen beauftragt, Deutschland in das nächste Jahrtausend zu führen. Dieser Wechsel ist Ausdruck demokratischer Normalität und eines gewachsenen demokratischen Selbstbewußtseins. Wir können stolz darauf sein, daß die Menschen in Deutschland rechtsradikalen und fremdenfeindlichen Tendenzen eine deutliche Absage erteilt haben.

Auch an dieser Stelle möchte ich noch einmal meinem Vorgänger im Amt, Herrn Dr. Helmut Kohl, für seine Arbeit und seine noble Haltung bei der Amtsübergabe danken.

Vor uns liegen gewaltige Aufgaben. Die Menschen erwarten, daß bessere Politik für Deutschland gemacht wird. Wir wissen: Ökonomische Leistungsfähigkeit ist der Anfang von allem. Und wir müssen:

– Staat und Wirtschaft modernisieren;

– soziale Gerechtigkeit wiederherstellen und sichern;

– das europäische Haus wirtschaftlich, sozial und politisch so ausbauen, daß die gemeinsame Währung ein Erfolg werden kann;

– die innere Einheit Deutschlands vorantreiben;

und vor und bei allem:

– dafür sorgen, daß die Arbeitslosigkeit zurückgedrängt wird, daß bestehende Arbeitsplätze erhalten bleiben und neue Beschäftigung entsteht. Dafür brauchen wir neue Unternehmen, neue Produkte, neue Märkte. Schnellere Innovation, eine bessere Ausbildung und eine Steuer- und Abgabenpolitik, die Arbeit entlastet.

Diese Bundesregierung wird die Probleme schultern. Und sie wird die schöpferischen Kräfte in unserem Land mobilisieren. Die Bedingungen, unter denen wir an den Start gehen, sind alles andere als günstig. Die alte Bundesregierung hat uns keineswegs ein „bestelltes Haus“ hinterlassen.

Das Ergebnis unseres vorläufigen Kassensturzes zeigt den Ernst dieser Lage. Die Verschuldung des Bundes ist auf weit über eine Billion D-Mark getrieben worden. Der laufende Bundeshaushalt ist mit Zinsverpflichtungen von mehr als 80 Milliarden D-Mark belastet. Das heißt: Jede vierte Mark, die der Bund an Steuern einnimmt, muß er für Zinszahlungen ausgeben. Milliardenschwere Haushaltsrisiken wurden ignoriert.

Einnahmen wurden zu hoch veranschlagt, Ausgaben zu niedrig. Jahrelang hat man den Haushalt nur durch Einmaleffekte ausgeglichen. Deren Wirkung ist gleich wieder verpufft. Die großen Haushaltslasten aber, die schwerwiegenden strukturellen Probleme des Bundeshaushalts hat man einfach in die Zukunft verlagert.

Nach den jetzt ermittelten Zahlen müßte die jährliche Neuverschuldung mittelfristig um bis zu 20 Milliarden Mark höher ausgewiesen werden, als das im Finanzplan geschehen ist. Das kann und will ich nicht akzeptieren. Deshalb sage ich gleich zu Anfang: Diese finanzielle Erblast zwingt uns zu einem entschlossenen Konsolidierungskurs.

Wir werden um strukturelle Eingriffe nicht herumkommen. Alle Ausgaben des Bundes müssen auf den Prüfstand. Der Staat muß zielgenauer und wirtschaftlicher handeln. Der Mißbrauch staatlicher Leistungen muß eingedämmt werden. Subventionen und soziale Leistungen werden wir stärker als bisher auf die wirklich Bedürftigen konzentrieren.

Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von uns nicht, daß wir alles in kurzer Zeit schaffen. Aber sie haben einen Anspruch darauf, daß wir nicht nur reden, sondern auch handeln. Daß endlich wieder Politik für die Menschen gemacht wird.

1.

Wir haben gesagt, wir wollen nicht alles anders machen, aber vieles besser. Daran werden wir uns halten. Das sagen wir denen, die heute die Schlachten des Wahlkampfs noch einmal schlagen wollen. Die schon wieder Schwarzmalerei betreiben und diesen lähmenden Pessimismus verbreiten, der unser Land lange genug gehindert hat, die nötigen Schritte zur Anpassung an die Wirklichkeit zu tun.

Aber das rufen wir auch denjenigen zu, die meinen, das jetzt Beschlossene ginge nicht weit genug. Wir wollen die Gesellschaft zusammenführen, die tiefe soziale, geographische und gedanklich-kulturelle Spaltung überwinden, in die unser Land geraten ist.

Wir werden Deutschland entschlossen modernisieren und die innere Einheit beherzt vorantreiben. Voraussetzung dafür ist eine schonungslose Beurteilung der Lage. Aber auch und vor allem: das Besinnen auf unsere Stärken. Und das Zutrauen, daß wir es schaffen können.

Dieser Regierungswechsel ist auch ein Generationswechsel im Leben unserer Nation. Mehr und mehr wird unser Land heute gestaltet von einer Generation, die den Zweiten Weltkrieg nicht mehr unmittelbar miterlebt hat. Es wäre gefährlich, dies als einen Ausstieg aus unserer historischen Verantwortung mißzuverstehen. Jede Generation hinterläßt der ihr nachkommenden Hypotheken – niemand kann sich mit der „Gnade“ einer „späten Geburt“ herausreden.

Für manche ist dieser Generationswechsel eine große Herausforderung. Schon ein Blick auf die Regierungsbank oder in dieses Parlament zeigt, was die große Mehrheit unter uns politisch geprägt hat. Es sind Biographien gelebter Demokratie.

Wir haben den kulturellen Aufbruch aus der Zeit der Restauration miterlebt und mitgemacht. Viele von uns waren in den Bürgerbewegungen der siebziger und achtziger Jahre engagiert. Die ehemaligen Bürgerrechtsgruppen aus der DDR, die gemeinsam mit den ostdeutschen Sozialdemokraten die friedliche Revolution gestaltet haben, sind an dieser Regierung beteiligt. Diese Generation steht in der Tradition von Bürgersinn und Zivilcourage. Sie ist aufgewachsen im Aufbegehren gegen autoritäre Strukturen, im Ausprobieren neuer gesellschaftlicher und politischer Modelle.

Jetzt ist sie – und mit ihr die Nation – aufgerufen, einen neuen politischen Pakt zu schließen, gründlich aufzuräumen mit Stagnation und Sprachlosigkeit, in die die vorige Regierung unser Land geführt hat. An ihre Stelle setzen wir eine Politik, die die Eigenverantwortlichkeit der Menschen fördert und stärkt. Das verstehen wir unter einer Politik der Neuen Mitte. Diesen Weg werden wir partnerschaftlich beschreiten. Jeder im In- und Ausland kann sich darauf verlassen, daß diese Regierung zu ihrer sozialen und politischen Verantwortung steht.

Die Hoffnungen, die auf uns ruhen, sind fast übermächtig. Aber eine Regierung allein kann das Land nicht verbessern. Daran müssen alle mittun. Und je mehr Menschen sich mit ihrer Initiative und Leistungsbereitschaft an der Reform unserer Gesellschaft beteiligen, desto größer werden die Erfolge sein.

Den Menschen in Deutschland mangelt es nicht an schöpferischen Kräften. Wir werden helfen, sie zur Entfaltung zu bringen.

2.

Meine Damen und Herren, es ist kein Zweifel: Unser drängendstes and auch schmerzhaftestes Problem bleibt die Massenarbeitslosigkeit. Sie führt zu psychischen Zerstörungen, zum Zusammenbruch von Sozialstrukturen. Den einen nimmt sie die Hoffnung, und den anderen macht sie Angst. Sie belastet unser Gemeinwesen derzeit mit Kosten von jährlich 170 Milliarden DM.

Die Bundesregierung ist sich völlig im klaren darüber, daß sie ihre Wahl wesentlich der Erwartung verdankt, die Arbeitslosigkeit wirksam zurückdrängen zu können. Genau dieser Herausforderung werden wir uns stellen.

Jede Maßnahme, jedes Instrument kommt auf den Prüfstand, um festzustellen, ob es vorhandene Arbeit sichert oder neue Arbeit schafft. Wir wollen uns jederzeit – nicht erst in vier Jahren – daran messen lassen, in welchem Maße wir zur Bekämpfung der

Arbeitslosigkeit beitragen.

Die Steuerreform, mit der wir in diesen Tagen beginnen, ist dazu ein erster Schritt. Wir werden nicht weitere 16 Jahre über die Notwendigkeit einer Steuerreform reden und das Für und Wider der Interessengruppen abwägen. Nein, meine Damen und Herren, wir machen diese Steuerreform.

Die Reform basiert auf der Einsicht in die ökonomischen Notwendigkeiten. Sie verbindet modernen Pragmatismus mit einem starken Sinn für soziale Fairneß. Im Mittelpunkt steht die Entlastung der aktiv Beschäftigten und ihrer Familien sowie der kleinen und mittleren Unternehmer. Deren Innovationskraft wollen und werden wir stärken. Beides zusammen wird helfen, Arbeitslosigkeit abzubauen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und bestehende zu sichern.

Unsere Steuerreform erschließt Entlastungen von insgesamt 57 Milliarden DM. Nach der Gegenfinanzierung bleiben Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen 15 Milliarden DM als Nettoentlastung. Die Einkommensteuersätze werden nachhaltig gesenkt, das Kindergeld wird erhöht. Über die Legislaturperiode betrachtet, wird das einer durchschnittlich verdienenden Familie mit zwei Kindern eine Nettoentlastung von 2 700 DM im Jahr bringen.

Steuerschlupflöcher werden wir stopfen, ungerechtfertigte Vergünstigungen werden wir abbauen. Das macht deutlich, daß wir die Lasten in unserer Gesellschaft gerechter verteilen.

Wir werden auch die Unternehmensbesteuerung grundlegend reformieren. Unternehmenseinkünfte sollen mit höchstens 35 Prozent besteuert werden. Dafür schaffen wir jetzt die gesetzlichen Voraussetzungen. Wir entlasten damit den Mittelstand, dem – ich sage es noch einmal – eine Schlüsselrolle bei der Schaffung von Arbeitsplätzen zukommt.

Meine Damen und Herren, auch sonst haben wir entgegen dem, was gelegentlich verbreitet wird, die Anliegen des Mittelstandes berücksichtigt. Der Verlustvortrag bleibt erhalten. Ein einjähriger Verlustrücktrag bleibt ebenfalls noch für Verluste, die 1999 und 2000 entstehen und nicht mehr als 2 Millionen DM betragen. Die Wiederanlage von Gewinnen aus der Veräußerung von Grund und Boden und Gebäuden wird wie bisher nach § 6 b Einkommensteuergesetz begünstigt.

Die Sonder- und Ansparabschreibungen für die Existenzgründer können unverändert in Anspruch genommen werden. Für kleine und mittlere Betriebe bleiben sie bis zum Jahr 2000 erhalten.

Die Tarifermäßigung für Veräußerungsgewinne wird durch rechnerische Verteilung des Gewinns nur umgestaltet; sie wird nicht gestrichen. Damit werden zwar – das gilt es einzuräumen – Verlustzuweisungsmodelle eingedämmt, aber für die Betriebsnachfolge wird das keine Verschlechterung bedeuten.

Wir werden – das ist schon an unseren ersten Schritten sichtbar – das Steuerrecht transparenter und damit effizienter machen. Überflüssige Steuersubventionen sollen abgeschafft und wertvolle Steuergelder nicht länger in unsinnigen Steuersparmodellen verschwendet werden.

Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, einen Satz zu der im Koalitionsvertrag angekündigten umfassenden Verbreiterung der Bemessungsgrundlage sagen. Interessierte Kreise haben ja so getan, als wollten wir mit unserer Steuerreform den Unternehmern

buchstäblich die Butter vom Brot nehmen. Dazu ist zu sagen, daß in den vergangenen Jahren nur einige wenige von Steuerentlastungen profitiert haben. Die große Mehrheit hat unter Steuerbelastungen leiden müssen. Jede vernünftige Steuerreform hat diesen von Ihnen verursachten Trend erst einmal zu stoppen.

Die Menschen im Land sehen die Trendwende, die wir eingeleitet haben: Entlastung und Vereinfachung statt wie bisher immer höhere Sätze und immer weniger Transparenz. Ich denke, alle diejenigen, die sich wirklich mit inhaltlichen Fragen beschäftigen, nehmen bereitwillig unsere Einladung an, in einer gemeinsamen Kommission über die Strukturreform des Steuerrechtes begleitend zu beraten.

Eines will ich allerdings denen, die uns in den letzten Wochen mit schrillsten Vorwürfen überzogen haben, sagen: Niedrige und einfache Steuersätze wie zum Beispiel in den USA zu wollen, gleichzeitig aber an einer hohn Zahl von Ausnahmetatbeständen wie bisher in Deutschland festzuhalten, das geht nicht.

[]

Quelle: Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder in der 3. Sitzung des Deutschen Bundestages am 10. November 1998, Bulletin [Presse- und Informationsamt der Bundesregierung], Nr. 74, 11. November 1998 [CD-Rom])