Quelle
Die Vereinbarung über den Solidarpakt
Im Verhuf einer Klausurtagung, zu der Bundeskanzler Kohl sowie die Partei- und Fraktionsvorsitzenden und die Ministerpräsidenten der Bundesländer vom 11. bis 13. März im Bonner Kanzleramt zusammenkamen, wurde eine grundsätzliche Einigung über den Umfang und die Details des Solidarpakts als Maßnahmenprogramm zur Finanzierung der Folgen der deutschen Einheit erreicht. Vereinbart wurden die Erhebung eines Solidaritätszuschlags in Höhe von 7,5 Prozent auf die Lohn- und Einkommensteuer ab dem 1. Januar 1995 – dies soll dem Bund Mehreinnahmen in Höhe von 28 Milliarden Mark erbringen –, die Erhöhung der privaten Vermögenssteuer bei gleichzeitiger Anhebung der Freibeträge sowie der Verzicht auf ursprünglich vorgesehene Kürzungen von sozialen Regelleistungen und auf eine Reduzierung der Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Ostdeutschland. Die Punkte waren in der jetzt beschlossenen oder in einer als Diskussionsgrundlage in die Verhandlungen eingebrachten Form in dem »Föderalen Konsolidierungsprogramm« enthalten, das die Bundesregierung im März verabschiedete und das Einsparungen von 18 Milliarden Mark vorsah. Die Sozialdemokraten konnten sich bei den jetzigen Verhandlungen mit ihrer Forderung nach Einführung einer Arbeitsmarktabgabe nicht durchsetzen. Der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg werden zusätzlich zwei Milliarden Mark zur Verfügung gestellt, um sie in die Lage zu versetzen, einen im Februar erlassenen Bewilligungsstopp für Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung (ABM) wieder aufzuheben; mit diesen Mitteln können in den neuen Bundesländern 225000 und in den alten Ländern 20000 ABM-Stellen finanziert werden. Die neuen Bundesländer werden ab 1995 als gleichwertige Mitglieder in den föderalen Finanzverbund eingegliedert. Vertreter aller Parteien äußerten sich positiv über den erreichten Kompromiß, und in den Reihen der ostdeutschen Ministerpräsidenten wurde Befriedigung über die Neufassung des Länderfinanzausgleichs geäußert, der die Aufbauarbeit erleichtere, während Regierungschefs aus den alten Ländern die Ansicht vertraten, die erreichte Regelung sei tragbar, die finanzielle Einheit Deutschlands sei ab 1995 auf eine sichere Grundlage gestellt worden, und die Bürger müßten nicht länger mit der Ungewißheit über die kommenden finanziellen Zusatzbelastungen leben.
Vorgesehen ist, daß die Bundesländer ab 1995 44 statt bisher 37 Prozent des Umsatzsteueraufkommens erhalten; dadurch werden sie pro Jahr rund 55,8 Milliarden Mark an Finanzausgleichstransfers und zusätzlich 2,8 Milliarden Mark an Leistungen zur Tilgung von Altschulden im Bereich des DDR-Wohnungsbaus sowie – von seitens der Kreditanstalt für Wiederaufbau – rund eine Milliarde Mark an Zinsverbilligungen für die Aufstockung des Programms zur Wohnungsmodernisierung bekommen. Der Bund verzichtete auf einen Anteil der Umsatzsteuer jedoch nur unter der Voraussetzung, daß ihm die Einsparung weiterer Ausgaben in Höhe von 4,35 Milliarden Mark gelingt, die ursprünglich durch die pauschale Kürzung von Sozialleistungen verfügbar gemacht werden sollten.
Das in Bonn verabschiedete Zehn-Punkte-Papier hat folgenden Wortlaut: „Die Finanzierung der deutschen Einheit in einer gesamtwirtschaftlich schwierigen Lage macht eine große Anstrengung bei Bund, Ländern und Gemein den notwendig auch um der Wirtschaft verläßliche Rahmendaten zu geben. Dies erfordert eine solidarische Anstrengung der Deutschen. Zwischen den Beteiligten besteht Einvernehmen über die langfristige Finanzierung der deutschen Einheit ab 1995. Eckpunkte dieser Einigung sind:
1. Die Finanzausstattung der neuen Länder und ihrer Gemein den wird gesichert durch ein Transfervolumen von 55,8 Milliarden Mark in 1995. Dazu wird die Bund-Länder-Finanzverteilung neu geordnet.
2. Zur Beseitigung ökologischer Altlasten sowie zur Sicherung und Erneuerung industrieller Kerne sollen zusätzliche Anstrengungen unternommen werden. Mit dieser Zielsetzung wird der Kreditrahmen der Treuhandanstalt erweitert.
3. Im Blick auf die Absatzförderung für Produkte aus den neuen Bundesländern sollen die Eignung entsprechender Instrumente und der in diesem Zusammenhang notwendige Umfang finanzieller Mittel geprüft werden.
4. Es besteht grundsätzliche Einigung über die Notwendigkeit der Bahnreform.
5. Zur Stärkung des Wohnungsbaus in den neuen Bundesländern wird folgendes vereinbart:
– Die Lösung der Altschuldenfrage im Wohnungsbau konnte erreicht werden: Kappung bei 150 Mark pro Quadratmeter; der entsprechende Kappungsbetrag von 31 Milliarden Mark wird dem Erblastenfonds hinzugefügt. Erlöse aus der Wohnungsprivatisierung werden zur Deckung entsprechender Belastungen im Erblastenfonds eingesetzt. Die entsprechenden Zinshilfen belaufen sich auf 4,7 Milliarden Mark (1994) bzw. 2,35 Milliarden Mark (1995) und werden je zur Hälfte von Bund und neuen Ländern getragen.
– Solange Wohnungsunternehmen noch nicht im Grundbuch als Eigentümer eingetragen werden können, werden Übergangsbürgschaften gewährt.
– Das KfW [Kreditanstalt für Wiederaufbau]-Programm des Bundes wird von 30 Milliarden Mark auf 0 Milliarden Mark aufgestockt. 10 Milliarden Mark davon werden für die Verbesserung der Plattenbauwohnungen mit einer Zinsverbilligung von drei Prozentpunkten eingesetzt; für die übrigen 20 Milliarden Mark gibt es eine Zinsverbilligung von zwei Prozentpunkten.
– Im Rahmen der Städtebauförderung Ost wird die Wohnumfeldverbesserung fortgesetzt.
– Das Fördergebietsgesetz wird für Wohnungsbauinvestitionen im Privatvermögen (50 Prozent Sonderabschreibung in den ersten fünf Jahren) um zwei Jahre verlängert.
6. Zur Verstetigung einer aktiven Arbeitsmarktpolitik im Verlauf des Jahres 1993 wird die Bundesregierung einen zusätzlichen Betrag von zwei Milliarden Mark zur Verfügung stellen.
7. Soziale Regelleistungen werden nicht gekürzt. Mißbrauch im Bereich sozialer und wirtschaftlicher Leistungen wird nachdrücklich bekämpft.
8. Es besteht Einvernehmen darüber, daß Ausgabenkürzungen und der Abbau von Steuersubventionen einen Einsparbetrag von neun Milliarden Mark erbringen müssen. Die darüber hinaus notwendigen Einsparungen werden in der Arbeitsgruppe der vier Länderfinanzminister mit dem Bundesfinanzminister unter Hinzuziehung von Vertretern der Bundestagsfraktionen geprüft und mit Abschlußvollmacht entschieden.
9. Bei der Einführung eines Solidaritätszuschlags in Höhe von 7,5 Prozent ab 1. Januar 1995 besteht Einvernehmen darüber, daß eine über den Grundfreibetrag hinausgehende soziale Komponente vorgesehen wird. Die private Vermögenssteuer wird erhöht unter Anpassung der Freibeträge von 70000 auf 120000 Mark. Es besteht Einigkeit, daß dem Bund 1995 im Ergebnis insgesamt 28 Milliarden Mark zusätzlich zur Verfügung stehen.
10. Im Hinblick auf den Finanzbedarf der neuen Bundesländer besteht für 1993 Einigkeit darüber, daß der Bund und alte Länder ihre Mehreinnahmen aus dem Zinsabschlagsgesetz hierfür zur Verfügung stellen (855 Millionen bzw. 1,3 Milliarden Mark). Darüber hinaus werden 1,55 Milliarden Mark zur Verfügung gestellt, und zwar vom Bund und alten Ländern zu gleichen Teilen. Insgesamt werden damit für den Fonds Deutsche Einheit 1993 zusätzlich 3,7 Milliarden Mark bereitgestellt. Um das Aufkommen aus dem Fonds Deutsche Einheit auch für 1994 zu stabilisieren, wollen Bund und alte Länder zusätzliche Beträge aufbringen. Hierüber soll in der Gruppe der Finanzminister beraten werden mit dem Ziel, eine entsprechende Entscheidung des Bundeskanzlers und der Regierungschefs der Länder herbeizuführen. Die Bundesregierung wird in diesen Beratungen der Finanzminister einen Betrag von 5,35 Milliarden Mark einbringen. Die alten Länder prüfen, ob sie über einen zugesagten Betrag von 3,5 Milliarden Mark hinaus hierfür zusätzliche Beträge zur Verfügung stellen.“
Kritische Äußerungen in den Medien und von Politikern bezogen sich vor allem auf die zusätzlichen finanziellen Belastungen für den Bund, der ursprünglich forderte, einen höheren Anteil am Umsatzsteueraufkommen zu erhalten, und nun sogar eine Reduzierung von 63 auf 56 Prozent hinnehmen muß; im Gegensatz hierzu seien die alten Bundesländer von umfangreichen Mehrbelastungen verschont worden. Die „Einheitsfront der 16 alten und neuen Bundesländer“ (Handelsblatt) sei dem Bund entschlossen entgegengetreten und habe sich in der Mehrzahl ihrer Forderungen durchgesetzt. Die Wochenzeitung Die Zeit sah eine „vertane Chance“ und schrieb: „Das Eigenlob der Beteiligten klang vollmundig – und hohl: Der Solidarpakt ist kein Beleg für politische Gestaltungskraft. Nach wie vor fehlt ein schlüssiges Konzept dafür, wie die Wirtschaft im Osten nun endlich in Schwung gebracht und der wirtschaftliche Abschwung in Westdeutschland aufgefangen werden kann. Mit entschlossenem Handeln hätte die politische Führung der Verdrossenheit der Bürger den Boden entziehen können. Doch das Kompromißpaket wird nicht einmal den dringendsten Anforderungen gerecht. Wer mit dem Erreichten dennoch zufrieden sein will, muß die Latte schon sehr tief legen. Allein die Klarheit darüber, daß ein Solidarzuschlag erst vom 1. Januar 1995 an – also nicht in der Rezession – erhoben wird, begründet noch kein positives Urteil über das Gesamtpaket... Wie gering der Einsatz an kreativer Energie war, zeigt sich daran, daß der Politikerrunde zur Finanzierung neuer sinnvoller Ausgaben wie dem Wohnungsbauprogramm für die neuen Länder wieder nur ein Ausweg einfiel: Schulden und nochmals Schulden. Von den guten Vorsätzen – Sparen und Umschichten – sind in dem Solidarpakt allenfalls Spurenelemente sichtbar.“
Quelle: „Die Vereinbarung über den Solidarpakt“, Archiv der Gegenwart, 16. März 1993, S. 48032–36.