Quelle
Rede des deutschen Verteidigungsministers, Volker Rühe, am 8. Oktober 1993 an der Karls-Universität in Prag (Auszug)
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Das europäische Einigungswerk – die Europäische Gemeinschaft – das ist die große historische Leistung der Nachkriegszeit. Sie muß bewahrt und entwickelt, vertieft und erweitert werden. Wir müssen verhindern, daß sie zerfasert oder im bisher Erreichten erstarrt. Darin liegt eine große gestalterische Aufgabe der Zukunft – eine Aufgabe nicht nur der heutigen Mitglieder. Wir wollen keinen anonymen Zentralstaat, der vom Nordkap bis Sizilien, von Gibraltar bis Ostrava alle Angelegenheiten regelt. Wir wollen kein Schattenreich von Nationen, die ihre Identität verloren haben. Nicht angstvolle Flucht in ein neues Kollektiv, sondern selbstbewußter Wille freier Nationen zur Gemeinsamkeit auf allen Feldern der Politik ist unsere Zukunft. Die Währung, die Diplomatie, die Sicherheit und die dazu erforderlichen Mittel – das sind die Bestandteile der starken Gemeinschaft, die Europa braucht. Wir brauchen dazu eine faire europäische Lastenteilung. Auch Südeuropa ist im Vergleich zu Zentral- und Osteuropa reich. Der Nord-Süd-Transfer muß wenigstens ansatzweise in einen West-Ost-Transfer umgelenkt werden. In Deutschland haben wir für die Vollendung der inneren Einheit ein umfassendes Programm, den Solidarpakt. Wir brauchen auch einen gesamteuropäischen Solidarpakt. Dazu gehört die Öffnung der westlichen Märkte. Unsere amerikanischen Freunde bringen es auf den Punkt: „Trade is better than aid.“
Europa ist aber nicht nur eine ökonomische Veranstaltung. Die Europäer müssen lernen, ihre gemeinsamen außen- und sicherheitspolitischen Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Wir müssen auch in globalen Zusammenhängen denken, um ein wirksamer und geachteter Akteur zu werden. Es darf für Europa kein Zurück geben zu den machtpolitischen Rivalitäten des 19. Jahrhunderts. Wir müssen eine gefestigte und handlungsfähige Gemeinschaft schaffen. Nur dann werden die Europäer ihre Interessen wahren und entscheidend zur Lösung der globalen Herausforderungen beitragen können. Der Vertrag von Maastricht für eine Europäische Union hat auch für die Außen- und Sicherheitspolitik ein klares Ziel vorgegeben. Es liegt in der Logik dieses Vertrags, vor allem aber im Interesse aller Beteiligten, die Gemeinschaft aller Europäer zu verwirklichen. Vertiefung und Erweiterung der europäischen Integration sind nicht zu trennen. Das gilt für wirtschaftliche und soziale Aspekte, und das gilt ebenso für die Sicherheitspolitik. Der Kontinent muß zu einer politischen, ökonomischen und strategischen Einheit zusammengeführt werden. Hier liegt die eigentliche Aufgabe Europas, die sich nach überwundener Teilung nun stellt. Niemand kann daran interessiert sein, daß ein instabiles „Zwischeneuropa“ entsteht. Trotz unterschiedlicher Ausgangslagen der einzelnen Nationen gibt es ein gemeinsames sicherheitspolitisches Interesse aller Europäer: Wir müssen Stabilität als gesamteuropäische Aufgabe begreifen, damit der Wandel in geordneten Bahnen verläuft und allen Völkern Sicherheit gibt.
Seit Monaten werbe ich daher mit Nachdruck dafür, die Stabilitätszone des Westens nach Osten auszudehnen. Deutschland will nicht der östliche Randstaat der Wohlstandszone bleiben. Es wird dem ganzen Westen Europas auf Dauer nicht gut gehen, wenn es dem Osten auf Dauer schlecht geht. Ihr Land, aber auch Polen, Ungarn und Slowakien orientieren sich klar nach Westen. Ich sehe mit Genugtuung, daß die EG-Assoziierung in diesem Jahr ratifiziert wird. Damit ist Ihre Aufnahme in die Europäische Union und in die Westeuropäische Union vorgezeichnet. Die Gemeinschaft gründet auf gleicher Sicherheit für alle. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es in dieser erweiterten Gemeinschaft Mitglieder gibt, die den Schutz der NATO genießen, und andere Mitglieder darauf verzichten müssen.
Rußland ist ein besonders wichtiger Faktor für dauerhafte Stabilität in Europa. Wir erreichen Stabilität nur mit, nicht gegen Rußland. Wir müssen auch auf die äußerst schwierige Lage der Reformkräfte in der innerrussischen Auseinandersetzung Rücksicht nehmen. Aber aus meinen Gesprächen in Moskau weiß ich: Rußland sieht im Westen keine Bedrohung mehr. Es unterstützt die Neugestaltung der politischen Landschaft Europas, wenn es selbst aktiver und geachteter Partner ist, dessen Sorgen ernst genommen werden. Das Rußland von morgen ist weder das Zarenreich noch die Sowjetunion. Es liegt auch in unserer Hand, ob Rußland ein stabiler, demokratischer Partner wird. Rußland will und darf nicht aus den europäischen Prozessen ausgegrenzt werden. Es strebt eine neue strategische Partnerschaft mit der NATO an und eine politisch-ökonomische Partnerschaft mit der EG. Deshalb habe ich von Anfang an überall gesagt, daß die enge Kooperation mit Rußland besondere Qualität in den europäischen Prozessen hat. Es ist eine unverzichtbare Rahmenbedingung, wenn es darum geht, die atlantisch-europäischen Sicherheitsstrukturen fortzuentwickeln.
Mit Blick auf unsere zentraleuropäischen Nachbarstaaten und auf Rußland wird unsere Politik von zwei Schlüsselbegriffen geprägt, von Integration und Kooperation. Beide verstehe ich als untrennbare Faktoren eines politisch-strategischen Gesamtkonzepts für das übergeordnete Ziel von uns allen: gesamteuropäische Stabilität. Wir sollten beides tun: Einerseits sollten die EG und die Nordatlantische Allianz die Zusammenarbeit mit Rußland vertiefen und auf neue Felder ausweiten. Einen entsprechenden Ansatz brauchen wir auch für andere Staaten im Osten; die Ukraine spielt dabei eine besondere Rolle. Die Bundesregierung ist andererseits dafür, den Staaten in Mittelosteuropa schrittweise den Weg in die europäisch-atlantischen Institutionen zu öffnen. Dazu zählen wir neben der Europäischen Gemeinschaft und dem Europarat auch WEU und NATO. Wir erwarten vom NATO-Gipfel im Januar 1994 ein klares Signal, wie es der Kopenhagener EG-Gipfel für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union abgegeben hat. Diese Position hat der deutsche Außenminister vor wenigen Tagen vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen zum Ausdruck gebracht.
In den Hauptstädten diesseits und jenseits des Atlantik stellt man sich jetzt diesen Fragen. Noch gibt es unterschiedliche Auffassungen. Es gibt auch Sorgen, daß eine Erweiterung der NATO die Beistandsqualität verwässern könnte. Die Allianz ist schließlich das einzige, wirklich funktionsfähige Bündnis. Sie muß deshalb unbedingt als Stabilitätsanker für Europa erhalten bleiben. Es ist daher eine wichtige Überlegung, ob ein Beitrittskandidat zunächst volle innere Stabilität schaffen und alle offenen Probleme mit seinen Nachbarn lösen muß. Oder ob gerade eine frühzeitige Aufnahme Stabilität fördert und verbleibenden Konfliktstoff mit Nachbarn beseitigt.
Ich nehme an, daß westliche Unternehmen eher bereit sind zu investieren, wenn äußere Sicherheit gewährleistet ist. Das würde auch den Märkten im Osten einen großen Schub geben. Westdeutschland nach dem Krieg ist das schlagende Beispiel dafür.
Es gilt, Konsens zu finden – zwischen den Europäern selbst und zwischen Europa und den USA. Es liegt auch im amerikanischen Interesse, ein Europa als Partner zu haben, das in sich stabil, berechenbar und handlungsfähig ist, um gemeinsame globale Herausforderungen zu bewältigen. Es gibt eine vertragliche Verknüpfung zwischen Westeuropäischer Union und NATO. Mit dem Beitritt neuer Partner zur Europäischen Gemeinschaft und Westeuropäischen Union stellt sich die Frage des Zugangs zur NATO von selbst. Es verbietet sich aber, daß Nordamerika mit Entscheidungen Europas konfrontiert wird. Die USA dürfen nicht vor vollendete Tatsachen gestellt werden, deren Folgen sie mittragen müssen, ohne daß sie an deren Entwicklung beteiligt gewesen wären. Die USA müssen von Anfang an teilhaben an den europäischen Prozessen. Denn Amerika ist Teil der europäischen Sicherheitskultur geworden.
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Quelle: „Rede des deutschen Verteidigungsministers, Volker Rühe, am 8. Oktober 1993 an der Karls-Universität in Prag (Auszug)“, Material für die Presse (Der Bundesminister der Verteidigung, Pressestab, Bonn), Nr. XXX/16, 8. Oktober 1993; abgedruckt in Europa-Archiv, Folge 3/1994, S. D 101–D 104.