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Migrantenkinder im Bildungssystem: doppelt benachteiligt
Migrantenkinder haben es im deutschen Bildungssystem besonders schwer. Ihre migrationsbedingten Probleme werden durch unzureichende Förderung und institutionelle Benachteiligung verschärft.
Einleitung
Deutschland hat sich im vergangenen halben Jahrhundert allmählich von einem Gastarbeiterland über ein Zuwanderungsland wider Willen zu einem der wichtigsten Einwanderungsländer der modernen Welt entwickelt. Im Bildungswesen lässt sich dieser Wandel daran ablesen, dass immer mehr Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien stammen. Unter den 15-jährigen Schülerinnen und Schülern ist es 2006 jede bzw. jeder fünfte, unter den Viertklässlern bereits jede bzw. jeder vierte und bei den Kindern unter fünf Jahren schon jedes dritte Kind.[1] Deutschland steht vor der Herausforderung, das wachsende multiethnische Segment seiner Bevölkerung in die Kerngesellschaft zu integrieren. Wenn man gleiche Teilnahmechancen am Leben der Aufnahmegesellschaft als das Herzstück der Integration ansieht, wie es viele Wissenschaftler[2] und Politiker tun, dann sind gleiche Bildungschancen für Migrantenkinder der Schlüssel für ihre Integration.
[…]
Nachteile in der Leistungsentwicklung
Die im vergangenen Jahrzehnt durchgeführten internationalen Vergleichsstudien zeigen, dass Migrantenkinder in fast allen wichtigen Einwanderungsländern der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) tendenziell mehr oder weniger große Leistungsdefizite im Lesen, in Mathematik und in den Naturwissenschaften gegenüber den Einheimischen aufweisen. Deutschland gehört allerdings zu denjenigen Gesellschaften, in denen diese Defizite am größten sind. In der letzten PISA-Studie führt Deutschland die „Hitliste“ der Länder mit den größten Defiziten der Migrantenkinder im Bereich Naturwissenschaften an, in Mathematik ist es bei PISA 2003 „Vizemeister“ der OECD und im Lesen liegt es 2006 auf Platz 3. Die so genannte Zweite Generation – das heißt Jugendliche, die im Zuwanderungsland geboren sind und deren beide Eltern zugewandert sind – weist in Deutschland 2006 in allen drei Leistungsbereichen die größten Rückstände gegenüber den Einheimischen auf. Offensichtlich gelingt es in Deutschland nicht, das Leistungspotenzial von jungen Menschen mit Migrationshintergrund so zu fördern und zu entwickeln, wie es in den meisten anderen Einwanderungsländern der Fall ist.
Nachteile in der Bildungsbeteiligung
Es ist nicht verwunderlich, dass diese Leistungsdefizite
schlimme Folgen für die Bildungsbeteiligung haben. Allerdings sei
hier bereits darauf verwiesen, dass die schlechten Bildungschancen
der Migrantenkinder nur teilweise auf ihre Kompetenzdefizite
zurückzuführen sind und auch mit unzureichender Förderung und
Diskriminierungen in den Schulen zusammenhängen. Die Probleme der
Migrantenkinder beginnen bereits im vorschulischen Bereich. 2007
besuchten in Deutschland 90 Prozent aller Drei- bis Fünfjährigen
eine Kindertageseinrichtung, aber nur 64 Prozent der
Migrantenkinder. Dabei ist belegt, dass gerade die Kinder aus
bildungsfernen und zugewanderten Familien von einem möglichst
frühen Kindergartenbesuch profitieren: Sie werden seltener bei der
Einschulung zurückgestellt, und ihre Chancen, später ein Gymnasium
zu besuchen, verdoppeln sich[3]. Die Nachteile setzen sich bei der Einschulung – es werden
etwa doppelt so viele ausländische Kinder zurückgestellt – und bei
der wichtigen Weichenstellung am Ende der Grundschulzeit fort:
Zwischen 1985 und 2006 wechselten zwei Drittel der ausländischen
Schüler an die Hauptschule (deutsche: 42 Prozent) und nur 9
Prozent auf ein Gymnasium (deutsche: 30 Prozent).[4] Während ihrer Schulkarriere müssen Migrantenkinder
insbesondere in den unteren Klassen erheblich häufiger die Klasse
wiederholen, in den ersten bis dritten Klassen bleiben sie viermal
häufiger sitzen als Einheimische. Sie müssen auch häufiger das
Gymnasium wieder verlassen und steigen doppelt so häufig in die
Hauptschule ab. Auch das Risiko, auf eine Sonderschule für
Lernbehinderte überwiesen zu werden, ist doppelt so hoch wie bei
Deutschen.[5]
Die Probleme auf ihrem Bildungsweg schlagen
sich in den Schulabschlüssen nieder: 2007 verließen 17 Prozent der
ausländischen Schüler das Schulsystem ohne Hauptschulabschluss
(deutsche: 7 Prozent), 42 Prozent erwarben den Hauptschulabschluss
(deutsche: 23 Prozent); 31 Prozent den Realschulabschluss
(deutsche: 42 Prozent), 1,5 Prozent die Fachhochschulreife
(deutsche: 1,5 Prozent) und nur 9 Prozent die allgemeine
Hochschulreife (deutsche: 27 Prozent). Obwohl die
Studienberechtigten aus Migrantenfamilien inzwischen häufiger mit
einem Studium beginnen als Einheimische, machen sie unter den
Studierenden nur 8 Prozent aus; im Vergleich zu ihrem Anteil unter
Gleichaltrigen sind sie etwa um das Dreifache
unterrepräsentiert.[6]
Am dramatischsten stellt sich die Situation in
der Berufsausbildung dar. Beim zunehmenden Kampf um die knappen
Lehrstellenplätze seit Mitte der 1990er Jahre sind die
Migrantenkinder die Verlierer. Ihr Anteil an den Auszubildenden
ging kontinuierlich zurück mit fatalen und alarmierenden Folgen:
Fast die Hälfte (42 Prozent!) der 25- bis 34-Jährigen steht 2005
ohne beruflichen Abschluss da (Einheimische: 13 Prozent).[7] Hier tickt eine soziale Zeitbombe: Wenn dieser „verlorenen
Generation“ nicht intensiv geholfen wird, ist der Weg für viele
von ihnen in die Arbeitslosigkeit und Randständigkeit und für
einige auch in die Kriminalität vorprogrammiert.
Unterschiede nach Staatsangehörigkeit
Zwischen den verschiedenen Nationalitäten bestehen erhebliche Unterschiede in der Bildungsbeteiligung. Tabelle 2 zeigt, dass unter den Schülern aus ehemaligen Anwerbeländern die Kroaten, Spanier und Slowenen über die besten Bildungschancen verfügen. Bosnier, Griechen, Tunesier und Portugiesen liegen im Mittelfeld, während Italiener und Türken zusammen mit den Mazedoniern, Serben und Marokkanern die Schlusslichter bilden. Erstaunlich ist die gute Bildungsbeteiligung der Vietnamesen und Ukrainer. Sie besuchen häufiger ein Gymnasium und seltener die Hauptschule als Deutsche. Auch die Bildungschancen der Jugendlichen aus iranischen Flüchtlingsfamilien und aus russischen Familien – darunter viele russische Juden – sind gut, sie entsprechen in etwa denjenigen der Deutschen. Die Aussiedler sind in der bundesweiten Schulstatistik nicht getrennt erfasst. In Nordrhein-Westfalen nehmen sie im Hinblick auf ihre Schulabschlüsse eine mittlere Position zwischen Deutschen und Ausländern ein.[8] Wie die Unterschiede zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen zu erklären sind, ist bisher nur im Hinblick auf wenige Nationalitäten untersucht.
Unterschichtung und Migration
Wie lassen sich die Defizite bei der Kompetenzentwicklung und
Bildungsbeteiligung der Migrantenkinder erklären? Die bisherige
Forschung in dieser Richtung ist bruchstückhaft geblieben. Im
Folgenden soll versucht werden, einige Schneisen in das
unübersichtliche Gestrüpp der Forschungsergebnisse und
Zusammenhänge zu schlagen. Wir orientieren uns dabei im
Wesentlichen an quantitativen Studien. Im Ursachengeflecht sind
zwei große Stränge erkennbar: schichtspezifische und
migrationsspezifische Ursachen. Der schichtspezifische Strang geht
darauf zurück, dass der sozioökonomische Status der
Migrantenfamilien tendenziell niedriger ist als derjenige der
Einheimischen; anders ausgedrückt heißt das: Die deutsche
Gesellschaft ist durch Migranten tendenziell unterschichtet.
Dadurch sind große Teile der jungen Menschen mit
Migrationshintergrund mit ähnlichen Benachteiligungen im
Bildungssystem konfrontiert wie Einheimische aus Familien mit
niedrigem sozioökonomischem Status. Das Problem der
Unterschichtung ist im deutschen Bildungssystem besonders
virulent, weil beide Phänomene – die Unterschichtung durch
Migranten und die Bildungsnachteile für Kinder aus ärmeren
Familien – in Deutschland extremer ausgeprägt sind als in anderen
Einwanderungsländern. Der migrationsspezifische Strang weist auf
Integrationsprobleme hin, die – unabhängig vom sozioökonomischen
Status – bei der Wanderung in eine fremde Kultur mit einer anderen
Verkehrs- und Unterrichtssprache, einem anderen Bildungssystem und
teilweise anderen Werten und Normen entstehen.
Das
Gewicht der beiden Stränge variiert in etwa zwischen einem und
zwei Dritteln – je nachdem, welche Kompetenzen, Aspekte der
Bildungsbenachteiligung und Migrantengruppen untersucht werden.
Hierzu zwei Beispiele: Im ersten sind beide Stränge gleich stark
beteiligt. 15-jährige Einheimische schneiden beim Lesen um 96
Punkte und in Mathematik um 93 Punkte besser ab, als die in
Deutschland geborene Zweite Generation aus zugewanderten Familien.
Diese Abstände sind erheblich; sie entsprechen etwa dem Vorsprung,
den ein durchschnittlicher Gymnasiast gegenüber einem
durchschnittlichen Realschüler hat. Vergleicht man dann
Einheimische und Angehörige der Zweiten Generation mit gleichem
sozioökonomischem Status, dann halbiert sich die Kluft auf 48 bzw.
45 Punkte.
Im zweiten Beispiel für
Bildungsbenachteiligung ist der schichtspezifische Strang deutlich
stärker. Bei einheimischen Jugendlichen aus den alten
Bundesländern ist die Chance, eine weiterführende Schule statt
einer Hauptschule zu besuchen, um das 2,5-fache größer als bei
Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Bei statusgleichen
Jugendlichen aus beiden Gruppen schmilzt dieser Vorsprung um zwei
Drittel auf das 1,5-fache zusammen.[9] Wie sehen nun die Mechanismen in den beiden Strängen im
Einzelnen aus?
Extreme Unterschichtung
Die PISA-Studien haben erstmals quantitativ exakt belegt, dass Deutschland stärker durch Migranten unterschichtet ist als die anderen modernen Einwanderungsgesellschaften wobei die tendenzielle Statuskluft bei den Einwanderern aus der Türkei besonders groß ist.[10] In einigen europäischen Nachbarländern – Vereinigtes Königreich, Schweden, Norwegen, Frankreich – ist der Statusabstand höchstens halb so groß, und in Kanada, das seit drei Jahrzehnten eine durchdachte Migrationspolitik mit einer darauf abgestimmten Integrationspolitik betreibt, gibt es derartige Statusunterschiede kaum. Die extreme tendenzielle Unterschichtung ist die Hypothek, die uns die frühere Gastarbeiterpolitik, das lange Fehlen einer zukunftsorientierten Migrationspolitik sowie die damit zusammenhängenden Integrationsversäumnisse hinterlassen haben.
[…]
Deutsche Sprachkenntnisse
Was in den 1990er Jahren bereits bekannt war, wurde durch die
PISA- und IGLU- Studien eindrucksvoll bestätigt: Die Kenntnisse
der Unterrichts- und Verkehrssprache Deutsch spielen eine
Schlüsselrolle bei Kompetenzerwerb und Bildungserfolg der
Migrantenkinder.[11] Auf die Bedeutung der Leseleistung für die
schichtspezifischen Leistungs- und Bildungsdefizite wurde bereits
hingewiesen. Aber auch unter den migrationsspezifischen Ursachen,
die unabhängig von der Schichtzugehörigkeit der Migranten wirken,
kommt den Deutschkenntnissen eine herausragende Bedeutung
zu.
36 bis 40 Prozent der Kompetenzunterschiede in
Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen zwischen statusgleichen
Einheimischen und hier geborenen Migrantenjugendlichen hängen
damit zusammen, ob in den Migrantenfamilien Deutsch gesprochen
wird oder nicht. Und zugewanderte Migrantenjugendliche entwickeln
sogar dieselben Kompetenzen wie statusgleiche Einheimische, wenn
in ihren Familien Deutsch gesprochen wird (2006).[12] Auch bei den Grundschulempfehlungen für die Realschulen
und Gymnasien sowie bei Klassenwiederholungen sind fast die Hälfte
der Nachteile von statusgleichen Migrantenkindern auf deren
unzureichende Deutschkenntnisse zurückzuführen. 15-Jährige mit
Migrationshintergrund haben bei gleichem Sozialstatus und gleichen
Deutschkenntnissen dagegen dieselben Chancen, eine Realschule oder
ein Gymnasium zu besuchen wie die Einheimischen.[13]
Ethnische Konzentration
Nicht alle Nachteile der Migrantenkinder sind ausschließlich Folgen von Unterschichtung und Deutschdefiziten. Welche weiteren migrationsspezifischen Ursachen eine Rolle spielen, ist nur unzureichend geklärt. In Frage kommen sowohl schulische Faktoren – wie unzureichende Förderung, mehr oder weniger bewusste Diskriminierung oder hohe Migrantenanteile in Schulen und Klassen – als auch familiale Faktoren wie Einreisealter, Verweildauer von Kindern und Eltern in Deutschland, Rückkehrabsichten, Offenheit bzw. Abschottung gegenüber der deutschen Kultur und Gesellschaft. Quantitativ genauer ausgeleuchtet sind die folgenden Einflüsse: – Die Konzentration von Migrantenkindern in bestimmten Schulen bzw. Klassen wirkt sich offensichtlich in Hauptschulen und Grundschulen unterschiedlich aus: Während in den Hauptschulen die Leistungsentwicklung mit dem Anstieg des Migrantenanteils etwas gebremst wird,[14] gibt es in den Grundschulen erst bei extrem hohen Migrantenanteilen von über 80 Prozent Bremseffekte.[15] – Die Orientierung an der deutschen Kultur und Gesellschaft (Freundeskreise, Mediennutzung, Musikpräferenzen, Essgewohnheiten) begünstigt den Bildungserfolg.[16]
Institutionelle Diskriminierung
Auch einige Mechanismen der so genannten „institutionellen Diskriminierung“ sind belegt. In einer aufschlussreichen qualitativen Studie konnten Frank-Olaf Radtke und Mechthild Gomolla zeigen, dass in die Entscheidungen von Lehrern und Schulleitern zu wichtigen Übergängen – Schulbeginn, Überweisungen auf Sonderschulen für Lernbehinderte und Schulempfehlungen am Ende der Grundschulzeit – auch leistungsfremde Kriterien zu Lasten der Migrantenkinder einfließen. So spielen zum Beispiel spezifische Organisationsinteressen wie die Unter- oder Überlast einzelner Schulen oder ihr Wunsch auf Fortbestehen an einem Standort eine Rolle. Sprachdefizite werden fälschlicherweise als allgemeine Lernbehinderung gedeutet und anderes mehr.[17]
Quantitative Studien bestätigen die Diskriminierungen in der Grundschule. Einheimische Kinder erhalten bei gleichem sozioökonomischen Status und gleicher Leseleistung jeweils 1,7-mal häufiger eine Empfehlung für die Realschule und für das Gymnasium als Migrantenkinder, während diese unter denselben Voraussetzungen um das 1,6-fache häufiger sitzenbleiben. Empirisch belegt ist auch, dass Migrantenkinder in der Grundschule bei gleichen Testleistungen etwas schlechtere Noten erhalten.[18] Für die Sekundarstufe lassen sich dagegen keine zusätzlichen Diskriminierungen nachweisen. Bei der Verteilung von 15-Jährigen auf Gymnasien, Realschulen und Gesamtschulen gibt es keine Unterschiede zwischen Einheimischen und Migrantenkindern mehr, wenn man Status und Leseleistung kontrolliert, und auch die Benotung in der 9. Jahrgangsstufe erfolgt leistungsgerecht und fair.[19]
Fazit: doppelte Benachteiligung
Als Fazit lässt sich festhalten: Migrantenkinder haben es im deutschen Bildungssystem besonders schwer; sie sind doppelt benachteiligt. Infolge der starken tendenziellen Unterschichtung der deutschen Gesellschaft durch Migranten stoßen viele von ihnen auf dieselben Probleme, mit denen einheimische Kinder aus sozial schwachen Familien zu kämpfen haben und die in Deutschland im Vergleich zu anderen Gesellschaften besonders stark ausgeprägt sind. Hinzu kommen die Schwierigkeiten der bi-kulturellen Migrationssituation, das Aufwachsen und Leben in einer „anderen“, „fremden“ kulturellen und sozialen Umgebung. Auch diese Schwierigkeiten sind in Deutschland stärker ausgeprägt als in vielen vergleichbaren Einwanderungsgesellschaften. Bildungs- und Integrationspolitik stehen somit vor einer großen Herausforderung. Es geht dabei nicht nur um Chancengleichheit, sondern auch um Effizienz - um die gesellschaftliche Notwendigkeit, die in der Bevölkerung schlummernden Leistungspotentiale optimal zu entwickeln und zu nutzen.
Anmerkungen
Quelle: Rainer Geißler und Sonja Weber-Menges, „Migrantenkinder im Bildungssystem: doppelt benachteiligt,“ Bundeszentrale für politische Bildung, http://www.bpb.de/apuz/30801/migrantenkinder-im-bildungssystem-doppelt-benachteiligt?p=all.