Kurzbeschreibung

Zutiefst gekränkt von dem, was in seinen Augen eine Relativierung des Holocaust war, nennt der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, Walsers Kritik an der „Moralkeule“ Auschwitz zur Durchsetzung politischer Korrektheit „geistige Brandstiftung“ und betont, dass Appelle an das Vergessen eine Form „latenten Antisemitismus“ seien, dem Einhalt geboten werden müsse. Er hielt seine Rede anlässlich des 50. Jahrestages der „Reichskristallnacht“ vom 9. November 1938.

Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden Ignatz Bubis warnt vor einer Relativierung des Holocaust (9. November 1998)

  • Ignatz Bubis

Quelle

Gedenkrede zur Pogromnacht 9. November 1938

Die Rede wurde gekürzt

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Sehr verehrter Herr Bundespräsident, Herr Bundestagspräsident, Herr Bundeskanzler, für das, was ich jetzt sagen werde, bin ich alleine verantwortlich und nicht „alle Juden“. Genauso, wie für die Rede von Herrn Walser nur dieser verantwortlich ist und nicht „alle Deutschen“. Das geht schon deshalb nicht, weil ich dann auch für die Rede von Walser verantwortlich sein müßte. Vorab aber einen Satz des Historikers Fried, den dieser anläßlich des 42. Deutschen Historikertages in seiner Begrüßungsrede gesagt hat: „Wer versucht, der Geschichte zu entkommen, muß auf Dauer scheitern“.

Ich bin vielfach kritisiert worden, daß ich mit meiner Kritik an Walser überzogen hätte und daß ich ihn mißverstanden hätte. Martin Walser gehört zu den führenden Schriftstellern der Nachkriegsrepublik und ist ein Mann des Wortes. Er muß es sich deshalb gefallen lassen, daß man seiner Sprache und seinem Duktus mehr Aufmerksamkeit schenkt als der Sprache und dem Duktus eines gewöhnlichen Sterblichen wie mir.

Ich wüßte nicht, was es an seinem Satz, daß er habe lernen müssen, wegzuschauen bzw. daß er im Wegdenken geübt sei und daß er sich an der Disqualifizierung des Verdrängens nicht beteiligen kann, zu deuteln gäbe. Hier spricht Walser eindeutig für eine Kultur des Wegschauens und des Wegdenkens, die im Nationalsozialismus mehr als üblich war und die wir uns heute nicht wieder angewöhnen dürfen.

Wir müssen uns alle der Geschichte stellen, und dazu gehört, nicht nur Filme über Goethe oder Bismarck zu sehen, sondern auch über die Zeit des Nationalsozialismus. Wir beschäftigen uns auch mit der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges und der Geschichte der Vormärz-Revolution von 1848, selbstverständlich befassen wir uns mit Freude mit den Biographien von Goethe, Schiller, Beethoven oder Bismarck. Alles das sind Teile der deutschen Geschichte. Zu ihr gehören allerdings auch Hitler und Himmler. Man kann sich nicht nur die schönen Seiten seiner Geschichte heraussuchen und die unschönen verdrängen. Wer nicht bereit ist, sich diesem Teil der Geschichte zuzuwenden, sondern es vorzieht, wegzudenken oder zu vergessen, muß darauf gefaßt sein, daß Geschichte sich wiederholen kann.

Diese Schande war nun einmal da und wird durch das Vergessenwollen nicht verschwinden, und es ist eine „geistige Brandstiftung“, wenn jemand darin eine Instrumentalisierung von Auschwitz für gegenwärtige Zwecke sieht. Das sind Behauptungen, wie sie üblicherweise von rechten Parteiführern kommen. Die Gesellschaft hat sich daran gewöhnt, daß solche Sätze und Behauptungen von rechtsextremer Seite kommen. Wenn allerdings jemand, der zur geistigen Elite der Republik sich zählt, so etwas behauptet, hat dieses ein ganz anderes Gewicht. Ich kenne keinen, der sich auf Frey oder Deckert beruft, aber mit Sicherheit werden auch die Rechtsextremisten sich jetzt auf Walser berufen.

Nur damit Herr Walser und andere in ihrem Selbstbefinden nicht gestört werden und ihren Seelenfrieden finden können und der Eindruck des Instrumentalisierens nicht entsteht, kann man nicht darauf verzichten, Filme über die Schande zu zeigen. Da ich davon ausgehe, daß Walser, genau wie ich, nicht einer „Kollektivschuld“ das Wort redet, verstehe ich nicht, warum sich Walser beim Anschauen dieser Filme als Beschuldigter attackiert fühlt.

Der Begriff „Auschwitz“ ist keine Drohroutine oder ein Einschüchterungsmittel oder auch nur Pflichtübung. Wenn Walser darin eine „Moralkeule“ sieht, so hat er vielleicht sogar recht, denn man kann, soll und muß aus „Auschwitz“ Moral lernen, sollte es allerdings nicht als Keule betrachten. Ich muß unterstellen, daß es laut Walser möglicherweise nötig ist, die Moral als Keule zu benutzen, weil manche sie sonst vielleicht nicht lernen wollen.

Man kann zu dem Holocaust-Mahnmal in dieser oder jener Form unterschiedlicher Auffassung sein, und man kann auch überhaupt gegen die Errichtung eines solchen Mahnmals sein. Auf keinen Fall darf man den Entwurf, auch nicht dichterisch, als Alptraum bezeichnen, und schon gar nicht als Monumentalisierung der Schande. Die Schande war monumental und wird nicht erst durch ein Mahnmal monumentalisiert.

Diese Teile seiner Rede sind eines Friedenspreisträgers unwürdig. Was ich von der Rede halte, habe ich bereits zum Ausdruck gebracht. Dieser Trend in der Rede Walsers ist neuerdings deutlich spürbar. Der intellektuelle Nationalismus nimmt zu und ist nicht ganz frei von unterschwelligem Antisemitismus. Besonders irritiert bin ich über eine ganze Reihe von Zuschriften, die überrascht waren, daß ich Walser so kritisiere, denn dieser habe doch bloß das ausgesprochen, was die meisten ohnehin dächten. Walser und vielen geht es dabei auch um eine „Normalität“. Ich weiß nicht, was sie darunter verstehen. Für mich ist Normalität, daß zum Beispiel Juden glauben, wieder in Deutschland leben zu können, daß sich Juden im gesellschaftlichen wie im politischen Leben engagieren und daß wir eine Demokratie haben, wie es sie auf deutschem Boden nicht gegeben hat. „Normalität“ kann aber nicht bedeuten, die Erinnerung zu verdrängen und mit neuen Antisemitismen und einem neuen Rassismus, wie er bei rechtsextremen Parteien zum Tragen kommt, zu leben. []

Wir in der jüdischen Gemeinschaft haben von Kindheit an gelernt, daß das Erinnern ein wichtiger Bestandteil unserer Geschichte ist. Schon im Talmud heißt es: „Das Geheimnis der Erlösung ist die Erinnerung“. [] Wir sind es den Opfern der Shoah schuldig, ihrer nicht zu vergessen! Wer diese Opfer vergißt, tötet sie noch einmal!

Quelle: Ignatz Bubis, „Gedenkrede zur Pogromnacht am 9. November 1938“, Süddeutsche Zeitung, 10. November 1998.