Kurzbeschreibung

Nach Fertigstellung der Konstruktion von Peter Eisenmans Holocaust-Mahnmal in Berlin drückt der jüdische Schriftsteller Rafael Seligmann sein Unbehagen über das Bemühen deutscher Intellektueller aus, die Schuld ihres Landes wiedergutzumachen, indem sie sich den Bau einer massiven Installation von etwa 2700 Stelen leisten, die das jüdische Leiden in den Vordergrund rückt.

Ein jüdischer Schriftsteller kritisiert das Holocaust-Mahnmal (19. Dezember 2004)

  • Rafael Seligman

Quelle

Versiegelter Stein

Gefühle lassen sich nicht verordnen. Rafael Seligmann über Peter Eisenmans Stelenfeld.

Die letzte, die 2712. Stele des Mahnmals für die ermordeten Juden Europas ist gesetzt. Zeit für eine Begehung der Gedenkstätte in Berlin. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hatte den Lesern der Bild-Zeitung seine Impressionen vermittelt: „Dieses Denkmal eröffnet beinahe lautlos die Möglichkeit, eine persönliche emotionale Beziehung aufzubauen – zum Stelenfeld und zu dem, wofür es steht: dem Völkermord an den Juden Europas.“

Das ist anmaßend. Thierse steht für viele allzu wohlmeinende, doch zu kurz denkende Deutsche, die sich nicht mit einer nationalen Verantwortung Deutschlands am Völkermord begnügen wollen. Es dürstet sie vielmehr nach Schuld, von der sie als Nachkommen frei sind, und nach großen Gefühlen. Das führt sie zum Bedürfnis, dem Völkermord nachzuspüren. Lea Rosh bekannte einst gegenüber der Journalistin Gabriele Riedle, sie könne sich vorstellen, umgebracht zu werden. Das ist schamlos. Kein Lebender kann sich den Tod vorstellen – schon gar nicht die eigene Ermordung.

Lea Rosh organisierte den „Förderkreis zur Errichtung des Denkmals für die Ermordeten Juden Europas“. Ihre panzerbrechende Energie brachte das Projekt auf den Weg; zwang Abgeordnete und Bundesregierung, dem Bau des Monuments zuzustimmen und die nötigen Gelder zur Verfügung zu stellen. Was waren die Motive der Berliner Journalistin?

„Es hat mich immer auch getröstet, mich sogar nach Berlin zurückgeholt, daß sich hier die Wunden des Krieges nicht schlossen.“ Dieser Tröstung mußte Lea Rosh nach dem Fall der Mauer und dem allmählichen Zusammenwachsen der deutschen Hauptstadt entsagen. Konsequent forderte sie daher Bund, Länder und die Stadt Berlin dazu auf, „endlich für die Millionen ermordeter Juden ein Mahnmal in Berlin zu errichten . . . um in aller Öffentlichkeit zu dokumentieren, daß wir die Last unserer Geschichte annehmen, daß wir aber ein neues Kapitel in dieser unserer Geschichte zu schreiben gedenken.“

Nun ist Deutschland dank Lea Rosh und ihrer Mitstreiter fast am Schreib- und Bauziel. Das Mahnmal am Brandenburger Tor steht vor seiner Vollendung. Es ist in seinen Ausmaßen gewaltig. Rosh argumentierte, schließlich sei auch der Holocaust gewaltig gewesen. Auch der Architekt Peter Eisenman meint, den Deutschen die Einsamkeit und Verlorenheit der Opfer vorführen zu müssen.

Auf dem Gelände empfängt mich Hans Haverkampf, der Geschäftsführer der Stiftung für die Ermordeten Juden. Ein rechtschaffener Betriebswirt. Auf dem Weg zum Stelenfeld erläutert er mir architektonische Feinheiten. Ich erinnere mich an einen früheren Besuch mit einer Sinti-Frau auf der Baustelle. Sie wünschte sich vom Herzen, das Mahnmal wäre allen Opfergruppen gewidmet. Auf meine Frage, weshalb die Stiftung es nicht über sich gebracht habe, auch die anderen Verfolgten der Nazis einzubeziehen, gerät Haverkampf auf intellektuellen Schleuderkurs. Man könne nicht alle Kriegstoten über einen Kamm scheren. Nein. Aber hätten Zigeuner nicht ebenso gelitten wie Juden? Sind sie nicht in Auschwitz ebenso umgebracht worden wie die Juden? Der Geschäftsführer kämpft ebenso vergeblich gegen die Logik eines ungeteilten Humanismus wie zuvor der Historiker Eberhard Jäckel.

Ich begebe mich in den grauen, gewollt schlingernden Betonwald. Befühle den nassen, gegen Schmierereien Degussa-versiegelten Stein. Nicht die Architektur bedrückt mich, vielmehr die zur Hartherzigkeit geronnene Verschlossenheit der Shoah-Zeloten. Männer und Frauen wie Rosh, Jäckel, Eisenman, die das Gedenken an die Opfer zu monopolisieren trachten. Und zu selektieren! War es nicht schlimm genug, daß die Nazis ihre selbsterwählten Opfer von den noch am Leben Gelassenen trennten? Besitzen wir heute das Recht, darüber zu entscheiden, wessen wo gedacht wird? Zählt ein ermordeter Behinderter weniger als die hochgebildete Edith Stein?

Unter dem Stelenfeld wird der Ort des Gedenkens ausgebaut. Ich erhalte erneut lange Erklärungen über „hervorragende“ bautechnische Leistungen und ein modernes Museumskonzept. Neue Schreckensbilder werden vorbereitet. Fehlt es daran wirklich in Berlin, wo neben der Wannseevilla, in der am 20. Januar 1942 die Shoah organisiert wurde, zahlreiche Gedenkstädten die Bewohner und Besucher der Hauptstadt zum Nachdenken bringen?

Das immense zentrale Mahnmal wurde, anders als die lokalen Gedenkplätze, über die Köpfe der Berliner Bevölkerung vom Bundestag beschlossen. Die Abgeordneten wollten im Ausland nicht als Antisemiten gelten. Gedenken, Betroffenheit, Gefühle kann man nicht verordnen. Jetzt gilt es, mit dem Denkmal zu leben. Die Menschen dafür zu gewinnen.

Quelle: Rafael Seligmann, „Versiegelter Stein“, Welt am Sonntag, 19. Dezember 2004.