Kurzbeschreibung

Als Bestandteil einer Reform der Vereinten Nationen strebte die rot-grüne Regierung einen ständigen Sitz für Deutschland im Sicherheitsrat an. Die Reform scheiterte jedoch unter anderem am Widerstand der Vereinigten Staaten von Amerika. Kurz vor den entscheidenden Verhandlungen werden die Argumente für und wider eine deutsche Mitgliedschaft im Sicherheitsrat erörtert.

Deutschland und die UNO (7. Juli 2005)

  • Thomas Kleine-Brockhoff
  • Matthias Nass

Quelle

Soll Deutschland im UN-Sicherheitsrat sitzen?

Pro: Matthias Nass. Contra: Thomas Kleine-Brockhoff

Pro: Berlin ist ein verlässlicher Partner und hat den Ratssitz verdient. Von Matthias Nass

In wenigen Tagen wird die Generalversammlung der Vereinten Nationen über eine Erweiterung des UN-Sicherheitsrates abstimmen. Mit Brasilien, Indien und Japan hat sich Deutschland zur „Gruppe der Vier“ (G4) zusammengetan und kandidiert für einen ständigen Sitz in diesem wichtigsten Gremium der Weltorganisation. Es ist, wie Volker Rühe, der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses im Bundestag, sagte, „der richtige Zeitpunkt und das richtige Ziel“.

Eine Reform – seit Jahren überfällig – ist zum Greifen nahe. Denn die Zusammensetzung des Sicherheitsrats spiegelt die Welt von 1945 wider, nicht die politische Wirklichkeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Seinen Kern bilden seit sechzig Jahren unverändert die „ständigen Fünf“: USA, Großbritannien, Frankreich, Russland und China – die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. Ganze Kontinente, wie Afrika und Lateinamerika, sind nicht durch ständige Mitglieder vertreten, das wirtschaftlich aufstrebende Asien ist mit nur einem Sitz erbärmlich unterrepräsentiert. In seiner heutigen Form ist der Sicherheitsrat ein Anachronismus.

Ohne Repräsentativität keine Legitimität. Die aber braucht ein Sicherheitsrat, der nach der UN-Charta das letzte Wort hat über Krieg und Frieden. Und der zunehmend Völkerrecht setzt. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 legte der Rat allen Mitgliedern im Kampf gegen den Terrorismus konkrete Pflichten auf, etwa bei der Überwachung der internationalen Finanzströme. Der Rat muss erweitert, seine Legitimität gestärkt werden – nicht um den Ehrgeiz von Möchtegern-Großmächten zu befriedigen, sondern weil eine gemeinsame Bedrohungsanalyse dies gebietet.

Zwei Kriterien hat ein von UN-Generalsekretär Kofi Annan eingesetztes, hochkarätiges Expertengremium für eine Erweiterung des Sicherheitsrates aufgestellt: Zum einen sollten in ihm alle Weltregionen vertreten sein; zum anderen sollten ihm die Staaten angehören, „die den größten Beitrag zu den Vereinten Nationen leisten – finanziell, militärisch und diplomatisch“. Zu diesen Ländern gehört zweifellos Deutschland. Es trägt dazu bei, „die Lücke zwischen Hoffnungen und Leistungen“ (Annan) zu schließen. Mit 8,6 Prozent des UN-Budgets ist sie nach Amerika (22 Prozent) und Japan (19,4) drittgrößter Beitragszahler – vor den ständigen Sicherheitsratsmitgliedern Großbritannien (6,1 Prozent), Frankreich (6,0), China (2,0) und Russland (1,1). Deutschland ist stets ein verlässlicher Zahler gewesen.

Deutschland ist aber auch zu einem der größten Truppensteller geworden. Bundeswehrsoldaten stehen in Afghanistan, im Kosovo und in Bosnien; sie waren an Friedensmissionen in Kambodscha, Somalia und am Persischen Golf beteiligt. Wichtiger noch: Die deutsche Diplomatie hat in jüngerer Zeit zumeist eine konstruktive Rolle gespielt. Sie hat für den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gestritten; sie hat sich für eine Intervention in der sudanesischen Bürgerkriegsprovinz Darfur eingesetzt. Bürgerrechtler und Menschenrechtsgruppen bescheinigen Berlin, glaubwürdig und uneigennützig gehandelt zu haben.

Multilaterales Handeln ist heute Axiom aller deutschen Außenpolitik. Berlin hätte auf die Kandidatur sofort verzichtet, gäbe es die geringste Aussicht, dass Franzosen und Briten ihren ständigen Sitz zugunsten einer EU-Vertretung aufgeben könnten. Nur, die gibt es nicht. Dennoch hat die Bundesregierung noch einmal bekräftigt: Wir räumen unseren Sitz in dem Augenblick, in dem die EU im Sicherheitsrat mit einer Stimme sprechen will und sprechen kann.

Eine Interessenkollision sehen die europäischen Partner in der Berliner Kandidatur jedenfalls nicht. Allein Italien fühlt sich in seinem Stolz verletzt und organisiert mit anderen (Pakistan, Argentinien, Südkorea) im New Yorker „Coffee Club“ den Widerstand gegen die G4. Frankreich und Polen hingegen, unsere wichtigsten Nachbarn, unterstützen den deutschen Wunsch. Sie werden die Resolution zur Erweiterung des Sicherheitsrates als Ko-Sponsoren mit einbringen.

Ein Vetorecht übrigens, dass die bisherigen „ständigen Fünf“ so eifersüchtig verteidigen, beanspruchen die vier nicht. Und das nicht nur, weil sie es ohnehin nicht bekommen würden. Das Veto ist so anachronistisch wie die jetzige Zusammensetzung des Rats, die nur eine einzige Rechtfertigung hat: Die Supermacht Amerika an Bord zu halten, die sich einem Mehrheitsvotum nie unterwerfen würde (siehe Irak), ohne die aber zugleich die Weltorganisation handlungsunfähig bliebe.

Deutschland hat, wie Japan, jahrzehntelang ein Glück im stillen Winkel genossen. Die Erwartungen an das wiedervereinigte Deutschland aber sind gewachsen, wir können uns nicht mehr wegdrücken wie zu Zeiten der Blockkonfrontation.

Seit die Welt nicht mehr in Ost und West geschieden ist, wächst dem Sicherheitsrat immer größere Bedeutung zu. Er tagt heute praktisch in Permanenz als eine Art globales Krisenzentrum. Wer die Vereinten Nationen stärken will, wer sie in die Lage versetzen möchte, den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen, der muss hoffen, dass Deutschland bald seinen Sitz als ständiges Mitglied einnimmt – gemeinsam mit Brasilien, Indien, Japan und vielleicht Südafrika und Ägypten. Erst dann wäre dieser „Welt“-Sicherheitsrat in der Gegenwart angekommen.

Contra: Weniger Menschen, weniger Soldaten: Wir Deutschen sind keine Macht von morgen. Von Thomas Kleine-Brockhoff

Gäbe es tatsächlich die „bezaubernde Jeannie“, jenen Flaschengeist aus der Fernsehserie, die ihrem Meister jeden Wunsch erfüllt, so säße Deutschland morgen schon im Weltsicherheitsrat. Da Wünschen in der realen Welt nicht reicht, stellen sich auf dem Weg nach New York ein paar dornige Fragen: Liegt eine ehrgeizige Kampagne um einen Ratssitz im deutschen Interesse? Ist der Bedarf so dringend, dass er die politischen Kosten wert ist? Verspricht die deutsche Strategie Erfolg oder nur Blamage?

Der beste Satz aus der Bewerbungsmappe lautet: Wer zahlt, schafft an. Deutschland ist mit 8,6 Prozent des UN-Budgets drittgrößter Zahler. Da wird man Mitspracherecht verlangen dürfen. Doch mit diesem scheckbuchdiplomatischen Argument endet auch schon die deutsche Herrlichkeit. Es stimmt zwar, dass der Sicherheitsrat die Machtverhältnisse von 1945 abbildet und nicht die heutigen. Das bedeutet aber nur: Er sollte Mitglieder aus Asien, Afrika oder Südamerika rekrutieren. Schon heute ist Europa überrepräsentiert. Drei der fünf ständigen Mitglieder stammen aus Europa, nämlich England, Frankreich und, zur Hälfte, Russland. Warum noch eine vierte europäische Macht dazukommen soll, bleibt unerfindlich.

Und warum gerade Deutschland? Anders als Indien ist Deutschland keine Macht von morgen. Die Wirtschaft stagniert. Der Anteil am Welthandel sinkt. Genauso die Zahl der Soldaten und der Einwohner. Die Bundesrepublik ist ein schrumpfendes Land mit wachsenden Ambitionen. Staatskunst wäre das kluge Management dieses Spannungsfeldes. Stattdessen geben sich die Advokaten des Ratssitzes wie die Manta-Fahrer der deutschen Außenpolitik. Sie legen den Wagen tiefer, lassen den Motor aufheulen und hoffen, dass niemand merkt, wie wenige PS unter der Haube stecken.

Käme Deutschland in den Rat, wäre es an jeder Entscheidung über Krieg und Frieden beteiligt und müsste für die Folgen Mitverantwortung übernehmen. Das hieße: zahlen und Soldaten schicken. Fürs Militär aber gibt Deutschland so wenig aus wie sonst nur Luxemburg: 1,2 Prozent des Bruttosozialproduktes. Ist die Republik wirklich bereit, die Etats für Entwicklungshilfe und für Verteidigung deutlich aufzustocken, um am Tisch der Großen Platz zu nehmen? Sogar für den ethisch und völkerrechtlich einwandfreien Verteidigungsschlag gegen das afghanische Terroristenregime bedurfte es einer Vertrauensabstimmung im Bundestag, um Truppen zu schicken. Was wird Deutschland in verzwickteren Fällen tun, sollte der Sicherheitsrat zu einer Entscheidung nötigen? Will die Republik tatsächlich jene „Kultur der Zurückhaltung“ aufgeben, auf die sie so stolz ist?

Die Befürworter der Kandidatur wenden ein, ein Verzicht führe zur Gartenzwergoption deutscher Außenpolitik. Doch diese Automatik gibt es nicht. Tatsächlich wird Deutschland in Zukunft mehr Verantwortung übernehmen müssen – auch ohne Ratssitz. Die Regierung kann ihr Engagement dann aber auf Fälle begrenzen, in denen Macht, Mittel und Wille ausreichen und sich zudem mit dem nationalen Interesse kreuzen. Ein Verzicht auf eine Kandidatur entlässt die Republik nicht in die Unverantwortlichkeit, sondern erhöht die Entscheidungsfreiheit deutscher Außenpolitik. Deutschland ist eben keine Welt-, sondern eine Mittelmacht.

Wer sich so weit vorwagt wie jetzt die Bundesregierung, muss sicher sein zu gewinnen. Sonst gliche die Kampagne einem Spiel, an dessen Ende ein dramatischer Prestigeverlust Deutschlands stehen könnte. Der Kanzler schmiegt sich den Russen und Chinesen an, um sie gewogen zu stimmen. Deutschland stützt seine Bewerbung überdies auf eine Koalition der Willigen. Vier Möchtegerns wollen ihre Kräfte vereinen und bündeln doch nur den Widerstand. Japan hat China zum Gegner; Indien bringt Pakistan mit und Brasilien seinen Nachbarn Argentinien als Kontrahenten; gegen Deutschland opponiert ganz offen Italien. Zudem gelten in Europa Schweden, Österreich, Holland und Spanien als Skeptiker. Weitere Staaten halten still und hoffen auf die Blockademacht der anderen. So gefährdet der Alleingang der Bundesregierung ein erstrangiges Ziel deutscher Außenpolitik (die europäische Einigung), um ein zweitrangiges zu erreichen (den Ratssitz).

Drei Großprojekte beschreiben den Weg deutscher Außenpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg: Westbindung, Ostpolitik und Einheit. Alle wurden zum Erfolg, weil Amerika sie unterstützte. Das vierte Großprojekt betreibt die Bundesregierung ohne oder sogar gegen Amerika. Sie argumentiert, in der Generalversammlung hätten die Vereinigten Staaten nur eine Stimme und seien in der Welt gegenwärtig nicht populär. Halbdistanz, nicht Nähe zu Amerika sichere die Mehrheit. Dahinter scheint mehr zu stecken als nur Wahltaktik. Ein ständiger Sitz würde leicht zum nächsten Schritt der Lösung von Amerika. Es wäre die gravierendste Fehlinterpretation deutscher Interessen. Sicher und prosperierend wurde die Republik im Konvoi mit den westlichen Bündnispartnern. Kluge Selbstbindung war bis vor kurzem das Geheimnis der Außenpolitik. Was, fragt sich, hat sich plötzlich verändert?

Der Preis für den Sitz des neuen deutschen Selbstbewusstseins ist sehr hoch. Ach, könnte ihn doch Jeannie, der Flaschengeist, wegzaubern.

Quelle: „Soll Deutschland im UN-Sicherheitsrat sitzen? Pro: Matthias Nass; Con: Thomas Kleine-Brockhoff“, Die Zeit, Nr. 28, 7. Juli 2005.