Quelle
Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder vor dem Deutschen Bundestag zum Terrorakt in den USA
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Der gestrige 11. September 2001 wird als ein schwarzer Tag für uns alle in die Geschichte eingehen. Noch heute sind wir fassungslos angesichts eines nie da gewesenen Terroranschlags auf das, was unsere Welt im Innersten zusammenhält.
Wir wissen noch nicht, wer hinter dieser Kriegserklärung an die zivilisierte Völkergemeinschaft steht. Wir wissen noch nicht einmal, wie viel Tausende ganz und gar unschuldige Menschen den feigen Attentaten zum Opfer gefallen sind. Wir wissen und erfahren aber: Jetzt geht es darum, unser Mitgefühl, unsere Solidarität zu zeigen: Solidarität mit der Bevölkerung der Vereinigten Staaten von Amerika, und zwar Solidarität aller, die für Frieden und Freiheit einstehen, in Deutschland, in Europa, überall auf der Welt.
2000 Menschen haben sich gestern Abend zu einer spontanen Beileidskundgebung und zu einem Gottesdienst im Berliner Dom versammelt. Im Anschluss an diese Sitzung des Deutschen Bundestages wird ein ökumenischer Trauergottesdienst in der Sankt-Hedwigs-Kathedrale stattfinden.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände haben dazu aufgerufen, am Donnerstag um 10 Uhr für fünf Minuten in der Arbeit innezuhalten. Die Bundesregierung wird diesem Aufruf für die Institutionen des Bundes folgen.
Meine Damen und Herren, ich habe dem amerikanischen Präsidenten das tief empfundene Beileid des gesamten deutschen Volkes ausgesprochen. Ich habe ihm auch die uneingeschränkte – ich betone: die uneingeschränkte – Solidarität Deutschlands zugesichert. Ich bin sicher, unser aller Gedanken sind bei den Opfern und ihren Angehörigen. Ihnen gilt unser Mitgefühl, unsere ganze Anteilnahme.
Ich möchte hier in Anwesenheit des neuen amerikanischen Botschafters Dan Coats noch einmal ausdrücklich versichern: Die Menschen in Deutschland stehen in dieser schweren Stunde fest an der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika.
Selbstverständlich bieten wir den Bürgern und Behörden der Vereinigten Staaten von Amerika jede gewünschte Hilfe an, natürlich auch bei der Ermittlung und Verfolgung der Urheber und Drahtzieher dieser niederträchtigen Attentate.
Bei meinem Gespräch mit den Partei- und Fraktionsvorsitzenden am gestrigen Abend bestand völlige Einmütigkeit darüber, dass diese außergewöhnliche Situation das Zusammenstehen aller Demokraten erfordert. Die gestrigen Anschläge in New York und Washington sind nicht nur ein Angriff auf die Vereinigten Staaten von Amerika; sie sind eine Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt. Diese Art von terroristischer Gewalt, das wahllose Auslöschen unschuldiger Menschenleben stellt die Grundregeln unserer Zivilisation infrage. Sie bedroht unmittelbar die Prinzipien menschlichen Zusammenlebens in Freiheit und Sicherheit, all das also, was in Generationen aufgebaut wurde. Gemeinsam werden wir diese Werte – sei es in Amerika, sei es in Europa oder wo auch immer in der Welt – nicht zerstören lassen.
In Wirklichkeit – das zeigt sich immer mehr – sind wir bereits eine Welt. Deshalb sind die Anschläge in New York, dem Sitz der Vereinten Nationen, und in Washington gegen uns alle gerichtet. Der gestrige terroristische Angriff hat uns noch einmal vor Augen geführt: Sicherheit ist in unserer Welt nicht teilbar. Sie ist nur zu erreichen, wenn wir noch enger für unsere Werte zusammenstehen und bei ihrer Durchsetzung zusammenarbeiten.
Wir müssen nun rasch noch wirksamere Maßnahmen ergreifen, um dem Terrorismus weltweit den Nährboden zu entziehen. Es hat zu gelten: Wer Terroristen hilft oder sie schützt, verstößt gegen alle fundamentalen Werte des Zusammenlebens der Völker. Ich habe noch gestern Abend mit dem französischen Staatspräsidenten Chirac und Ministerpräsident Jospin, mit dem britischen Premierminister Blair und dem russischen Präsidenten Putin gesprochen. Wir sind uns in der Bewertung einig, dass diese Terrorakte eine Kriegserklärung an die freie Welt bedeuten.
Die Außenminister der Europäischen Union werden noch heute zu einer Sondersitzung zusammentreten. Danach wird es notwendig sein, dass die Europäische Union auf höchster Ebene ihre Solidarität zum Ausdruck bringt. Ich habe den amtierenden Ratspräsidenten der Europäischen Union, den belgischen Ministerpräsidenten Verhofstadt, gebeten, eine entsprechende Initiative zu ergreifen.
Viele Menschen werden sich fragen: Was bedeuten diese Anschläge für uns in Deutschland? Ich habe gestern Abend unverzüglich eine Sitzung des Bundessicherheitsrates einberufen. Wir haben auf der Grundlage der uns zugänglichen Informationen die Lage eingehend analysiert. Derzeit liegen keine Hinweise auf eine außerordentliche Bedrohung der Sicherheit unseres Landes vor. Gleichwohl haben wir zusätzliche Maßnahmen ergriffen, die zum Schutz der Menschen in unserem Land erforderlich sind. Das betrifft insbesondere die Sicherheit des Luftraums und des Flugverkehrs sowie den Schutz amerikanischer und anderer herausgehobener Einrichtungen.
Darüber hinaus werden wir gemeinsam überlegen müssen, welche längerfristigen Konsequenzen aus diesen fürchterlichen Anschlägen zu ziehen sind. Der Bundessicherheitsrat wird heute Vormittag zu einer erneuten Sitzung zusammenkommen. Es ist selbstverständlich, dass wir alle Fraktionen des Deutschen Bundestages, die Vorsitzenden der politischen Parteien, aber auch die Öffentlichkeit über die weiteren Entwicklungen informieren werden. Die nächste Unterrichtung der Partei- und Fraktionsvorsitzenden erfolgt, wie verabredet, bereits heute Mittag im Bundeskanzleramt.
Ich bin davon überzeugt: Gemeinsam werden wir uns dieser verbrecherischen Herausforderung gewachsen zeigen. Freiheit und Demokratie, die Werte des friedlichen Zusammenlebens der Menschen und der Völker, werden diese Prüfung bestehen.
Quelle: Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder zu den Anschlägen in den Vereinigten Staaten von Amerika vor dem Deutschen Bundestag am 12. September 2001 in Berlin, Bulletin [Presse- und Informationsamt], Nr. 58-1 vom 12. September 2001.