Quelle
„Ein schwerer Fehler von historischem Ausmaß“: Libyen-Krise lässt Berlin isoliert zurück
Er hat diese Geschichte schon oft genug erzählt, aber sie ist so bewegend, dass er nicht müde wird, sie zu erzählen.
Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle erzählte die Geschichte am Freitag in der deutschen Kleinstadt Horb am Neckar im Südwesten Baden-Württembergs noch einmal. Er erzählte, wie er in einer Limousine auf den Tahrir-Platz in Kairo fuhr und die Menschen auf ihn zuliefen, ihn umarmen wollten und er sich in ihrer Umarmung fast erdrückt fühlte. Diese Begeisterung habe sich nicht gegen ihn persönlich als deutschen Außenminister gerichtet, sondern gegen das ganze Land, sagt er.
Aber die Geschichte sollte natürlich auch dazu dienen, ihn gut aussehen zu lassen. Westerwelle erzählte seinen Zuhörern, wie die Menge skandierte: „Es lebe Ägypten, es lebe Deutschland!“ Dann rief er den Zuhörern zu: „Sie können stolz auf dieses Land sein!“
[…]
Die falschen Freunde
Die allgemeine Bestürzung über die Entscheidung Deutschlands, sich bei der Abstimmung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen über die Einrichtung einer Flugverbotszone über Libyen der Stimme zu enthalten, wirft die Frage auf, ob diese Regierung in der Außenpolitik einfach überfordert ist. Es sieht ganz danach aus. Zwar ist es angesichts der chaotischen Lage in Libyen zweifellos vertretbar, sich gegen eine Beteiligung deutscher Truppen an einem Militäreinsatz in Libyen zu entscheiden. Aber bedeutet dies, dass sich Deutschland bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat gegen seine Verbündeten USA, Frankreich und Großbritannien und auf der Seite Russlands und Chinas enthalten musste?
„Die Entscheidung ist ein schwerwiegender Fehler von historischem Ausmaß mit unausweichlichen Folgen“, sagt der ehemalige Bundesverteidigungsminister Volker Rühe. Als er 1963 in die CDU eintrat, sei er vor allem durch die außenpolitischen Positionen der Partei und ihr Streben nach einer engen Bindung in Europa und in der NATO motiviert gewesen. Jetzt sagt er: „Die Grundpfeiler der konservativen Politik werden durch eine Mischung aus Orientierungslosigkeit und Inkompetenz zerstört.“ Rühes Fazit ist also, dass Merkel und Westerwelle inkompetent sind.
Die Deutschen hätten sich für eine andere Lösung entscheiden können: die Option „Ja, aber“. Das hätte bedeutet, dass sie für die Resolution gestimmt hätten, aber ohne – oder mit minimaler – militärischer Beteiligung. Doch Merkel und Westerwelle entschieden sich stattdessen für ein heimliches „Nein“, was im Grunde genommen das bedeutet, was eine Enthaltung bedeutet, wenn sie von einem Sicherheitsratsmitglied ohne Vetorecht abgegeben wird. Die drei für die deutsche Außenpolitik verantwortlichen Kabinettsmitglieder – Außenminister Westerwelle, Verteidigungsminister Thomas de Maizière und Entwicklungsminister Dirk Niebel – schlugen daraufhin einen eher schroffen Ton gegenüber den Verbündeten an, welche die Flugverbotszone durchsetzen. Erschwerend kam hinzu, dass die Politik der Bundesregierung nicht konsequent genug war. Merkel sagte, dass die „Resolution, die verabschiedet wurde, nun auch unsere Resolution ist“. Deutschland zog Kriegsschiffe ab, die derzeit im Mittelmeer operieren, billigte jedoch einen Plan zur Entsendung von AWACS-Überwachungsflugzeugen nach Afghanistan, um NATO-Kapazitäten für die Flugverbotszonen-Mission freizusetzen.
Intensive Verärgerung
All das scheint nicht besonders geschickt zu sein – aber es geht um mehr als nur um diplomatisches Geschick. Westerwelle und die Kanzlerin sind dabei, das Fundament der deutschen Außenpolitik, nämlich die feste Einbindung in den Westen, aufzulösen.
Die Stimmenthaltung im Sicherheitsrat hat bei den traditionellen Partnern Deutschlands große Verärgerung und Verwirrung ausgelöst, wie Westerwelle am Montag vergangener Woche bei einem Treffen der Außenminister der Europäischen Union in Brüssel feststellte. Er wurde von einigen seiner Amtskollegen gefragt, warum Deutschland sich der Stimme enthalten habe. Der französische Außenminister Alain Juppé konfrontierte Westerwelle direkt. „Wenn wir nicht eingegriffen hätten, hätte es wahrscheinlich ein Blutbad in Benghazi gegeben“, sagte er. Westerwelle entgegnete, der Verlauf des Militäreinsatzes habe seine Skepsis nur noch verstärkt.
Zur Untermauerung seiner Argumente berief sich Westerwelle auf den Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Moussa, der am Vortag mit den Worten zitiert worden war, die Luftangriffe hätten zu zivilen Opfern geführt und die UN-Resolution sei über das hinausgegangen, was die Arabische Liga genehmigt habe. Der deutsche Außenminister verfügte jedoch nicht über aktuelle Informationen. Seine dänische Amtskollegin Lene Espersen wies ihn darauf hin, dass Moussa seine Aussage in der Zwischenzeit korrigiert habe. Sie zitierte eine Pressekonferenz, in der Moussa sagte: „Wir sind der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates verpflichtet. Wir haben keine Einwände gegen diese Entscheidung.“
Westerwelle zeigte sich davon unbeeindruckt. Die EU solle sich auf die humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung konzentrieren, sagte er. Juppé konterte mit den Worten: „Die EU kann sich nicht nur auf humanitäre Hilfe beschränken, sie muss auch eigene Interventionskapazitäten aufbauen.“
[…]
Abkehr von der traditionellen Außenpolitik
Interne Querelen spalten den Westen, und das liegt zu einem großen Teil am deutschen Außenminister. Westerwelles Entscheidung, sich bei der Resolution des UN-Sicherheitsrats zu enthalten, wurde gegen den Rat vieler seiner Mitarbeiter im Außenministerium getroffen, die auf die Option „Ja, aber“ gedrängt hatten.
Die deutsche Enthaltung bei der Abstimmung spiegelt nicht nur die Skepsis der Bundesregierung gegenüber dem Libyen-Einsatz wider. Sie ist auch Ausdruck einer neuen außenpolitischen Doktrin, die sich Westerwelle zu eigen gemacht hat. Damit werden die Grundüberzeugungen, auf denen die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland in den letzten 60 Jahren beruhte, über Bord geworfen. Merkel unterstützt seine Position. Sie findet es auch völlig in Ordnung, dass sich Deutschland gelegentlich gegen alle seine wichtigsten europäischen und NATO-Verbündeten stellt.
Bisher haben alle deutschen Nachkriegsregierungen an dem Grundsatz festgehalten, dass Deutschland sich nicht in die westliche Isolation begeben darf. In den letzten Jahrzehnten haben die Deutschen versucht, mit Frankreich und den USA eng verbündet zu bleiben. Dies war ein ebenso wichtiger Eckpfeiler der deutschen außenpolitischen Identität wie die Freundschaft zu Israel. Wenn dies in Extremsituationen nicht möglich war, wie etwa beim US-Angriff auf den Irak 2003, dann legten die Deutschen großen Wert darauf, wenigstens die Franzosen auf ihrer Seite zu haben.
Westerwelle will nicht, dass Deutschland das westliche Bündnis verlässt, aber es hat für ihn nicht die gleiche Bedeutung wie für frühere Außenminister. Solidarität mit Frankreich und den USA zu zeigen, ist für Westerwelle kein Selbstzweck. Merkel vertritt ähnliche Ansichten und lässt Westerwelle freie Hand. Die Kanzlerin ist der Meinung, dass Deutschland notfalls seinen eigenen Weg gehen kann.
Westerwelle hält den traditionellen deutschen Zwang zur Loyalität gegenüber den westlichen Verbündeten für überholt. Die Welt habe sich verändert, und es gebe eine neue globale Sicherheitsarchitektur, auch wenn viele Länder dies noch nicht begriffen hätten. „Deutschland hat sich nicht isoliert“, sagt Westerwelle. Er verweist darauf, dass sich nicht nur China und Russland bei der Abstimmung im Sicherheitsrat enthalten haben, sondern auch Indien und Brasilien. Was ist so schlimm daran, sich mit den Franzosen anzulegen, fragt er, wenn man die Brasilianer auf seiner Seite hat? Westerwelle spricht gerne von „strategischen Partnern“.
Bruch mit der Vergangenheit
Das ist ein Bruch mit der Tradition. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Untergang des Dritten Reiches erwies sich Deutschland als verlässlicher Verbündeter, was ihm Respekt und Anerkennung bei seinen ehemaligen Feinden einbrachte. Man erwartete, dass Berlin der westlichen Linie folgen würde; niemand konnte sich vorstellen, dass es einen Alleingang wagen würde. Doch das ändert sich jetzt.
Die ersten Anzeichen dieser neuen Politik zeigte Westerwelle bereits kurz nach seinem Amtsantritt als Außenminister im Oktober 2009. Eines seiner zentralen Themen war der Abzug der letzten US-Atomsprengköpfe aus Deutschland. Diese Raketen haben nur noch symbolische Bedeutung und stehen für das enge politische und militärische Bündnis zwischen Deutschland und den USA. Doch für Westerwelle war es wichtiger, mit der Abrüstung politisch zu punkten als mit den bilateralen Beziehungen.
Die Amerikaner waren verärgert. Sie fragten sich, warum der Außenminister dieses Symbol der deutschen Beteiligung am nuklearen Schutzschirm unbedingt loswerden wollte. Es dauerte lange, bis die Diplomaten des Auswärtigen Amtes Westerwelle davon überzeugen konnten, seine Forderungen nicht zu wiederholen, zumindest nicht in dieser lautstarken Form.
Quelle: "'Ein schwerer Fehler von historischem Ausmaß': Libyen-Krise lässt Berlin isoliert zurück", Spiegel Online, 28. März 2011, http://www.spiegel.de/international/germany/a-serious-mistake-of-historic-dimensions-libya-crisis-leaves-berlin-isolated-a-753498.html