Kurzbeschreibung

Der Plan der PDS-Regierung, die verhasste Staatssicherheit lediglich umzustrukturieren anstatt sie aufzulösen, löst die Erstürmung der Stasi-Zentrale durch wütende Bürger aus, die die vollkommene Auflösung der Staatssicherheit erzwingen und die Erhaltung des umfangreichen Repressionsarchivs fordern. Die folgende Schilderung der Erstürmung der Stasi-Zentrale erschien in Neues Deutschland.

Die Erstürmung der Stasi-Zentrale (16. Januar 1990)

  • Klaus Morgenstern
  • Wolfgang Richter

Quelle

Erst gestürmt, dann verwüstet

Aufrufe zur Besonnenheit gingen unter/ Hans Modrow appellierte an Vernunft

Von unseren Berichterstattern Klaus Morgenstern und Wolfgang Richter

Berlin. Um 17 Uhr kletterten die ersten Demonstranten über die Tore. Unter dem Druck der Massen öffneten die Volkspolizisten die stählernen Eingangstore zum Hauptsitz des ehemaligen Amtes für Nationale Sicherheit in Berlin. Zehntausende stürmten durch die Eingänge in der Rusche- und Normannenstraße. Auf Transparenten und in Sprechchören gaben sie ihrer Empörung zu der zögerlichen Auflösung des Sicherheitsdienstes in Berlin Ausdruck und skandierten „Stasi in den Tagebau“, „Stasi raus“, „Für die Stasi kein Pardon, sonst kracht’s im Karton“.

Zu einer friedlichen „Demonstration gegen Stasi und Nasi“ hatte bereits letzten Donnerstag bei der Demonstration vor der Volkskammer das Neue Forum aufgerufen. Aber im Verlauf der Montagsereignisse entglitt den Veranstaltern zunehmend die Kontrolle.

Die Spitze tobte auf das Haus 18 – ein Büro- und Versorgungstrakt – zu. Steine zertrümmerten die Glasfront des Eingangs. Damit war der Weg in das Gebäude frei. Johlend stürmte eine große Menge in das mehrgeschossige Haus. Papiere und Möbel flogen aus zerschlagenen Fenstern auf das Pflaster. Randalierer verwüsteten die Räume und plünderten in Büro- und Diensträumen, in der Kantine, in einem Buchladen und in der Theaterkasse, was nicht niet- und nagelfest war.

Aufforderungen zu Gewaltlosigkeit und Besonnenheit blieben lange Zeit ungehört. Ohne Wirkung zunächst auch die mahnenden Aufrufe von Mitgliedern eines Bürgerkomitees, das schon am Nachmittag in Sicherheitspartnerschaft mit der Volkspolizei und der Militärstaatsanwaltschaft begonnen hatte, Räume des großen Gebäudekomplexes zu sichern. Die Komiteemitglieder konnten sich auf Erfahrungen stützen, die sie bei der Auflösung von Ämtern in ihren Heimatbezirken bereits gesammelt hatten. Das Bürgerkomitee rief mehrfach auf, die Sicherheitspartnerschaft aufrechtzuerhalten. Bis zum Mittwoch wolle es das Objekt rund um die Uhr besetzt halten.

Im Haus 18 versuchten Organisatoren gemeinsam mit Demonstranten, denen die Zerstörungswut zu weit ging, für Ordnung zu sorgen. Eindringlich forderten sie immer wieder zum Verlassen des Gebäudes auf und kontrollierten Randalierer. Sie nahmen ihnen versteckt mitgeführtes Inventar wie Bücher, Disketten, Telefone, Uniformstücke, Unterlagen ab. Die so besonnen Handelnden mußten sich Beschimpfungen gefallen lassen. Zum Beispiel: „Seid ihr die neue Stasi?“ oder „40 Jahre haben die uns verfolgt, jetzt können wir hier auch alles zerkloppen“. Andere hatten mit Ölfarbe und Spraydosen die Wände beschmiert. Losungen auch an den Außenwänden und Fenstern. Da stand nebeneinander am Haus 21: „Wir brauchen keinen Mann im Ohr“ und „Der VEB Steremat benötigt dringend Dreher, Telefon 27 14/221“. Im Innenhof und vor den beiden Eingängen waren symbolisch Mauern errichtet worden.

DDR-Ministerpräsident Hans Modrow hatte sich kurz nach Bekanntwerden der Ereignisse zusammen mit SPD-Sprecher Ibrahim Böhme, Pfarrer Rainer Eppelmann vom Demokratischen Aufbruch und dem Pressesprecher von Demokratie Jetzt, Konrad Weiß, unverzüglich zum Ort des Geschehens begeben. Vor dem Gebäudekomplex in der Normannenstraße rief er die Demonstranten zu Ordnung und Besonnenheit auf. „Ich bin hierhergekommen in meiner Verantwortung als Ministerpräsident unseres Landes.“ Der Aufbruch, der im November begonnen habe, solle gewaltlos bleiben. Er habe volles Verständnis, sagte er, wenn Spitzel verurteilt würden. Doch Gewaltlosigkeit und Besonnenheit gehörten zusammen. Andersdenkende werde es in jeder Demokratie geben. Der demokratische Aufbruch dürfe durch niemanden gefährdet werden. Wer hier etwas kaputtmache, müsse wissen, daß er sich selber schade.

Quelle: Klaus Morgenstern und Wolfgang Richter, „Erst gestürmt, dann verwüstet, Aufrufe zur Besonnenheit gingen unter/ Hans Modrow appellierte an Vernunft“, Neues Deutschland, 16. Januar 1990.