Quelle
/Sprecher: Die Zentrale des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes in
Ost-Berlin ist heute von einer aufgebrachten Menschenmenge gestürmt
worden. Zehntausende drangen am Nachmittag in das Gebäude ein und
richteten schwere Verwüstungen an. Vorübergehend spitzte sich die Lage
so sehr zu, dass das laufende Programm des DDR Fernsehens unterbrochen
wurde, um einen Aufruf der Regierung zur Besonnenheit
auszustrahlen.
Inzwischen scheint sich die Situation wieder
entspannt zu haben, nachdem Ministerpräsident Modrow an Ort und Stelle
zu den Demonstranten sprach. Horst Hano berichtet.
/Reporter: Kurz
nach fünf wurde das Tor aufgebrochen, die Zentrale des
Staatssicherheitsdienstes, das Zentrum der flächendeckenden Überwachung
und Bespitzelung, wurde gestürmt.
"Stasi raus!",
"Stasi in die Produktion!", riefen die Demonstranten. Und
jetzt kommt das Volk. Für die noch verbliebenen Mitarbeiter der
Staatssicherheit war heute der letzte Arbeitstag, bis nachmittags um
drei hatten alle das Gebäude verlassen.
Keine Gewalt, forderten die
Bürgerkomitees, Veranstalter der Demonstration vor der Stasi
Zentrale.
Doch die Menge war nicht mehr zu halten. Fensterscheiben
gingen zu Bruch, Türen wurden eingetreten, die Räume der verhassten
Geheimpolizei wurden geöffnet und durchwühlt. An die wichtigen Akten,
die Aufschluss geben können über die wahre Arbeit der Stasi, kam die
Menge nicht heran, sie waren, soweit noch vorhanden, in gemeinsamer
Arbeit von der Militärstaatsanwaltschaft und der Volkspolizei schon seit
Anfang Dezember in Sicherheit gebracht worden, so jedenfalls die
offizielle Auskunft.
/Sprecher: Ab morgen, so der Plan, den die
Regierung akzeptiert hat, werden Bürgerkomitees, Volkspolizei und die
Militärstaatsanwaltschaft hier beginnen, gemeinsam die Geschichte des
Ministeriums für Staatssicherheit aufzuarbeiten. Der Aufruf der
DDR-Regierung zur Besonnenheit wurde mehrmals in das laufende
Fernsehprogramm eingeblendet. Hier ein Ausschnitt.
/Sprecher im
DDR-Fernsehen: Die Demokratie, die sich gerade beginnt zu entwickeln,
ist in höchster Gefahr. Die Regierung der Deutschen Demokratischen
Republik ruft alle Bürger auf, in dieser schweren Stunde Ruhe und
Besonnenheit zu bewahren und staatsbürgerliches Bewusstsein zu beweisen.
Die Regierung setzt ihr ganzes Vertrauen in die Verantwortung der Bürger
gegenüber unserem Gemeinwesen.
/Sprecher: Wegen des Sturms auf das
Stasi-Gebäude wurden die Gespräche am Runden Tisch abgebrochen. Die
Regierung hatte am Vormittag den Vertretern der Parteien und
Bürgerbewegungen einen Einblick in den Sicherheitsapparat der alten
Staats- und Parteiführung gegeben. Danach war die DDR immer mehr zu
einem Überwachungsstaat ausgebaut worden. Nach den Angaben der Regierung
hatte der Stasi zuletzt 85.000 hauptamtliche Mitarbeiter und 109.000
Spitzel beschäftigt. Der Sicherheitsdienst sei mit 124.000 Pistolen und
Revolvern und mehr als 76.000 Maschinenpistolen ausgerüstet gewesen. Der
Etat des Sicherheitsministeriums habe im vergangenen Jahr 3,6 Milliarden
Mark betragen.
Zu den heutigen Gesprächen am Runden Tisch Manfred
Dziemballa.
/Reporter: Die Überraschung des Tages:
Ministerpräsident Hans Modrow. Er kam heute zum runden Tisch und machte
Punkte. Der DDR-Bevölkerung präsentierte er sich einmal mehr als
Politiker, der zum Wohl des Landes regiert und nicht im Interesse einer,
seiner Partei, der SED.
Sein Appell: Es lohnt sich, in der DDR zu
bleiben. Und an den runden Tisch gewandt:
/Modrow: Es ist mein
besonderes Anliegen, dass die Regierung mit Ihrer Unterstützung
handlungsfähig bleibt.
/Reporter: Konkrete Vorschläge erwartet
Modrow für sein geplantes Treffen mit Bundeskanzler Kohl. Zahlreiche
Mitglieder des Runden Tisches konnten dem Ministerpräsidenten ihren
Respekt nicht versagen. Der als zögerlich geltende Politiker, heute hat
er versucht, das Heft erneut in die Hand zu nehmen. Das Thema der alten
Staatssicherheit überließ Modrow dann weitgehend seinem
Regierungsbeauftragten Sauer. Was die DDR-Bevölkerung, aber auch die
Journalisten hier zu hören bekamen, überstieg fast das Maß des
Vorstellbaren, lässt nur noch die Deutung zu: Die DDR kam im November
nur knapp an einem Blutbad vorbei.
/Sauer: Mit wachsender
Instabilität der DDR wurde eine Perfektionierung der
Überwachungsmechanismen des Amtes für Staatssicherheit angestrebt und
verwirklicht. Der ehemalige Minister forderte, den wachsenden Einfluss
sogenannter Andersdenkender zurückzudrängen. Deshalb wurde, man muss es
so sagen, eine totale flächendeckende Überwachungsarbeit
angestrebt.
/Reporter: Mitglieder von Bürgerkomitees meinten nach
dem Bericht, auch heute seien nicht alle Fakten auf den Tisch gekommen,
zum Beispiel die Verflechtung der Staatssicherheit mit der SED.
Quelle: Tagesschau vom 15. Januar 1990.
tagesschau.de
https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-ts-49344.html