Kurzbeschreibung

Der damalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber erinnert sich an seine Auswahl als Kanzlerkandidat der CDU/CSU im Jahr 2002, den Wahlkampf und sein Verhältnis zu Gerhard Schröder. Bei der Auszählung der Stimmen erhielt die rot-grüne Koalition genügend Stimmen, um an der Macht zu bleiben. Stoiber war erst das zweite CSU-Mitglied, das für das höchste Staatsamt kandidierte.

Edmund Stoibers Kandidatur als Bundeskanzler im Jahr 2002 (Rückblick, 2013)

Quelle

Als Edmund Stoiber Kanzler werden wollte

2002 wollte die Union Gerhard Schröder (SPD) als Kanzler ablösen, allerdings nicht mit der CDU-Vorsitzenden als Kanzlerkandidatin. Doch dann kam das Hochwasser, erinnert sich Edmund Stoiber.

Eigentlich wäre es mir lieber, andere würden über den Wahlkampf 2002 schreiben. Wenn ich das selbst mache, empfinde ich das als etwas aufgesetzt. Aber nun gut, ich habe mich überreden lassen. Es ist jedenfalls lange her, dass ich Kanzler werden wollte. Elf Jahre. Ich muss überlegen, damit mir wieder alles einfällt. Es ist ja nicht so, dass ich mich ständig damit beschäftige. Ich könnte fast jeden Tag irgendwo auftreten, gerade die Junge Union lädt mich oft ein. Dabei interessieren sich die jungen Leute dafür, wie ich Politik bewerte, was ich über Europa denke. Nach damals fragt selten einer.

Das liegt sicher daran, dass ich nach der Kanzlerkandidatur nicht ausgestiegen bin. Ich war bis 2007 bayerischer Ministerpräsident und bin bis heute ehrenamtlich politisch aktiv. Meinem Nachfolger helfe ich gern im Wahlkampf. Ich meine nicht den Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück, sondern den bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer.

Die Spendenaffäre

Damals ging es mir ein bisschen wie Seehofer 2008. Auch ihm ist in einer sehr schwierigen Situation eine Rolle zugedacht worden. 2001 und 2002 litt die CDU noch unter der Spendenaffäre. Kohl war zurückgetreten, Schäuble auch, danach hatte Angela Merkel die Parteiführung übernommen. Der CDU wurde die moralische Berechtigung abgesprochen, die Bundesregierung zu kritisieren.

Die CSU war dagegen von dieser Affäre nicht betroffen. Es waren Ministerpräsidenten wie Erwin Teufel, Bernhard Vogel, Roland Koch, die mich baten, Kandidat zu werden. Man dachte daran, dass ich 1993 Ministerpräsident wurde, als die CSU nach der Amigo-Affäre bei 38 Prozent lag. Ein Jahr später habe ich die absolute Mehrheit geholt. Jetzt lagen wir auf Bundesebene wieder hinten. Weit hinten. Gerhard Schröder und Joschka Fischer waren Meister des Wortes, Meister der Inszenierung.

Es gab viele, auch in meiner Umgebung, die uns das nicht zugetraut haben. Die prophezeiten, dass wir nicht mehr als 30 Prozent bekommen und damit der CSU Schaden zufügen. Deshalb sei das Risiko der Kanzlerkandidatur für die CSU zu groß. Manchmal höre ich, ich hätte Kanzlerkandidat werden wollen, um der CSU nach Franz Josef Strauß wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Darum ging es nicht. Diese Motivation reicht auch nicht aus. Ein CSU-Kandidat braucht eine Basis in der CDU. Die hatte ich. Und man muss es sich zutrauen. „Ich traue es mir zu“, war meine erste Aussage in der Landtagsfraktion 1993. Sie galt auch 2002.

Frühstück mit Angela Merkel

Natürlich hätte es Angela Merkel gerne gemacht. Sie wollte mit einem neuen Stil antreten. Am Ende sah die CDU-Spitze mit mir die größeren Chancen. Als Merkel und ich uns zum Frühstück bei mir zu Hause in Wolfratshausen getroffen haben, waren wir schon einig, dass sie nicht antritt. Sie wollte dennoch vor der Sitzung des CDU-Bundesvorstands in Magdeburg am 12. Januar mit mir persönlich reden. Zwei Tage zuvor hatte sie angerufen. Mein Terminplan war voll, Neujahrsempfänge waren angesetzt mit Tausenden Menschen. Sie schlug vor, ob wir uns nicht am Flughafen oder in der Staatskanzlei treffen wollen. Aber mir war es wichtig, dass wir uns in Ruhe und außerhalb der Öffentlichkeit besprechen konnten.

Ich habe deshalb das Frühstück vorgeschlagen, und sie kam am Freitag um acht Uhr morgens zu mir. Angela Merkel machte auch deutlich, dass sie als Parteivorsitzende nicht Ministerin in meinem Kabinett werden würde. Ich konnte das nachvollziehen. Am Samstag vor der Bundestagswahl haben wir uns noch einmal auf dem Oktoberfest in München und danach in der Staatskanzlei zur letzten Absprache getroffen.

Im Falle meines Sieges oder meiner Niederlage wollte sie den Fraktionsvorsitz anstreben, sagte sie. Ich habe ihr meine Unterstützung zugesichert. Das hat die Freundschaft zu Friedrich Merz, ihrem Vorgänger, natürlich belastet. Politisch gab es für mich keine Alternative. Heute haben Merz und ich ein sehr gutes Verhältnis. Nur als BVB-Aufsichtsrat ist er oft anderer Meinung als ich im Aufsichtsrat von Bayern München.

Deutschland, der Sanierungsfall

Ich habe Deutschland als Sanierungsfall bezeichnet und mich als eine Art Insolvenzverwalter beworben. Deutschland galt als der kranke Mann Europas. Heute sage ich: Ich habe zwar die Wahl nicht gewonnen, aber meine Kandidatur hat etwas bewegt. Nach seinem Wahlsieg hat Gerhard Schröder die Agenda 2010 entwickelt und umgesetzt.

Das waren Reformen, die den Wahlkampf bestimmt hatten. Arbeitsmarktreformen und Sozialreformen waren die großen Themen. Dafür ist während der Auseinandersetzung ein Bewusstsein entstanden. Anfang dieses Jahres hat mir Schröder einen handschriftlichen Brief geschickt, worin er mich als einzigen Unions-Vertreter zu einer Diskussion zu zehn Jahren Agenda 2010 eingeladen hat. Ich bin gerne gekommen.

Mit unseren Themen lief es erst gut. Mein Schattenkabinett hatte Gewicht, auf Leute wie Schäuble, Merz, Späth, Seehofer hörte man. Dann kamen die Auseinandersetzungen um den Irak-Krieg und das Hochwasser an der Elbe. Heute denke ich, ich hätte da sofort hinfahren sollen. Aber damals stellte sich das anders dar. Der sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt hat mir nicht unbedingt zugeraten, sofort nach Sachsen zu kommen. Ich hatte ja keine Funktion außerhalb Bayerns, ich war doch „nur“ Kanzlerkandidat. Eine Woche vor der Wahl lagen wir dann in den Umfragen das erste Mal hinter Rot-Grün. Was hat das in der Unionsfraktion für eine schlechte Stimmung verursacht! Wenn die Wahl zwei Wochen später stattgefunden hätte, wäre unsere Ausgangsposition wieder besser gewesen. Aber es war, wie es war.

Durchhalteparolen

Als ich am Wahlabend in Berlin ins Flugzeug zurück nach München stieg, war klar, dass es sehr knapp werden würde. In München wurde ich von CSU-Generalsekretär Thomas Goppel informiert, dass es nicht gereicht hat. Natürlich war ich enttäuscht. Aber bei der Feier in der Hanns-Seidel-Stiftung bin ich wie ein Sieger empfangen worden. Wir haben schließlich 3,4 Prozent gegenüber 1998 zugelegt. Es ging für die Union seit 1983 immer bergab. Nur einmal gab es einen Ausreißer nach oben: 2002. Manche sprechen vom Stoiber-Zacken. Ich hoffe, dass nun der Merkel-Zacken kommt. Mein Ausspruch am Wahlabend: „Eins ist klar. Wir haben die Wahl gewonnen“, bezog sich auf dieses Plus. Ich wollte deutlich machen: Wir sind wieder da. Als ich zum Elefantenduell gegangen bin, kam ich an Schröder vorbei. Er saß etwas niedergeschlagen auf seinem Stuhl und sagte: „Jetzt können Sie mal zeigen, was Sie können“. Leider konnte ich es nicht. Eine Hoffnung hatte ich: Rot-Grün hält keine vier Jahre durch. Es ist ja so gekommen. 2005 war vorzeitig Schluss, die Union kehrte nach sieben Jahren mit Angela Merkel in das Kanzleramt zurück.

Gerhard Schröder

Zu Gerhard Schröder habe ich heute ein sehr gutes Verhältnis. Wir kennen einander seit einer Fernsehdebatte 1979. Er war Juso-Vorsitzender und ich CSU-Generalsekretär. Da krachte es. Zwanzig Jahre später trafen wir uns dann zum ersten Kanzlerduell im Fernsehen. Ich habe ihm das Duell vorgeschlagen. Manche fragten mich, ob ich wahnsinnig bin. Der Medienkanzler! Als ich am Abend des Duells am Studio in Berlin-Adlershof eintraf, wurde mir schon ein wenig anders. Diese Hundertschaft an Journalisten, dieses gewaltige Echo! Ich dachte mir, wenn du jetzt einen schweren Fehler machst, dann enttäuscht du so viele, die auf dich bauen. Die Verantwortung war riesig. Aber ich war gut vorbereitet. Mit meinem Team haben wir mögliche Fragen durchgespielt. Ich wurde traktiert und antwortete spontan darauf. Nach dem ersten Duell sah man mich im Vorteil. Nach dem zweiten Schröder.

Insgesamt war der Wahlkampf 2002 spannender als der heute. Wir lagen ja viel näher zusammen. Fast fünf Jahre später, im April 2007, habe ich Schröder zum Geburtstag gratuliert und ihn zur Brotzeit zu mir nach Hause eingeladen. Er kam. Es war ein schönes Treffen. Wir sprachen vor allem über unsere Pläne und die Familie. Die großen politischen Debatten, die lassen wir jetzt andere führen – in der Regel.

Quelle: Edmund Stoiber, „Als Edmund Stoiber Kanzler werden wollte“, Die Welt, 26. August 2013. Online verfügbar unter: https://www.welt.de/politik/deutschland/article119372007/Als-Edmund-Stoiber-Kanzler-werden-wollte.html