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Allensbach-Analyse: Wahlkampf ohne Leidenschaft
Es fehlt das Streitthema, es fehlt das schicksalhafte Moment, es fehlt die Konfrontation unversöhnlicher Gegner, es fehlt der aufwühlende Zukunftsentwurf. Auch die Mehrheit der Bürger empfindet den Wahlkampf als ausgesprochen ruhig.
Selten wurde ein Wahlkampf derart kritisch kommentiert wie dieser. Langweilig, inhaltsarm, konfliktscheu und leidenschaftslos, so lauten die am häufigsten geäußerten Vorwürfe. Ein Gefühl der Kränkung scheint in vielen Kommentaren mitzuschwingen, so als blieben die Parteien ohne Not und völlig unverständlich Medien und Bürgern die Spannung schuldig, die doch jedem Machtkampf wie naturgegeben innewohnen müsste.
Auch die Mehrheit der Bürger empfindet den Wahlkampf als ausgesprochen ruhig, nur 14 Prozent nehmen ihn als harte Auseinandersetzung wahr. 49 Prozent der Bevölkerung empfinden den Wahlkampf als langweilig und inhaltsleer. Im Vorfeld der Bundestagswahl 2002, als dieser Vorwurf ebenfalls im Raum stand, hielten ihn nur 37 Prozent für berechtigt, 38 für unberechtigt.
„Im Schlafwagen an die Macht“
Spannung und das Gefühl des Gefordertseins lassen sich bei Wahlen im Allgemeinen nicht von Wahlkampfkommissionen, Spin-Doctors und Werbeagenturen synthetisch herstellen. Wahlkämpfe setzen auf die besondere politische, ökonomische und gesellschaftliche Ausgangslage auf, die bei jeder Wahl neu und sehr unterschiedlich spannungsgeladen ist. 1998 erwuchs Spannung aus der Erwartung eines Regierungswechsels nach 16 Jahre dauernder CDU-Herrschaft zu einer neuen politischen Konstellation, die schon durch die Etikettierung als „rot-grünes Experiment“ die Aura von Abenteuer ausstrahlte; gleichzeitig adressierte die Schlüsselformel des damaligen Wahlkampfes der SPD, die „Gerechtigkeitslücke“, die Ängste der Bevölkerung vor Sozialstaatsreformen.
2002 stand zunächst ganz im Zeichen der Besorgnis über die stetig steigende Arbeitslosigkeit, wurde jedoch in den letzten Wochen durch den Ausbruch des Irak-Krieges thematisch völlig umgedreht und zu einem Plebiszit über die deutsche Unterstützung für den amerikanischen Vorstoß. 2005 war in vieler Hinsicht eine dramatische Wahl: durch die vorzeitige Resignation der rot-grünen Regierung, die tiefe Unzufriedenheit der Bevölkerung über die wirtschaftliche Lage wie über den Reformkurs und durch die Personenkonstellation, das Duell zwischen Gerhard Schröder und Angela Merkel. Damals kam niemand auf die Idee, den Unionsparteien vorzuwerfen, sie wollten „im Schlafwagen an die Macht“ gelangen. Mit der Ankündigung von Steuererhöhungen und einer Forcierung des Reformkurses überboten CDU und CSU die SPD und erhielten für diese Kühnheit im Wahlkampf viel Anerkennung – und die Quittung der Wähler.
Eine Wahl im Schatten der Krise
Spannung erwuchs bei Bundestagswahlen vor allem aus Ausnahmesituationen, wie sie die erste gesamtdeutsche Wahl darstellte, aus einer krisenhaften Zuspitzung der ökonomischen oder politischen Lage, aus einem Personenduell mit offenem Ausgang und aus Ängsten der Bevölkerung vor Eingriffen in ihre materiellen Interessen und Sicherheitsgarantien. Es gab auch Wahlkämpfe, in denen leidenschaftlich über Gesellschaftsentwürfe gestritten wurde; dies liegt jedoch schon mehr als drei Jahrzehnte zurück und ist damit für junge Wähler schon ferne Geschichte.
Die Frage, was 2009 bestimmt, lenkt den Blick zunächst auf die Wirtschafts- und Finanzmarktkrise. Noch im Frühjahr sah es so aus, als würde es eine Wahl im Schatten der Krise. Auch jetzt geht es nach Einschätzung der Mehrheit bei der Wahl vor allem um die Chancen, möglichst rasch aus der Krise herauszukommen. Erst mit ihrer Zuspitzung bildete sich seit Anfang des Jahres bei den Wahlabsichten der Bürger eine schwarz-gelbe Mehrheit heraus. Zwei Drittel der Bevölkerung haben in den letzten Wochen über die Krise diskutiert, mehr als über jedes andere Thema. Und doch prägen Krisenängste die Ausgangslage für die Wahl immer weniger. Der wirtschaftliche Pessimismus der Bevölkerung ist in den letzten Wochen erdrutschartig verfallen. Rechneten im Mai noch 55 Prozent der Bürger mit einer ungünstigen Konjunkturentwicklung, sind es jetzt nur noch 30 Prozent.
Höchstens ein Wechsel des Koalitionspartners
Die Sorge, dass eine bestimmte politische Konstellation die eigenen Interessen bedrohen könnte, spielt bei dieser Wahl anders als 2005 kaum eine Rolle. Zwar erwartet die große Mehrheit der Wähler von der nächsten Legislaturperiode angesichts der hohen Staatsverschuldung wenig Gutes; das „Drohpotential“ wird jedoch nicht einseitig einer Partei zugeordnet wie 2005, als nahezu 40 Prozent der Wähler fürchteten, durch eine Regierungsübernahme der CDU/CSU persönliche Nachteile zu erleiden.
Auch aus der Perspektive eines möglichen Regierungswechsels erwächst diesmal kaum Spannung. Zwei Drittel der Bevölkerung erwarten, dass Angela Merkel Kanzlerin bleibt; knapp die Hälfte sieht sie in der kommenden Legislaturperiode an der Spitze einer schwarz-gelben Koalition, 16 Prozent als Kanzlerin einer weiteren großen Koalition. Entsprechend erwartet die große Mehrheit, dass es höchstens einen Wechsel des Koalitionspartners gibt. Diese Perspektive erzeugt nur bei einer Wählergruppe Spannung und mobilisiert dort in ganz ungewöhnlichem Maße, nämlich bei den Anhängern der FDP.
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Die „Lust am Meinungskampf“
Zwar werden CDU/CSU und SPD auch nach vier Jahren großer Koalition von den Bürgern mit völlig unterschiedlichen politischen Zielen und Programmen assoziiert. Spätestens seit den Beschlüssen der rot-grünen Koalition zur Agenda 2010 ist den Bürgern jedoch nur zu bewusst, dass die programmatischen Ziele und die in der Regierungsverantwortung getroffenen Entscheidungen oft erheblich divergieren und divergieren müssen. Linke Parteien, die stärker weltanschaulich geprägt sind, werden dadurch meist stärker beschädigt als die pragmatischen bürgerlichen Parteien.
Es ist jedoch nicht nur die Zusammenarbeit in der großen Koalition, die es fast unmöglich macht, zugespitzte polarisierende Debatten loszutreten. Nicht nur die Politik ist pragmatisch und nüchtern, die ganze Gesellschaft ist es. Polarisierende Debatten sind der Bevölkerung fremd geworden; wenn sie Zeuge solcher Debatten wird, konsumiert sie diese eher als spezifische Form der Unterhaltung, ohne davon nachhaltig und tiefergehend berührt zu werden. Die „Lust am Meinungskampf“, die der Zeitungswissenschaftler Emil Dovifat als Wesensmerkmal der Deutschen benannte, ist schwächer geworden, insbesondere an weltanschaulichen Grundsatzdebatten.
Nur wenige Themen, die die Anhänger der Parteien unterscheiden
Dies begrenzt die Erfolgschancen von Versuchen, die großen emotionalen Kontroversen aus früheren Jahrzehnten wieder zum Leben zu erwecken. Das gilt zum Beispiel für die Kernkraftdebatte, die wie zufällig kurz vor der Wahl über das Entsorgungsthema aktualisiert wurde. Die Haltung der großen Mehrheit ist jedoch seit vielen Jahren stabil ambivalent: der Ausstiegsbeschluss wird unterstützt, aber gleichzeitig von der Mehrheit für unrealistisch gehalten; die Entsorgung gilt als ungelöst, aber gleichzeitig sind 94 Prozent der Bevölkerung der Auffassung, dass es wichtig ist, dass die Politik hier eine Lösung findet. Dies ist kein Fundament für die Entfachung einer leidenschaftlichen gesellschaftlichen Debatte.
Auch der Versuch, mit Afghanistan an die Friedensbewegung des letzten Jahrhunderts oder zumindest an den Aufregungszyklus anzuknüpfen, der vor der Bundestagswahl 2002 im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg inszeniert wurde, ist kein leichtes Unterfangen. Zwar ist die Skepsis der Bevölkerung gegenüber Bundeswehreinsätzen in Krisengebieten mittlerweile groß. Gleichzeitig unterstützt die Mehrheit Auslandseinsätze, wenn sie der Friedenssicherung und generell deutschen Sicherheitsinteressen dienen. Seit der rot-grünen Koalition gibt es bei diesen Fragen zwischen den Anhängern von CDU, SPD, FDP und Grünen keine Polarisierung mehr. Generell gibt es nur wenig Themen, die die Anhänger dieser Parteien grundlegend voneinander unterscheiden. Lediglich die Anhänger der Linken nehmen in vieler Hinsicht eine Sonderrolle ein, insbesondere mit ihrer kritischen Grundhaltung zur deutschen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.
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Quelle: Renate Köcher, „Wahlkampf ohne Leidenschaft“, FAZ.NET, 9. September 2009.