Quelle
Wertegebundene Europapolitik
Herausforderungen für die deutsche Ratspräsidentschaft
Es war nur ein kurzer zeitlicher Schritt zwischen den historischen Erweiterungsfeiern des Jahres 2004 und den Volksabstimmungen über den Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden im letzten Jahr. Aber gerade deshalb stürzte er die Europäische Union in ein Wechselbad der Gefühle. Es ist offensichtlich, dass viele Europäerinnen und Europäer so manchen europapolitischen Schritt der letzten Jahre nicht gutgeheißen haben. Gerade deshalb ist die Wiedergewinnung des Vertrauens in die Europapolitik eine der wichtigsten Aufgaben aller Politiker in Europa.
Europas Einigungsprozess ist eine Erfolgsgeschichte, die ihresgleichen sucht. Die Initiative Robert Schumans zur Gründung der Montanunion hat die Beziehungen zwischen den europäischen Ländern revolutioniert. Zum ersten Mal haben sich die Völker Europas aus freiem Willen eine gemeinsame Ordnung gegeben.
Diese glückliche Entwicklung der letzten fünfzig Jahre war möglich, weil uns Europäer trotz aller Unterschiede Grundlegendes verbindet. Europa gründet auf gemeinsamen geschichtlichen Erfahrungen und auf dem Willen, unsere Zukunft miteinander besser zu gestalten. Vor allem beruht Europa auf Werten, die wir teilen, auf Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte. Diese grundlegenden Werte sind in Europa über Jahrhunderte gewachsen. Sie haben ihre Wurzeln insbesondere im Christentum und der europäischen Aufklärung, in der griechisch-römischen Antike und im Judentum. Europäische Zusammenarbeit wird auch in Zukunft immer wertegebunden sein müssen, wenn sie Bestand haben soll.
So eminent wichtig Binnenmarkt und Euro und vieles andere für die Europäische Union auch immer sein mögen, es sind in erster Linie gemeinsam geteilte Grundwerte, die Europa im Innersten zusammenhalten.
Fundamente der Gemeinschaft
Nächstes Jahr jährt sich die Unterzeichnung der „Römischen Verträge“ zum fünfzigsten Mal. Dieser Jahrestag, der in den deutschen Ratsvorsitz fällt, bietet eine hervorragende Gelegenheit, über die Fundamente der Gemeinschaft nachzudenken. Ich habe die Staats- und Regierungschefs der EU und die Präsidenten der Kommission und des Europäischen Parlamentes zu einem Gipfeltreffen nach Berlin eingeladen, das ganz im Zeichen des Brückenschlages von der Rückbesinnung und Selbstvergewisserung hin zu dem gemeinsamen Entschluss, die in uns gesetzten Erwartungen zu erfüllen, stehen soll. Ich wünsche mir, dass dies in Form einer gemeinsamen „Berliner Erklärung“ bekräftigt wird.
Der Bau der Union vollzog sich über die Jahrzehnte hin immer mit jeweils eigenen, besonderen Schwerpunkten: von Kohle und Stahl in den Anfängen der Gemeinschaft über die Wirtschafts- und Währungsunion bis hin zur Überwindung der Teilung des Kontinentes. Heute geht es vor allem darum, weitere Anpassungen der Europäischen Union an ihre neue Größe und eine veränderte Weltlage vorzunehmen. Dazu gehören eine wirtschaftliche und soziale Modernisierung Europas als notwendige Voraussetzung unserer Selbstbehauptung in der Welt und eine Reform der inneren „Verfasstheit“ der EU. Dies werden auch die Schwerpunkte des am 1. Januar beginnenden deutschen Ratsvorsitzes sein.
Selbstverständliche Voraussetzungen
Wirtschaftliche Dynamik und internationale Wettbewerbsfähigkeit sind selbstverständliche Voraussetzungen für die Zukunftsfähigkeit Europas. Nur wenn Europa auch wirtschaftlich erfolgreich ist, wird es seine Werte behaupten und dafür werben können. Vieles hierbei ist Aufgabe der Mitgliedstaaten und soll es auch bleiben. Aber wenn sich alle Regierungen auf nötige Strukturreformen für mehr Wachstum und Beschäftigung verpflichten, führt dies zu einer sich verstärkenden wirtschaftlichen Dynamik in ganz Europa. Die aktuellen Daten zu Haushaltslage und Wachstum in Deutschland zeigen: Wir sind auf dem richtigen Weg. Diese positiven Entwicklungen müssen wir stabilisieren und ausbauen.
Im Zentrum unserer Arbeit in der EU sollen Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung stehen, die schrittweise Vollendung des Binnenmarktes, die Ausrichtung der Forschungsförderung auf Exzellenz sowie eine Zusammenarbeit im Bereich der Energiepolitik, um das Gewicht Europas in Gesprächen mit Förder- und Verbraucherländern gebündelt und wirkungsvoll zur Geltung zu bringen.
Wir müssen dafür sorgen, dass Europa auch mit bald siebenundzwanzig Mitgliedstaaten in einer sich in rasantem Tempo verändernden Welt bestehen kann. Dies wird nur gelingen, wenn wir zunächst das Fundament des europäischen Hauses festigen, bevor wir weitere Stockwerke hinzufügen. Sonst besteht die Gefahr, dass am Ende das ganze Gebäude ins Wanken gerät. An meiner Haltung zum Verfassungsvertrag hat sich daher nichts geändert. Wir brauchen einen neuen Vertrag. Ein solcher Verfassungsvertrag enthält wichtige institutionelle Neuerungen. Er schafft einen verbesserten Grundrechteschutz als Ausdruck unserer europäischen Werteordnung. Er begründet eine klarere Kompetenzordnung und stärkt die Rolle der nationalen Parlamente. Er bringt Europa in der Justiz- und Innenpolitik voran, ebenso in der Außenpolitik und hier vor allem durch die Schaffung des Amtes eines europäischen Außenministers. Wir nehmen deshalb den Auftrag des Europäischen Rates vom Juni 2006, während unserer Präsidentschaft auszuloten, wie wir in dieser Frage weiterkommen können, sehr ernst. Aufgrund intensiver Konsultationen mit allen Partnern werden wir am Ende entscheiden können, was möglich ist und was nicht. Bis dieser Zeitpunkt gekommen ist, ist von uns vor allem Mut zur Zurückhaltung gefragt. Jede öffentliche Vorfestlegung wird eine Einigung nur schwerer als nötig machen.
Keine neuen Zusagen
Zweifellos ist auch bei der Beantwortung der Frage künftiger EU-Erweiterungen Zurückhaltung geboten. Die Frage der Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union wird uns besonders beim Europäischen Rat im Dezember intensiv beschäftigen. Meine Linie dabei ist klar: Wir werden die gegebenen Zusagen halten, aber für konkrete neue Beitrittsperspektiven auf absehbare Zeit keine neuen Zusagen machen können. Automatismen wird es künftig nicht mehr geben. Nur wenn die Bedingungen voll erfüllt werden, kann ein Beitritts- oder Annäherungsprozess an die Europäische Union vorangehen. Nur ein politisch so gestalteter Erweiterungsprozess wird von den Bürgerinnen und Bürgern mitgetragen.
Wir haben ein großes Interesse an politisch stabilen und wirtschaftlich erfolgreichen Nachbarn. Der Weg dahin kann sicher nicht allein der Beitritt zur Europäischen Union oder die Aussicht darauf sein. Daher müssen wir eine ernsthafte und überzeugende Nachbarschaftspolitik entwickeln. Sie muss Länder in unserer unmittelbaren Nachbarschaft in ihren Reformbemühungen unterstützen, ohne falsche Versprechungen zu machen. Hierbei sind vielfältige maßgeschneiderte Formen der Kooperation denkbar.
Wenn wir die Globalisierung nach unseren europäischen Wertvorstellungen mitgestalten wollen, dann müssen wir unser Gewicht gemeinsam in die Waagschale werfen – sei es bei den Verhandlungen im Rahmen der Welthandelsorganisation, beim Umweltschutz oder in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Unsere Partner erwarten zu Recht, dass Europa und die Europäer ihrem Gewicht entsprechend Verantwortung in der Welt übernehmen. Europa kann es sich nicht leisten, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Deutschland möchte nächstes Jahr dazu beitragen, die Stimme der Europäischen Union in einer immer kleiner werdenden Welt zu stärken.
Quelle: Angela Merkel, „Wertegebundene Europapolitik. Herausforderungen für die deutsche Ratspräsidentschaft“, Die politische Meinung, 51. Jg., November 2006, S. 5–7.