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Ost und West missverstehen sich
Liegt es am Geld? An mangelnder Geduld? Oder ist der Osten zu selbstbewusst?
Das Grundmissverständnis zwischen Ost und West besteht darin, dass eine Seite denkt, sie gibt ihr Letztes, während die andere meint, man nähme ihr das Letzte. Die Westdeutschen zahlen Solibeitrag und müssen schrecklich sparen; die Ostdeutschen zahlen ihn auch und haben obendrein durch die überstürzte Währungsunion und die Westinteressen vertretende Treuhandpolitik Millionen von Arbeitsplätzen in Industrie und Landwirtschaft verloren.
Ein Abbau von Arbeitsplätzen war unter dem gewachsenen Effektivitätsdruck nötig, aber diese Dimension einer siebzigprozentigen Deindustrialisierung hat es nach der Wende in ganz Osteuropa nicht gegeben. Die Entwertung bisheriger Leistung hat natürlich auch psychische Folgen – ganz zu schweigen von dem durch den Gesetzgeber organisierten Ost-West-Immobilienkrieg („Rückgabe vor Entschädigung“), der millionenfachen Frust hinterlässt und der obendrein die Steuerzahler teuer zu stehen kommt.
Die Legende, dass es zu dieser für die Bevölkerung auf beiden Seiten teuersten Art der Vereinigung keine Alternative gab, pflegen in erster Linie jene westlichen Minderheiten, die sich an der Einheit dumm und dämlich verdient haben: Banken und Industrielle, Versicherungen, Immobilienhändler, Anwälte und Notare. Und ihre treuen Diener: gewisse Politiker und Journalisten. Wer glaubt, in solchen Erklärungsmustern schon wieder östliche Verschwörungstheorien zu erkennen, muss daran erinnert werden, dass die repräsentative Demokratie eine Gesellschaft institutionalisierter Interessenvertretung ist.
Wer sich am besten organisiert, setzt am meisten Interessen durch. Die Ostinteressen waren wahrlich schlecht organisiert. Gerade in unübersichtlichen Umbruchzeiten läuft die Demokratie Gefahr, von Lobbyinteressen dominiert zu werden. Chancengleichheit ist dann für lange Zeit blockiert.
Es ist übrigens dieses gesamtgesellschaftliche Denken, was viele Ostdeutsche heute vermissen. Völlig zu Recht weist Wolf Wagner darauf hin (taz vom 8.8.96), dass die Westdeutschen sehr amerikanisch geworden sind. Der ungetrübte Glaube an die unbegrenzten Möglichkeiten des Individuums kommt mir ebenso blauäugig vor wie der Ansatz, gesellschaftliche Phänomene zunächst psychologisch erklären zu müssen.
Nach sechs Jahren Einheit entdeckt man plötzlich, dass diese merkwürdige Population von Ostdeutschen statt Dankbarkeit Selbstbewusstsein entwickelt. Da muss man wohl langsam mal nach dem Rechten sehen. Und so startet man im gepanzerten Jeep eine Safari ins Reservat. Mutig blickt man durchs Fernglas und staunt: Diese Gattung begrüßt sich noch mit Handschlag. Und sie bewegt sich in Horden, obwohl sich doch herumgesprochen haben müsste, dass es ergiebiger ist, den Weg zur Tränke allein einzuschlagen.
Tja, es lässt sich wohl nicht länger leugnen: Die neuen Bundesländer gehören mental immer noch zu Osteuropa. Und da hatte man 40 Jahre lang ein anderes Verhältnis zu Geselligkeit, zu Zeit und zu Geld. Einer meiner Sätze, die im Osten auf Anhieb verstanden und im Westen ebenso schnell missverstanden werden, lautet: Die Erfahrung der Zweitrangigkeit von Geld ist unser Kapital.
Mag ja sein, dass dies heute reichlich antiquiert klingt. Deshalb hatte ich anfangs auch noch höllischen Respekt vor uns gestellten Aufgaben wie die nachholende Modernisierung. Inzwischen wächst bei vielen der Verdacht, dass ihnen zum Preis von Haute Couture ein Auslaufmodell untergejubelt wurde.
Widersprechen wird Michael Rutschky (taz vom 15.8.96) niemand: Die DDR war ein „tief unbefriedigender Lebenszusammenhang“. Das trifft auch mein Empfinden ziemlich genau. Nicht wenige Ostler wundern sich allerdings, wieso die BRD in der Fasson, wie sie uns nun mal übergezogen wurde, als befriedigend wahrgenommen werden kann. Der Zusammenbruch des Realsozialismus erwischte den Westen im Grunde auf dem falschen Bein: Der unverhoffte Sieg ließ die Illusion aufkommen, die offenen Rechnungen der Geschichte seien nun ein für allemal beglichen.
In den Armen von Wohlstand und Gerechtigkeit würden die zuvor gepeinigten Beigetretenen endlich Zufriedenheit finden. Aber bevor jene noch wie erhofft Demokratie pur, Marktwirtschaft sozial und Emanzipation modern genießen konnten, zerrannen sie ihnen zwischen den aufgehaltenen Händen. Schneller als viele von ihrem Sieg noch umnebelte Westverwandte begriffen sie, dass das bis zur Wende zu Recht als überlegene Zivilisation favorisierte Gesellschaftsmodell in seiner jetzigen Form justament am Ende ist. Festzustellen, dass wir dem Kapitalismus im Moment der beginnenden Auflösung seiner Vorzüge beigetreten sind, hat nichts mit antiwestlichen Ressentiments zu tun. Was befremdet, ist die brutale Energie der Restauration.
Die tiefe Krise der Arbeitsgesellschaft und die demokratiegefährdende Globalisierung des Kapitals werden inzwischen zwar benannt, aber von der übergroßen Mehrheit im Westen noch nicht als Herausforderung der Globalisierung der Arbeitnehmerinteressen verinnerlicht. Politische Aktivität lässt, zugegeben, auch im Osten zu wünschen übrig, aber Diskussionen laufen hier ziemlich anders.
Nirgends lässt sich die unsichtbare geistige Spaltung deutlicher ablesen als in der einst sichtbar gespaltenen Hauptstadt: Hier hat die Partei, die die größten Veränderungen fordert, im Osten über 40 Prozent Anhänger, im Westen nicht einmal ein Zehntel davon.
Einige Westliberale empfinden sich als besonders entgegenkommend, wenn sie angesichts von DDR-Biographien einräumen, es habe offenbar, entgegen dem vielstrapazierten Adorno-Satz, doch ein wahres Leben im falschen gegeben. Ich habe diesen aus dem Zusammenhang gerissenen Gedanken nie nachvollziehen können. Unterstellt er doch, es gebe überhaupt ein nichtfalsches, also richtiges Dasein. Dies erlaube ich mir zu bezweifeln. Die Unterschiede sind gradueller Natur. Letztlich gibt es nichts anderes als wahres Leben im falschen. Auch heute.
Quelle: Daniela Dahn, „Ost und West missverstehen sich“, taz, 21. September 1996.