Kurzbeschreibung

Der Autor und Journalist Mark Terkessidis stellt in diesem Artikel Überlegungen über das Konzept einer Leitkultur an. Er argumentiert, die Befürworter einer deutschen Leitkultur hätten vermutlich ihre Schwierigkeiten damit, zu definieren, was diese eigentlich sein soll. Seiner Ansicht nach fehle es dem Konzept an klar definiertem positivem Inhalt und es trete häufig nur als Gegensatz zur Kultur der Immigranten zu Tage. Ironischer Weise seien es gerade jene Immigranten, die tatsächlich die klarste Vorstellung dieses vagen Konzepts haben, da es häufig auf sehr konkrete Art gegen sie benutzt werde. Nach Terkessidis kann die Forderung der CDU/CSU nach einer „christlich-deutschen Leitkultur“ nur zu weiterer Diskriminierung der Immigranten führen.

Gedanken zur Forderung nach einer deutschen Leitkultur (4. November 2000)

  • Mark Terkessidis

Quelle

Das Spiel mit der Herkunft

Die Deutschen rätseln, was ihre Leitkultur ist. Eisbein und McDonalds, Bach und Roberto Blanco, die Reeperbahn und Kardinal Ratzinger? Die Muslimin Hülya B. weiß es.

Hülya B. ist ausgebildete Erzieherin und arbeitslos. Das hat in erster Linie damit zu tun, dass ihre Konfession nicht christlich ist. Schon bei der Berufsberatung wurde ihr diese Situation prophezeit, denn in der Bundesrepublik werden über zwei Drittel aller Kindergärten von kirchlichen Trägern geleitet. Und das heißt für muslimische Frauen: keine Chance. Selbstverständlich hat sich Hülya B. bei staatlichen Kindergärten beworben. Doch hier ist die Konkurrenz sehr groß. Zudem hat man ihr am Telefon oft genug durch die Blume mitgeteilt, dass die meisten einheimischen Eltern Probleme damit haben, wenn eine Türkin mit islamischem Glauben ihre Kinder betreut. Die junge Frau jobbt momentan. Hülya B. weiß ziemlich genau, was „deutsche Leitkultur“ bedeutet.

Während Kommentatoren der FAZ den Begriff als „Gefasel“ abtun und mittlerweile selbst auf den Meinungsspalten der Bild-Zeitung von einer „unwürdigen Diskussion“ gesprochen wird, ist „Leitkultur“ für die meisten Migranten alles andere als eine Floskel. Tatsächlich existiert in Deutschland noch weit mehr als in vergleichbaren europäischen Einwanderungsgesellschaften so etwas wie eine dominante Kultur. In der derzeitigen Debatte sind sich Gegner und Verteidiger der „Leitkultur“ zumindest über eines einig: Die deutsche Gesellschaft ist längst kulturell differenziert. Nur über die Bewertung wird gestritten. Die liberale Öffentlichkeit findet die Vielfalt im Großen und Ganzen einfach normal: Warum sollte das martialische Rapper-Gebaren türkischer Halbstarker oder das Kopftuch junger muslimischer Frauen schlimmer sein als all die anderen privaten Grillen der Bevölkerung, heißt es von dort.

In der Union dagegen fürchten viele angesichts der kulturellen Unterschiedlichkeit den Verlust von Werten, Maßstäben oder Spielregeln: In den Aussagen von Meyer bis Goppel erscheinen daher „Ausländer“ stets so, als würden sie ununterbrochen das „Gastrecht“ missbrauchen, das Grundgesetz malträtieren oder sich respektlos gegenüber den deutschen Gepflogenheiten verhalten. In diesem Sinne hält Angela Merkel auch die „linke Idee“ von der multikulturellen Gesellschaft für gescheitert. Doch wie viel Unterschied verträgt Deutschland wirklich?

Hülya B. nimmt es mit ihrem Glauben nicht allzu streng. Sie trägt kein Kopftuch. Würde sie das tun, wären ihre Probleme noch offensichtlicher. Dass das Kopftuch in dieser Gesellschaft weit mehr bedeutet als eine private Neigung, zeigte zuletzt der Fall Fereshta Ludin. Sie konnte in Baden-Württemberg nicht Lehrerin werden, weil das Kultusministerium ihr Kopftuch als „Symbol kultureller Abgrenzung“ betrachtete, welches sich mit den hiesigen Toleranzvorstellungen nicht vertragen würde. Während im Lande Bayern selbst nach einem gegenteiligen Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes weiter Kreuze die Schulwände zieren, ist Ludins symbolisches Bekenntnis in der Schule nicht erlaubt. Und das, obwohl die studierte junge Frau ein Musterbeispiel für „Integration“ darstellt.

Die ganz normale Ausgrenzung

Fereshta Ludin kann sich zweifellos unter „deutscher Leitkultur“ etwas vorstellen. Das können auch die muslimischen Vereine, die ihre Religion nicht länger in einem verhutzelten Treff im Hinterhof ausüben wollten und daher die Erlaubnis zum Bau einer Moschee beantragten. Die Behörden und Anwohner der meisten Gemeinden können die Vorstellung nicht ertragen, beim Blick aus dem Fenster ein Minarett zu sehen. Dagegen wird das Glockengeläut von den nahen christlichen Kirchen trotz anhaltendem Mitglieder- und Bedeutungsschwund weiterhin als normal empfunden. Ähnliches gibt es beim Religionsunterricht. Seit vierzig Jahren leben hier islamische Gläubige. Doch während die beiden ansässigen christlichen Konfessionen selbstverständlich in den Schulen gelehrt werden, erscheint vielen die Forderung nach entsprechendem Unterricht für Muslime immer noch wie eine Usurpation der deutschen Schule durch fanatische Koranprediger.

Freilich geht es nicht nur um den Islam: Was ist eigentlich mit orthodoxem Unterricht für Schüler griechischer oder serbischer Herkunft? Im Gegensatz zu Frankreich – das ist vielen Einheimischen nicht bewusst – gibt es in Deutschland keinen Laizismus: Staat und Religion sind nicht strikt voneinander getrennt. Hierzulande werden die beiden christlichen Konfessionen bevorzugt, und bislang hat es kaum Versuche gegeben, entweder den Laizismus einzuführen und damit die Konfession zur Privatsache zu machen oder die religiösen Bekenntnisse der Einwanderer gleichzustellen.

„Leitkultur“ – tatsächlich bloß eine Floskel? Die Dominanz einer unsichtbaren „Leitkultur“ umfasst keineswegs nur den Bereich der Religion. Serhat Z. etwa bekommt einfach keinen Ausbildungsplatz. Mittlerweile weiß er ziemlich genau, dass das mit seiner Herkunft zu tun hat. Nach zahlreichen Fehlschlägen hat er die Probe aufs Exempel gemacht: Er hat bei verschiedenen mittelständischen Betrieben wegen einer Lehrstelle angerufen und dabei manchmal seinen eigenen und andere Male einen erfundenen einheimischen Namen genannt. Wenn sein eigener, „ausländischer“ Name fiel, war das Gespräch meist schnell vorüber. Jugendliche mit Migrationshintergrund haben es schwerer, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Das hat nichts mit dem Bildungsniveau zu tun. Untersuchungen zeigen, dass die Entscheidungsträger in den hierzulande zahlreichen kleinen Betrieben den kulturellen Hintergrund der jugendlichen Migranten für ein Problem halten. Vor allem den jungen Männern türkischer Herkunft wird unterstellt, sie würden die Betriebskultur stören – etwa wegen ihrer angeblich leichten Reizbarkeit in Angelegenheiten der Ehre.

Bei den Mädchen wiederum wird davon ausgegangen, dass sie aus religiösen Gründen bestimmte Tätigkeiten verweigern müssten. Jede sichtbare Verschiedenheit gilt hier bereits als Defizit. Den Migrantenjugendlichen, die es dennoch in einen Kleinbetrieb geschafft haben, wird schließlich permanent bescheinigt, sie seien ja „wie Deutsche“. In den meisten Betrieben heißt Integration daher nichts anderes als Aufgehen in der „Leitkultur“. Die Zuschreibungen der Entscheidungsträger in den Betrieben sind nicht ungewöhnlich. Migranten gelten oft als Verkörperung vormoderner Traditionen – und damit im besten Fall als nur verknöchert, im Normalfall als undemokratisch und frauenfeindlich, im schlimmsten Fall als fanatisch und potenziell gewaltbereit.

Der Gast, der blieb

Selbst in den Konzepten des Multikulturalismus, die Ende der 80er aus kirchlichen und grünen Kreisen kamen, war das nicht anders. Angeblich mussten die „Ausländer“ erst mal säkularisiert werden und ihre Bindung an vormoderne Sitten und Gebräuche aufgeben. Dabei wurde freilich übersehen, dass die deutsche Gesellschaft zumindest in Bezug auf Religion keineswegs so enttraditionalisiert ist, wie die meisten hierzulande glauben. Zudem gingen z.B. Thomas Schmid und Daniel Cohn-Bendit in ihrem Buch „Heimat Babylon“ davon aus, dass die Migranten „lernen“ müssen, sich in die „Wertvorstellungen der Deutschen“ einzufinden. Was diese „Werte“ beinhalten, das konnten die beiden Grünen damals so wenig sagen wie Friedrich Merz heute.

Tatsächlich wird die „deutsche Leitkultur“ heute weniger dadurch aufrechterhalten, dass die Einheimischen genau wissen, worin ihre kulturelle Identität eigentlich besteht. Vielmehr wird die „Leitkultur“ zumeist über eine spiegelverkehrte Abgrenzung vom Bild der Migranten markiert: „Wir“ können uns für modern halten, weil „sie“ traditionell sind; „wir“ sind tolerant, weil „sie“ sich intolerant benehmen; in „unserer“ Gesellschaft ist die Emanzipation der Frauen längst verwirklicht, weil bei „ihnen“ die Frauen sichtbar unterdrückt werden etc.

Im Gegensatz zu Frankreich oder Großbritannien ist in Deutschland mit „Wir“ immer nur die Gemeinschaft der Einheimischen gemeint – dieses „Wir“ klingt für alle Personen mit nichtdeutschem Hintergrund immer völlig exklusiv. Allerdings erscheinen die Migranten oft wenig entgegenkommend. Ihre Communities wirken auf die meisten Einheimischen heimatbezogen und verschlossen. Das türkische Männercafé oder die Frau mit Kopftuch scheinen zu einer anderen Welt zu gehören. Zweifellos kennen etwa viele griechische Migranten erster Generation in der eigenen Stadt noch heute wenig mehr als ihren Arbeitsplatz, die Griechische Gemeinde und den Weg zum Flughafen. Der Rückbezug auf ein imaginäres Heimatland oder die eigene Tradition wurzelt jedoch nicht in der prinzipiellen Abwehrhaltung der Migranten, sondern in den Aufnahmebedingungen in Deutschland. Von Anfang an wurde den Migranten der Zugang zur Staatsbürgerschaft fast unmöglich gemacht und damit die politische Beteiligung erschwert. Bis heute kann obendrein die Mitgliedschaft in einer politischen Migrantenorganisation ein Grund für die Verweigerung der Staatsbürgerschaft sein. So blieb den Einwanderern nichts anderes übrig, als sämtliche Community-Aktivitäten in Kulturvereine zu verlagern.

Dabei wurde der kulturelle Bezug auf das Herkunftsland von den deutschen Behörden durchaus gefördert. Schließlich sollten die „Gäste“ ja wieder zurück nach Hause und sich zwischenzeitlich ihrer „Heimat“ nicht allzu stark entfremden. Insofern sind sowohl die realexistierende „Leitkultur“ als auch die oft traditionell wirkende Kultur der Migranten das Ergebnis der politischen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik – und die waren von Anfang an ausgrenzend und zudem überaus chaotisch. Integration war stets wenig mehr als ein Schlagwort; konkrete Maßnahmen wurden nur wenige ergriffen. Noch heute ist nicht einmal die Versorgung mit Sprachunterricht ausreichend. Und schließlich hieß Anpassung immer Anpassung an die kaum zu greifende deutsche Kultur, während Mitbestimmungsrechte erst nach der Integration kommen sollten. Auch in Frankreich wurde Assimilation gefordert, jedoch eine staatsbürgerliche Assimilation an die Republik – Ethnizität und Kultur gelten strikt als Privatsache. Zweifellos werden im Nachbarland die Republik und die französische Kultur in der Realität gern miteinander verwechselt, doch dort haben die Migranten als Bürger wenigstens die Gelegenheit, sich gegen diese Verwechslung zu engagieren. Die jüngsten deutschen Neuregelungen wie das Reförmchen des Staatsbürgerrechtes oder die Einführung so genannter Greencards haben keine Bewegung in die statische Situation gebracht. Die alten Einwanderer verzichten auf eine Staatsbürgerschaft, die als Zwangsinstrument daherkommt, die neuen qualifizierten Einwanderer kamen erst gar nicht. Wenn die Union heute von „Leitkultur“ schwadroniert, zielt sie im Grunde auf die Ausgrenzung von Migranten.

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Quelle: Mark Terkessidis, „Das Spiel mit der Herkunft“, Der Tagesspiegel, 4. November 2000.