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Der Schatz der frühen Jahre
Die Kitas sollen uns aus Integrationskrise, demografischer Katastrophe und Schulmisere retten, das Wertevakuum füllen und Fundament des Bildungssystems werden. Und all das soll natürlich gar nichts kosten.
So sieht Bildung aus: In der Kita Am Zeisigberg können die Kinder beim Treppensteigen rechnen lernen. Jede Stufe, die zu ihrem Spielhaus führt, trägt neuerdings eine Ziffer. Wer zwei Schritte macht und drei dazu, landet bei der Fünf. Mathematik im Vorübergehen. Die Stiege mit Zahlen zu bestücken ist nur eine der vielen kleinen Ideen, die der Kindertagesstätte im brandenburgischen Städtchen Müllrose eine Auszeichnung eingebracht haben. Seit Herbst vergangenen Jahres ist sie stolze Trägerin des Deutschen Kindergarten-Gütesiegels, einer Art TÜV-Plakette für gute Kita-Qualität.
Rund 200 Kindertageseinrichtungen haben sich mittlerweile von PädQUIS, einem Institut der Freien Universität Berlin, prüfen lassen, 40 Prozent im ersten Anlauf mit Erfolg. Alles werde in Deutschland getestet, Autos, Tiefkühlpizzas, Schönheitscremes, sagt Wolfgang Tietze, der Erfinder des Gütesiegels: „Nur über die Qualität von Kindergärten weiß man bislang wenig.“ Dabei wirkt es sich noch Jahre später aus, wenn Kinder ihre durchschnittlich 4000 Kita-Stunden in einer guten Einrichtung verbringen. Sie haben einen größeren Sprachschatz, zeigen bessere Leistungen in der Schule und ein positiveres Sozialverhalten.
Als Spielzimmer des Bildungshauses galt der Kindergarten noch vor wenigen Jahren. Jetzt soll er zum Fundament werden. Denn schon bei den Kleinsten, lautet neuerdings die Devise, beginnen die deutschen Schulprobleme. Unsere Migrantenkinder verstehen in der ersten Klasse kaum ein Wort Deutsch? Ab in die Kita zum Sprachtraining! Frauen sollen Kinder kriegen und zugleich arbeiten? Schafft endlich mehr Kindergartenplätze, wo auch Akademikerinnen ihren Nachwuchs guten Gewissens lassen! Ob Schulmisere oder Integrationskrise, demografische Katastrophe oder Wertevakuum – kaum ein gesellschaftliches Problem, das der Kindergarten nicht richten soll.
Auch die Politik hat die Frühförderung entdeckt. Wenn es um die pädagogische Allzweckwaffe Kita geht, regiert in Deutschland die ganz große Koalition von PDS bis CSU. Fast alle Bundesländer haben ihre Kindergartengesetze umgeschrieben und so genannte Bildungspläne erlassen, die festlegen, was die Kinder bis zur Einschulung lernen sollen. Nordrhein-Westfalen etwa will die Sprachförderung sowie die enge Zusammenarbeit mit der Grundschule zur Pflicht erheben. Die Kitas sollen den Entwicklungsstand jedes Kindes dokumentieren und gesundheitliche Schäden erkennen. Der neue Ehrgeiz kommt bei den Erziehern durchaus an. „Erstmals fühlen sich die Kollegen ernst genommen“, sagt Norbert Hocke von der Gewerkschaft Bildung und Wissenschaft (GEW).
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Welch ein Wandel! Um als gute Kita zu gelten, reichten lange Zeit helle Räume, elternfreundliche Öffnungszeiten und nette Kindergärtnerinnen, die am Rand der Sandkiste nicht rauchten. Stand gar noch ein Öko-Essen auf dem Speiseplan, waren selbst kritische Akademikereltern zufrieden. In gezielter Abgrenzung zur staatlich organisierten Rundumversorgung der Kleinsten in der DDR regierte im Westen bis Ende der neunziger Jahre die gezielte Anspruchslosigkeit.
Frühestens ab drei Jahren sollten die Kinder von der Mutter getrennt werden, und dann auch bitte nur am Vormittag. Gleichzeitig galt es, die Mädchen und Jungen mit möglichst intensiven Spielen, Singen und Basteln vor jeder Art von Bildung zu bewahren. Zahlen und Buchstaben hatten in der Kita nichts zu suchen. Über Jahrzehnte sei die Bedeutung der Jahre vor der Schule „systematisch unterschätzt“ worden, kritisiert Wassilios Athenakis, ehemaliger Leiter des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München.
Erst der Pisa-Schock brachte die Wende und lenkte den Blick nicht nur auf die Schule, sondern ebenso auf die Jahre davor. Dabei entdeckte man, dass ausgerechnet jene Nation, die einst den „Kindergarten“ erfand und damit einen Begriff schuf, den heute selbst Franzosen, Engländer oder Spanier verstehen, inzwischen selbst zu einem frühpädagogischen Entwicklungsland geworden war (jedenfalls in Westdeutschland). Zwar haben alle Eltern für ihre Kinder ab drei Jahren seit 1996 einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Doch der gilt in der Regel nur für vier Stunden am Vormittag. Nur jede dritte Kita bietet in den alten Bundesländern überhaupt eine Ganztagsbetreuung an. Noch schlechter ist hier die Versorgung der Kinder unter drei Jahren. Nur drei von hundert Kindern finden in diesem Alter eine Krippe.
Denkbar niedrig ist auch das Ausbildungsniveau. Das deutsche Kita-Personal lernt auf Fachschulen. Im Gegensatz zu fast allen anderen Ländern Europas benötigt nicht einmal die Leitung einer Einrichtung hierzulande ein Hochschulstudium. In der Medizin wäre das so, als ließe man Vorschulkinder nur von Krankenschwestern behandeln, da man universitär ausgebildete Ärzte für dieses Alter nicht für nötig hielte. Für Abiturienten ist der Erzieherberuf deshalb unattraktiv, selbst guten Realschülern bietet er kaum eine berufliche Perspektive. Die Schmalspurausbildung hat Folgen. „Vierjahreszeiten-Pädagogik“ nennen Kritiker den ewig gleichen Rhythmus, an dem sich noch immer viele Kitas entlang hangeln: Zu Ostern werden Körbchen gebastelt, im Herbst Blätterbilder geklebt, im Winter Weihnachtssterne.
Neue wissenschaftliche Erkenntnisse wie jene des in Bielefeld lehrenden Pädagogen Gerhard Friedrich finden nur schwer den Weg in den Arbeitsalltag der Erzieher. Friedrich schickte Kita-Kinder ins „Zahlenland“, wo sie mit Märchen, Spielen und Musik die Ziffern eins bis zehn erkunden sollten. Bereits nach zehn Stunden gezielt-spielerischen Trainings waren diese Kinder anderen Gleichaltrigen im Zahlenverständnis um ein Jahr voraus. […]
Didaktische Konzepte wie das „Zahlenland“-Material erfreuen sich in Kitas großer Nachfrage. „Anders als viele Lehrer sind Erzieher bereit, auch mal Freizeit für ihre Fortbildung zu investieren“, sagt GEW-Funktionär Hocke. Gleichzeitig jedoch fragten sich viele Kollegen, wie sie den neuen Anforderungen gerecht werden sollten. Das ist der Hauptwiderspruch der Kita-Offensive: Die Einrichtungen erhalten eine Menge zusätzlicher Aufgaben, aber kein zusätzliches Personal. Auch für Schulungen stellen die meisten Bundesländer kein Extrageld zur Verfügung.
Schon die Kindergartenplatzgarantie von 1996 hatte ihren Preis: Qualitätsstandards wurden gesenkt, Gruppen vergrößert, weniger qualifizierte Mitarbeiter eingestellt. Diese Politik wiederholt sich nun. „Alles soll anders und besser werden, doch es darf nichts kosten“, kritisiert Ilse Wehrmann, langjährige Leiterin der Bundesvereinigung Evangelischer Kindergärten. In Bremen etwa kommen auf eine Erzieherin 20 Mädchen und Jungen; viele stammen aus Migrantenfamilien. „Unter solchen Bedingungen ist es unmöglich, jedes Kind individuell zu fördern“, sagt Wehrmann.
Längst sprengen die neuen Aufgaben das enge Zeitkorsett, das den Kita-Alltag einschnürt. Lehrer verfügen über Stunden zur Unterrichtsvorbereitung; im Arbeitsalltag eines Erziehers sind dafür wenige Minuten vorgesehen. Ein Elterngespräch oder ein naturwissenschaftliches Experiment aber lassen sich nicht nebenbei planen. Das gleiche Dilemma trifft die Kinder. Muss man die ehrgeizigen Bildungspläne in den vorgesehenen vier Stunden am Vormittag abarbeiten, wird die Kita – Montag gibt es Mathe, Dienstag Biologie – schnell zur Schule. Doch die Jüngsten lernen spielerisch nebenbei, nicht im Stundentakt.
Das schöne neue Kita-Land Bundesrepublik existiert bislang vielerorts nur auf dem Papier. Das gilt besonders für die Prestigeobjekte der Frühförderung. Bundesministerin Annette Schavan (CDU) wirbt mit baden-württembergischen Bildungshäusern, in denen „Drei- bis Zehnjährige gemeinsam lernen“. Noch tun sie dies jedoch allein in der Koalitionsvereinbarung der neuen schwarz-gelben Regierung im Ländle.
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Ein Gegenbeispiel ist Rheinland-Pfalz, wo Bildungsministerin Doris Ahnen mit weniger Getöse, aber Substanz die Frühförderung anpackt. Das Land verzichtet (ähnlich wie das Saarland) auf die Elternbeiträge im letzten Kindergartenjahr und weitet den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz Stück für Stück auch auf die Zweijährigen aus. Gleichzeitig stellt es jährlich zwei Millionen Euro für Fortbildungen zur Verfügung, um den Erzieherinnen den Bildungsplan des Landes nahe zu bringen. Wie ein unsichtbares Curriculum soll er sich als roter Faden durch die Kita-Tage der Kinder ziehen.
Ohne zusätzliches Geld werde sich die Qualität der Kitas allerdings nicht verbessern, prophezeit Stefan Sell, Sozialökonom an der Fachhochschule Koblenz. Rund 0,5 Prozent seines Bruttosozialprodukts verwendet Deutschland für die frühkindliche Bildung und Betreuung. Das ist weit weniger, als Länder wie Frankreich (0,7), Dänemark (0,8) oder Norwegen (1,0) investieren, und weit von der Ein-Prozent-Marke entfernt, welche die OECD empfiehlt. Zudem sind die Elternbeiträge hierzulande so hoch wie sonst in kaum einem anderen Land. In Berlin beispielsweise beträgt der Höchstsatz monatlich 400 Euro für eine Tagesbetreuung.
Rund 2,7 Milliarden Euro wären laut Kinder- und Jugendbericht nötig, um für alle Kinder unter sechs Jahren, deren Mütter und Väter dies wollen, einen Ganztagsplatz zur Verfügung zu stellen – eine Milliarde weniger, als Familienministerin Ursula von der Leyen zukünftig für das Elterngeld ausgeben will. In Kindergärten wäre die Summe besser investiert, mangelt es heutigen Familien doch weniger am Geld als an Betreuungsplätzen. Doch der Bund darf nicht zahlen: Für die Kita-Finanzierung sind die Länder und dort vor allem die Kommunen zuständig. Deren Kassen aber sind leer. Umgekehrt fließen die finanziellen Erträge eines Kita-Ausbaus wiederum dem Bund zu, indem mehr arbeitende Frauen Geld in die Steuer- und Sozialkassen zahlen. „Warum sollte ein Bürgermeister da in seine Kitas investieren?“, fragt Ökonom Sell.
Der gesamtgesellschaftliche Ertrag einer guten Kinderbetreuung ist enorm. Doch bei einer derart komplizierten Gemengelage geht diese Einsicht leicht verloren. Einer berühmten amerikanischen Langzeituntersuchung zufolge wirft jeder Dollar, die der Staat in eine gute Früherziehung investiert, bis zu sieben Dollar Rendite ab: durch geringere Sozialhilfeausgaben, höhere Steuereinnahmen, abnehmende Kriminalität. Leider stellen sich die Gewinne erst nach Jahrzehnten ein, wenn die Kinder erwachsen sind und einen Job haben, statt Sozialhilfe zu beziehen – ein Zeithorizont, der eine Legislaturperiode übersteigt.
Quelle: Martin Spiewak, „Der Schatz der frühen Jahre“, Die Zeit, 30. Juni 2006.