Kurzbeschreibung

Als Reaktion auf die neue Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt infolge der Deregulierung und des technologischen Wandels beschreibt ein Journalist das Entstehen eines „Prekariats“ hochqualifizierter junger Menschen, die von einem befristeten Arbeitsplatz zum nächsten wechseln müssen.

Das neue Prekariat (27. April 2006)

Quelle

Von der Boheme zur Unterschicht

Job, Geld, Leben – nichts ist mehr sicher. Eine neue Klasse der Ausgebeuteten begehrt auf: Das Prekariat.

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Uns steht das Wasser bis zum Hals: Mehr Botschaft kennen die Arbeitsproteste des neuen Jahrhunderts auf Anhieb nicht. Die Entwicklung in Frankreich hat gezeigt, dass weder Soziologen noch Politiker vorhersagen können, wo genau sie aufflackert. Fest steht einstweilen bloß das Offensichtliche: Der Protest formiert sich als Reaktion auf die Entsicherung des sozialen Lebens durch befristete Beschäftigung, Minijobs, Dauerpraktika, modernes Tagelöhnerwesen. Aus prekären Arbeitsverhältnissen folgen prekäre Existenzweisen, in Analogie zum Proletariat wurde deshalb schon die Begriffsbildung Prekariat für die neue Form einer ausgebeuteten Klasse vorgeschlagen.

Prekarisierung, das andere Wort zur Krise, ist aus der beschränkten Öffentlichkeit linker Thesenpapiere und soziologischer Fallstudien inzwischen schon in die Alltagssprache vorgedrungen. Im Umfeld des Euro Mayday finden sich Prekarisierungsforen und -arbeitskreise zu den Themen Kündigungsschutz und Flexibilisierung. Im vergangenen Jahr präsentierten Mailänder Aktivisten auf ihrem Umzug P-Superhelden aus Pappmaché, darunter ein Wesen namens Super Flex. Bei Super Flex hat der Stress der Flexibilisierung zu einer „erfreulichen Mutation seiner Moleküle“ geführt, was ihn befähigt, weltweit „mit anderen Superflexiblen zu kommunizieren“. Ein Schutzpatron ist in Italien auch schon ausgerufen worden: der anbetungswürdige San Precario.

San Precario ist ein seltsamer und großzügiger Heiliger, ein Tröster für viele Lebenslagen. Ob er für einen zuständig ist, lässt sich durch simple Selbstbefragung herausfinden. Woher kommt morgen mein Geld? Wie sicher ist mein Arbeitsplatz? Reicht das Geld für den Kita-Platz? Welche Jobs gehen ohne Pass? Was ist, wenn ich krank werde? Wie will ich wohnen? Wie finanziere ich mein Studium, was mache ich danach? Warum denke ich ständig an Arbeit? Weshalb macht der Kerl nicht den Haushalt? Wie will ich leben? Was können kollektive Garantien für ein besseres Leben heute sein? Wer in einem oder mehreren Punkten betroffen ist, darf sich mit der Diagnose anfreunden, prekarisiert zu sein. Doch so einheitlich, wie es scheint, ist die Interessenlage der Unzufriedenen auf den zweiten Blick nicht.

Zunächst einmal ist die Rede von der Prekarisierung alles andere als neu. Bereits Anfang der 1980er taucht der Begriff in der französischen Soziologie auf, als Bezeichnung für saisonale oder temporäre Beschäftigungen. Auch hat es prekäre Arbeitsformen immer gegeben, im globalen Maßstab waren und sind sie bis heute die Regel. Virulent wurde der Prekarisierungsdiskurs erst, als Anne und Marine Rambach in ihrer 2001 erschienenen Streitschrift Les intellos précaires („Die prekären Intellektuellen“) das Bild einer Intelligenz entwarfen, die mit dem Widerspruch leben muss, bei relativ hohem Sozialstatus immer schlechteren Arbeitsbedingungen ausgesetzt zu sein – und damit in Frankreich einen Bestseller landeten. Neu an der Debatte sind also nicht ihre Sachverhalte, neu ist die Tatsache, dass diese die urbanen Mittelschichten ergriffen haben.

Der weite Weg, den die gefühlte Prekarität dabei von den Rändern der Gesellschaft her zurücklegen musste, hat seinen Grund ironischerweise in der Erfolgsgeschichte des europäischen Sozialstaats: Vom Verlust ihrer Arbeitsplätze bedroht, das waren jahrzehntelang immer die anderen. Erst seit der Finanznot des Staates diskutiert auch die Mittelschicht über Proletarisierung, Existenzängste oder „stilvolles Verarmen“. Die „Generation Praktikum“ hat den Blick auf die immer rasantere Verwandlung garantierter Arbeitsverhältnisse in schlecht oder gar nicht bezahlte Jobs gelenkt – eine Entwicklung, die in Wahrheit die gesamte Gruppe der Freiberufler und Kulturarbeiter betrifft. Dass ihre Erwerbsbiografien in den seltensten Fällen geradlinig verlaufen, haben sie am eigenen Leib erfahren müssen. Weil viele dennoch daran glauben, dass es sich um einen vorübergehenden Zustand handelt, schwankt die Reaktion hierzulande bislang zwischen nochmals erhöhtem persönlichem Einsatz und aggressiver Bejahung des eigenen Status als Lumpenintelligenzler.

Die Art und Weise, in der das prekär gewordene Leben in Deutschland öffentlich wahrgenommen und verhandelt wird, verhält sich in vielem spiegelbildlich zur Debatte um die „Neue Bürgerlichkeit“. Im einen Fall sucht die von Abstieg bedrohte Intelligenz Zuflucht beim Habitus einer untergegangenen Schicht, im anderen erklärt sie sich (wie vor einigen Wochen im Berliner Stadtmagazin Zitty) in vorauseilender Bereitschaft zu „urbanen Pennern“. Der ebenso stigmatisierende wie heroisierende Begriff umschreibt den Sachverhalt, dass das Anforderungsprofil für Journalisten, Web-Designer, Künstler sich radikal geändert hat. Der Kulturarbeiter von heute ist ein Dienstleister, der die Entgrenzung von Arbeit und Freizeit als Bereicherung erfahren und unablässig dazulernen muss. Doch selbst wenn seine Soft Skills (die Summe seiner kommunikativen und organisatorischen Fähigkeiten) überdurchschnittlich entwickelt sind, kann er mit einem festen Arbeitsplatz nicht rechnen. Deshalb lungert er mit dem Laptop in Cafés oder schlecht geheizten Ladenwohnungen herum, wo er Projekte vorantreibt, während das Geld dazu oft noch von den Eltern kommt.

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Für die jungen urbanen Freiberufler ist diese Erfahrung besonders bitter, waren es doch, historisch gesehen, die Mittelschichten, die durch praktizierte Alternativen zur Norm zugleich die Gesellschaft modernisierten. Das Leben in der großen Stadt, es enthielt stets das Versprechen, etwas Besseres zu finden als den Muff von 1000 Sofakissen, und die 68er-Generation ist das Paradebeispiel dafür, wie sich durch soziales Experimentieren auf Dauer Machtpositionen erobern lassen. Wer sich heute nach der Schule in seine Risikobiografie entlassen sieht, muss den Eindruck gewinnen, die Protestgeneration hätte mit der Arbeit auch noch die Utopien aufgebraucht. Selbst die Popmusik, einst weithin hedonistisch gestimmt, kennt mittlerweile bittere Töne. „Ist das noch Boheme oder schon die Unterschicht?“, fragt die Berliner Band Britta auf ihrer neuen Platte, die sie kürzlich in einem Kreuzberger Konzertsaal vorstellte. Kuschelig war’s, trotz der Kälte draußen, man konnte hinterher bei Bier und Energy-Drinks den Stand der eigenen Verarmung diskutieren – und blieb doch unter sich. In gebührender Entfernung, rund um den tristen U-Bahnhof, standen die echten urbanen Penner.

Der große Schulterschluss der Prekarisierten? Daran scheinen die Aktivisten des Euro Mayday selbst nicht ganz zu glauben. Denn obwohl einzelne Gruppen die Rolle der Migranten hervorheben, die als Bürger mit unsicherem Aufenthaltsstatus zweifellos zu den Spitzenprekarisierten gehören, haben arbeitslose Jungakademiker wenig mit unausgebildeten Burger-Bratern, arabischen Vorstadtjugendlichen oder osteuropäischen Sexarbeiterinnen gemeinsam. Es sind die Mittelschichten, die beim Euro Mayday tonangebend sind, Menschen wie Sophie Feyder und Gilles Bouché von der Praktikantenorganisation Génération précaire oder Ambra und Manu aus Turin, zwei Medienaktivistinnen, die in einem Interview auf der Mayday-Homepage von Sambagruppen und vom Kult um den heiligen Precario erzählen. Aus der Diversität soll die Kraft kommen. Und doch stellt sich die Frage, wie es weitergeht, wenn die Demonstration am 1. Mai vorübergezogen sein wird.

Entsprechend heiß umkämpft bleibt Prekarisierung als Begriff und Strategie. Von der Auffassung hängt es nämlich ab, ob man seine Arbeitsbiografie als Schicksal erlebt, insgeheim doch noch auf den Traumjob hofft, ob man mit gewerkschaftlichen Positionen liebäugelt oder, ganz im Gegenteil, den flexibilisierten Zeiten „progressive“ Aspekte abgewinnen kann. Die Theorieabteilungen des Euro Mayday weisen darauf hin, dass „Prekarität“ ohne einen ausdifferenzierten Begriff von gesellschaftlicher Arbeit allenfalls zur Agitationsfloskel taugt. Tatsächlich entscheidet sich am Begriff der Arbeit, ob es sich bei den Prekarisierten um bloße Opfer der gesellschaftlichen Entwicklung handelt oder nicht doch um eine Avantgarde, die bereits in die Kämpfe der Zukunft verstrickt ist. Denn wenn die Macht der Verhältnisse darin besteht, sich die lebendige Arbeit anzueignen, dann schlummert in diesem Sachverhalt kraft Dialektik auch der Same der Veränderung.

Quelle: T. Groß, „Von der Boheme zur Unterschicht,“ Die Zeit, 27. April 2006, Nr. 18. Online verfügbar unter: https://www.zeit.de/2006/18/Prekariat

Das neue Prekariat (27. April 2006), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/ein-neues-deutschland-1990-2023/ghdi:document-5303> [04.11.2024].