Kurzbeschreibung

Zwei Journalisten der Wochenzeitung Die Zeit reagieren kritisch auf das Transatlantische Manifest (ebenfalls in diesem Kapitel). Die Atlantiker, so ihr Tenor, vernachlässigen die Bedeutung der seit langem bestehenden Spannungen in den transatlantischen Beziehungen. Deutschland und Europa müssten mehr Verantwortung in politischen und sicherheitspolitischen Fragen übernehmen.

Eine andere Strategie für die transatlantischen Beziehungen (Oktober 2017)

Quelle

Im Westen was Neues

Fast könnte man Donald Trump dankbar sein: Indem er die transatlantische Partnerschaft unterminiert, schärft er den Sinn für das historische Glück, das für Deutschland in dieser Verbindung gelegen hat. Kein anderes Land hat so sehr von der amerikanisch geführten Weltordnung profitiert wie die Bundesrepublik. Der Atlantizismus war der Schirm, unter dem sich das politisch-moralisch ruinierte Deutschland rehabilitieren und in den Westen (re- ) integrieren konnte. Westbindung und Teilung nahmen Deutschlands Nachbarn die Angst und machten die deutsche Frage, diesen europäischen Albtraum, endlich lösbar.

Westdeutschland, und nach der Vereinigung das ganze Land, bekam durch die transatlantische Partnerschaft Zugang zur westlichen Moderne mit ihren drei Kernelementen Kapitalismus, kultureller Liberalismus und (für Deutschland das entscheidend Neue) aktive, selbstbewusste Bürgerschaft. Das trug mit bei zum Ende von Staatsvergötzung, Militarismus und Untertanengeist.

Dazu bekam man auch noch ein Sicherheitsarrangement in der Nato inklusive Teilhabe an den offiziell verteufelten Atomwaffen. Und die Amerikaner konnten damit leben, dass der kulturelle Hochmut gegenüber ihrer vermeintlich oberflächlichen Lebensweise lange bestehen blieb. Sie nahmen den Antiamerikanismus weiter Kreise achselzuckend hin und setzten auf die sanfte Macht ihres attraktiven Gesellschaftsmodells. All das schwingt heute mit, wenn es um die Zukunft der transatlantischen Beziehung geht.

Doch nun hat sich die Lage auf eine irrwitzige Weise verkehrt.

Die Atlantiker haben es heute mit dem Paradox zu tun, dass der Angriff auf die Grundfesten der von Amerika begründeten liberalen internationalen Weltordnung aus dem Weißen Haus kommt. Da sitzt ein Nationalist und bekennender Feind multilateraler Politik, der mit autoritären Führern sympathisiert und die EU unterminiert, indem er den Brexit unterstützt.

Dass die Konstanten und Prinzipien deutscher Außenpolitik ausgerechnet von der amerikanischen Regierung infrage gestellt werden, stellt eine enorme intellektuelle und strategische Herausforderung dar: europäische Integration, Multilateralismus, Einsatz für Menschenrechte und Rechtsstaat, regelbasierte Globalisierung – all das muss ein in Europa eingefügtes Deutschland künftig zur Not auch ohne, vielleicht sogar gegen die US-Regierung vorantreiben.

Alle Wünsche, Angela Merkel solle den Ausfall des US-Präsidenten als „Führerin der freien Welt“ kompensieren, sind unsinnig. Und doch berühren sie einen wahren Kern: Deutschland bleibt, mehr als andere Akteure, auf den Fortbestand der liberalen internationalen Ordnung angewiesen. Dies ist die neue deutsche Frage: Deutschland ist so groß, dass es ohne diese Ordnung nicht florieren kann, und doch zu klein, um sie allein garantieren zu können. In diesem Spannungsfeld wird sich auf absehbare Zeit die deutsche Außenpolitik bewegen. Weil der bisherige Garant dieser Ordnung immer mehr ausfällt, stellt sich die Frage nach dem deutschen Beitrag radikal neu.

Es kommt einer Selbsttäuschung gleich, darauf zu warten, dass die USA nach Trump wieder in ihre alte Rolle zurückfinden werden. Denn die transatlantische Krise hat nicht mit ihm begonnen, und sie wird nicht mit ihm enden. Warum mögen die Atlantiker das nicht sehen?

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Die wackelige Weltmacht verliert zusehends die Kontrolle

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So oder so können und wollen die USA nicht mehr Stabilisator und Schutzmacht Europas sein; der frühere Garant von Freiheit und Demokratie ist selber demokratisch aus der Fassung, und man muss beten, dass er sich irgendwann wieder einkriegt.

In dieses Irgendwann setzt nun die atlantische Gemeinde ihre letzte Hoffnung und spekuliert darauf, dass es sich beim Phänomen Trump um eine vorübergehende Abirrung handelt. Dafür spricht freilich nicht viel, weil ja schon der grundvernünftige Barack Obama damit angefangen hatte, die USA aus den Nachbarschaftskonflikten der Europäer zurückzuziehen. Den Ukrainekonflikt mit Russland überließ er Merkel, im Mittleren Osten tat er nur noch das Nötigste (und ließ ein Vordringen der Russen zu), und auch mit den nicht zuletzt durch die chaotische US-Politik im Mittleren Osten ausgelösten Flüchtlingsströmen ließ er die EU allein.

Selbst wenn die USA innenpolitisch wieder leidlich zur Vernunft kommen sollten, wird sich an diesen außenpolitischen Rückzügen wenig ändern, einfach weil der amerikanische Hegemon von seiner weltpolitischen Rolle überfordert ist. Nicht erst seit Trump verliert die wackelige Weltmacht zusehends die Kontrolle, über den Mittleren Osten ohnehin, immer mehr auch über Ostasien und Lateinamerika.

Damit entfallen die beiden Pfeiler des deutschen Atlantizismus: Die USA sind, erstens, kein Garant der Demokratie mehr, sie sind genauso gefährdet wie jede andere westliche Nation; und die USA haben zweitens jedweden moralischen, militärischen und politischen Führungsanspruch verwirkt.

Leider verleugnen die meisten Atlantiker diese Erkenntnisse. Stattdessen nehmen sie Zuflucht zu argumentativer Akrobatik. So wenden sie sich dagegen, dass Deutschland oder Europa sich nun mit großer Befreiungsgeste von den USA lösen sollten. Dabei ist es genau umgekehrt: Nicht die Europäer haben die Trennung begonnen oder beschlossen, sondern die USA. Vater ist ausgezogen – Kindheit vorbei.

Deutschland, so das zweite Hilfsargument, sei gar nicht in der Lage, die westliche Führung zu übernehmen, also müsse man weiter strategisch auf die USA setzen. Richtig daran ist, dass Deutschland nur dann führen kann, wenn Führung ganz anders, kooperativer, partnerschaftlicher definiert wird. Abgesehen davon, was hilft es: Wenn Deutschland zu schwach ist für das herkömmliche Führen, werden die USA dadurch ja keinen Deut vernünftiger, stärker oder altruistischer.

Wie sähe eine postatlantische westliche Politik aus?

Drittens sind die Atlantiker der Meinung, dass Deutschland, das zurzeit die EU stabilisiert, selber gar nicht so stabil sei, wie es scheine. Das mag so sein, doch kann diese Skepsis nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich zurzeit die USA von allen großen westlichen Nationen in der schlimmsten demokratischen Regression befinden und von ihnen eine beunruhigende Instabilität für die gesamte Welt ausgeht.

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Wie also sähe eine postatlantische westliche Politik in ihren Grundrissen aus?

Eine zu ergänzende Liste neuer außenpolitischer Prioritäten könnte so beginnen: Frankreich ohne pädagogischen Impetus stützen; den Brexit ohne Straf-Fantasien managen; Trumps Schaden für den Westen begrenzen; Russlands Aggression entschlossen abwehren; die Türkei im europäischen Spiel halten; die Sogwirkung Europas für Afrikas aufstrebende Bevölkerung reduzieren und zugleich gesteuerte Einwanderung zulassen; China einbinden, wo immer es unverzichtbar ist (Freihandel, Klimapolitik, Nordkoreakrise), und konfrontieren, wo es foul spielt (geistiges Eigentum, Dispute im Südchinesischen Meer, Menschenrechte).

Die deutsche Außenpolitik wird zunehmend Dinge gleichzeitig tun müssen, die auf den ersten Blick widersprüchlich sind. Zum Beispiel: Deutschland muss viel generöser Geld für (und in) Europa ausgeben; sich bei den europäischen Nachbarn im Osten klar gegen die Aufweichung der liberalen Ordnung einsetzen – aber nicht aus der Haltung des demokratischen Oberlehrers. Mehr Afrikanern legale Chancen in Europa einräumen, zugleich die Grenzen besser schützen. Lauter gegen den autoritären Umbau in Ankara Stellung nehmen und doch schon jetzt eine aktive Türkeipolitik ohne Beitritts- und Abschottungsillusionen für die Zeit nach Recep Tayyip Erdoğan konzipieren. Kurzum, die deutsche Politik müsste ihre Ambivalenzkompetenz deutlich erhöhen.

Deutschland hat wenig Übung in strategischer Außenpolitik, weil man sich so lange in einem von anderen garantierten Rahmen bewegen durfte. Da entsteht nun gewiss eine neue Anforderung, weil die westliche Politik aus dem Rahmen fällt und weil Berlin nicht mehr immer erst gucken kann, was die anderen machen. Denn heute schauen die anderen erst mal, was Berlin macht.

Ambivalenzkompetenz erhöhen, strategisches Denken schärfen – es gibt noch etwas Drittes, das vielleicht Anspruchsvollste. In gewisser Weise muss der Westen, müssen Europa und eben auch Deutschland die internationale Politik neu erfinden. Schließlich sind nicht nur die USA schwach geworden, der Rest der Welt ist stärker geworden. Jetzt stellen sich lange mitgeschleppte und kaum adressierte Fragen neu: Wie kann man auf der universellen Geltung der Menschenrechte beharren, während man zugleich seinen eigenen Suprematie-Anspruch aufgeben muss? Oder, positiv ausgedrückt: Was passiert, wenn die daheim demokratischen Länder der Welt damit aufhören, international autokratisch aufzutreten? Praktischer gesagt: Welchen Effekt könnte es haben, wenn die Kluft zwischen Eingriffstiefe und Erkenntnistiefe bei der westlichen Politik nicht mehr so gewaltig wäre, wenn man sich also für die Länder und Menschen, die da beeinflusst und verändert werden sollen, im Detail interessieren würde?

Emmanuel Macron hat es bei seinem Deutschlandbesuch am Beispiel des Mittleren Ostens sehr gut gesagt: „Wir haben uns durch die Unfähigkeit ausgezeichnet, unsere Nachbarschaft zu dieser Region anders als in neokonservativen Kategorien zu denken." Europa habe es versäumt, alternative außenpolitische Denkmuster zu entwickeln. Jetzt kann es das. Weil es muss.

Eines noch: All das gilt nur, wenn die USA keinen Krieg gegen den Iran oder gegen Nordkorea beginnen. Denn in dem Falle wüchse sich die neue transatlantische Entfernung zu einem geopolitischen Konflikt ersten Ranges aus. Beim ersten Schuss von Trump wäre der Westen tot.

Quelle: Jörg Lau und Bernd Ulrich, „Im Westen was Neues“, Zeit Online, 18. Oktober 2017. Online verfügbar unter: http://www.zeit.de/2017/43/aussenpolitik-deutschland-usa-transatlantische-beziehungen-werte/komplettansicht