Kurzbeschreibung

Der russische Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 zwang Deutschland, seine engen wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland und insbesondere seine hohe Energieabhängigkeit von Russland zu überdenken. Das Nord-Stream-II-Pipelineprojekt hätte diese Abhängigkeit noch verstärkt, wurde aber nach Russlands Angriff auf die Ukraine gestoppt. Im Zuge der Wirtschaftssanktionen gegen Russland, die von den USA, der Europäischen Union und anderen westlichen Demokratien verhängt wurden, musste Deutschland seine Energiepolitik erheblich anpassen. Dieser Artikel beschreibt die Auswirkungen sowohl für die Verbraucher, deren Energiekosten in die Höhe schnellten, als auch für die energieintensive Industrie, die neue Energiequellen finden musste, um den Verlust des billigen russischen Gases zu kompensieren.

Deutschland ohne russisches Gas (2. November 2022)

Quelle

Wie Deutschland ohne russisches Gas auskommt

Mit Preisobergrenzen, einem Rückgriff auf fossile Brennstoffe und freiwilligen Rationierungen hofft Deutschland, in diesem Winter ohne russisches Gas auszukommen. Aber die Industrie könnte sich nach billigeren Standorten im Ausland umsehen.

„Wir heizen mit Gas. Und das ist natürlich ein großes Thema für uns.“

Sonja Bade betreibt eine Frühstückspension in der Küstenstadt Lubmin. Zusammen mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern lebt und arbeitet sie in dem charmanten, 115 Jahre alten Haus, das nur wenige Straßen vom Ostseestrand entfernt liegt. Doch der einsetzende Winter macht ihr Sorgen.

„Ob mit oder ohne Frühstückspension, ich kann es mir nicht leisten, dieses Haus zu behalten, wenn sich die Gaspreise verdreifachen oder vervierfachen. Ich kann es einfach nicht“, sagte sie, als sie abends mit DW im Frühstücksraum saß. „Und niemand kann mir sagen, dass andere es auch könnten.“

Sie befürchtet auch, dass die steigenden Energiekosten die Touristen fernhalten werden. Ein Gast hat bereits abgesagt, weil er sich Sorgen um seine eigene Energierechnung macht.

Verpfuschte Energiepolitik

Das ist ein schlechtes Omen für den Tourismus, einen der wichtigsten Wirtschaftszweige in Lubmin. Aber dieselben Küstenbedingungen, welche die Stadt zu einem beliebten Badeort machen, machten sie auch zum idealen Endpunkt für die russischen Ostseepipelines Nord Stream. Nord Stream 1 (NS1) war eine der wichtigsten Gasversorgungsrouten Europas, über die im Jahr 2021 55 Milliarden Kubikmeter Gas aus Russland über Lubmin geliefert werden sollten, was 45 % der EU-Gasimporte entspricht. In Deutschland stammt über die Hälfte des verbrauchten Erdgases aus Russland.

Im August stellte der staatliche russische Energieriese Gazprom die Durchleitung der Pipeline inmitten der Spannungen mit der EU wegen des Krieges in der Ukraine ein. Nord Stream 2 (NS2), eine zweite, parallel zu NS1 verlaufende Pipeline, sollte 2021 fertiggestellt werden, wurde aber aufgrund der russischen Invasion nie in Betrieb genommen.

„Es ging nicht darum, ein Milliardenprojekt in der Ostsee zu versenken“, sagte Falco Beitz, SPD-Landtagsabgeordneter in Mecklenburg-Vorpommern, der DW.

Unter blauem Himmel im Yachthafen von Lubmin, auf der anderen Seite eines kleinen Kanals in der Nähe der Nord Stream-Anlagen, erklärt Beitz, wie der Krieg Russlands in der Ukraine die Ansichten über die Energiepolitik der Bundesregierung verändert hat. „Seit dem 24. Februar gibt es natürlich eine andere Sichtweise“, sagt Beitz und meint damit den Tag, an dem Russland in die Ukraine einmarschierte. „Es gibt ein Vorher und ein Nachher. Aus heutiger Sicht war [NS2] nicht die richtige Strategie.“

Heizkosten explodieren

Um die von Russland hinterlassene Lücke zu schließen, musste Deutschland Gas und andere Energiealternativen auf dem teuren Spotmarkt kaufen. Dies hat zu höheren Preisen für die Verbraucher geführt. Laut dem Energiepreisportal Check24 kostet ein Jahresgasvertrag für einen deutschen Haushalt heute 173 % mehr als noch vor einem Jahr. Das sind 3.726 € für einen durchschnittlichen Jahresverbrauch von 20.000 Kilowattstunden (kWh), verglichen mit 1.365 € im Vorjahr.

„Russland führt praktisch einen Gaskrieg gegen Europa“, sagte Beitz. „Und wir müssen uns nach alternativen Wegen umsehen, um das aktuelle Problem zu lösen.“

Deutschland hat lange nach Lösungen gesucht. Im Oktober senkte die Bundesregierung die Steuern auf Gas und verabschiedete ein 200-Milliarden-Energieentlastungspaket. Diese Woche (31. Oktober) hat eine Kommission von Wirtschaftsexperten einen Bericht veröffentlicht, in dem sie eine Gaspreisobergrenze für Verbraucher befürwortet. Durch diese Maßnahme könnte ein durchschnittlicher Haushalt rund 1.056 Euro pro Jahr einsparen. Es wird erwartet, dass Berlin viele der Vorschläge der Kommission annehmen wird.

Befürchtung eines Ausstiegs aus der Industrie

Die Gruppe schlug auch eine Preisobergrenze für große Industrieunternehmen vor, die jedoch an die Bedingung geknüpft werden sollte, dass die bestehende Produktion in Deutschland bleibt. Da billiges russisches Gas nun ein Relikt der Vergangenheit ist, besteht die Sorge, dass Unternehmen energieintensive Produktionen in Länder mit niedrigeren Kosten verlagern könnten.

Rund 44% der in Deutschland verbrauchten Endenergie wird für Nichtwohnzwecke – dazu gehören Industrie und Gewerbe – eingesetzt. Nach Angaben des Bundesumweltministeriums werden etwa zwei Drittel dieser Endenergie in Form von Wärme benötigt. Mehr als ein Viertel dieser Energie entfällt auf Gas. Erneuerbare Energien machen nur 3 % aus.

Renaissance der fossilen Brennstoffe?

Während die Internationale Energieagentur in einem neuen Bericht feststellt, dass Russlands Krieg die weltweite Abkehr von fossilen Brennstoffen, zu denen auch Erdgas gehört, „beschleunigt“ hat, ist Deutschlands kurzfristiger Ansatz durchwachsen. Alte Kohlekraftwerke wurden wegen der Energiekrise wieder ans Netz gebracht, und die Frist für die Abschaltung der letzten drei Kernkraftwerke des Landes wurde bis 2023 verlängert. Die Kernenergie wird in der EU-Energietaxonomie als „grün“ bezeichnet, doch die Deutschen sind notorisch abgeneigt gegenüber der Kernenergie, weil sie Unfälle befürchten und die Frage der Lagerung von Atommüll strittig ist.

Unterdessen hat der Verlust des russischen Gases die rasche Entwicklung von mindestens fünf Flüssigerdgas-Terminals in Deutschland, darunter in Lubmin, in Gang gesetzt. Kritiker halten den Ausbau der LNG-Infrastruktur jedoch für falsch, da Deutschland seinen Verbrauch an fossilen Brennstoffen reduzieren muss, um seine Kohlenstoffemissionsziele zu erreichen.

Dreht die Heizung herunter

Nach Angaben der Bundesnetzagentur (BNA), die das deutsche Stromnetz verwaltet, sind die Gasspeicher in Deutschland vorerst voll und reichen für die nächsten zwei bis drei Monate aus. Doch deutsche Winter können viel länger dauern.

„Im Februar und März kann es noch richtig kalt werden, sogar bis in den April hinein“, sagte BNA-Sprecher Fiete Wullf der DW. „Und man muss wissen, dass Deutschland viel abhängiger von Gas zum Heizen ist als viele andere Länder, daher spielt die Temperatur eine sehr wichtige Rolle.“

Trotz der Bemühungen, alternative Versorgungsmöglichkeiten zu finden, müssen die Deutschen also die Heizung herunterdrehen, um die vom Bund verordnete Rationierung zu vermeiden.

„Wenn wir es schaffen, den Gasverbrauch in Deutschland in diesem Winter deutlich zu senken“, so Wulff, „wir sagen mindestens 20 Prozent, dann haben wir gute Chancen, durch den Winter zu kommen.“

Quelle: Kristie Pladson und Neil King, “How Germany is Coping without Russian Gas”, DW.com, 2. November 2022. https://www.dw.com/en/how-germany-is-coping-without-russian-gas/a-63621148

Übersetzung: GHI