Quelle
[…] Mit der historischen Öffnung der Mauer am 9. November 1989 in Berlin veränderte sich die innerdeutsche Lage grundlegend und nicht mehr revidierbar. Die bisher abgeriegelte Grenze wurde in kürzester Frist überall durchlässig. Zugleich beschleunigte sich die Erosion des politischen Regimes in der DDR. Und im weiteren Verlauf wurde damit auch der Beginn der friedlichen Widervereinigung der seit Kriegsende getrennten beiden Teile Deutschlands eingeläutet.
Diese innerdeutsche und auch das Ost-West-Verhältnis anderer Länder betreffende Entwicklung veränderte natürlich auch das Umfeld und die Perspektiven für die Beratungen über die weitere Integration in Europa. Nicht nur in der Presse, sondern auch in politischen Kreisen einiger westeuropäischer Länder wurden schon bald neben der Zustimmung zur Beseitigung der bisherigen Zwangsregime auch Vorbehalte gegen eine mögliche deutsche Wiedervereinigung deutlich. Man fürchtete offenbar, dass ein zu großes Deutschland in Zukunft das in der Nachkriegszeit entstandene Gleichgewicht in Westeuropa stören und die ohnehin durch die Stärke der D-Mark oft als dominant empfundene Position Deutschlands in der EG verstärken könnte. Und als Bundeskanzler Kohl am 28. November 1989 sein zuvor weder mit Frankreich noch mit anderen Partnern abgestimmtes „10-Punkte-Programm zur Deutschen Einheit“ im Deutschen Bundestag vortrug, wurden seitens mehrerer Regierungen in Europa deutliche Reserven laut. Vor allem in Paris empfand man es offenbar als nicht angemessen, nicht vorher über einen so wichtigen Vorgang informiert worden zu sein. Inhaltlich kritisiert wurde an dieser Erklärung insbesondere auch das Fehlen einer ausdrücklichen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Kritik kam jedoch ebenso aus einigen anderen Hauptstädten wie Rom und Den Haag, am deutlichsten aus London. Vor allem Frau Thatcher machte auch in der Öffentlichkeit keinen Hehl aus ihrer deutlichen Kritik an dem 10-Punkte-Programm Kohls. Die schlussendlich von Kohl anvisierte Wiedervereinigung lehnte sie offenkundig ab.
Die politische Stimmungslage für die weiteren Beratungen über die Wirtschafts- und Währungsunion war jedenfalls im Vorfeld des für den 8. und 9. Dezember vorgesehenen Straßburger Gipfels nicht besonders günstig. In dieser Situation ergriff der Bundeskanzler die Initiative und übermittelte dem französischen Staatspräsidenten mit einem persönlichen Schreiben einen Arbeitskalender für das weitere Vorgehen auf Gemeinschaftsebene in Sachen Wirtschafts- und Währungsunion. Für den Europäischen Rat in Straßburg schlug er eine erste Aussprache über die weiteren institutionellen Reformen auf Gemeinschaftsebene vor. Die vom französischen Vorsitz vorgesehene Regierungskonferenz für die Vertragsgrundlagen der Wirtschafts- und Währungsunion (Regierungskonferenz I. Teil) könne dann „auf der Grundlage der Berichte der fachlich zuständigen Gremien und unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen Erfahrungen“ im Dezember 1990 in Rom beschlossen und durch eine zusätzliche Regierungskonferenz „für die weiteren institutionellen Reformvorhaben“ (Regierungskonferenz II. Teil) ergänzt werden. Dieser Vorschlag sollte deutlich machen, dass die Bundesregierung gerade auch im Kontext mit der jetzt aktuell gewordenen Frage der deutschen Wiedervereinigung an ihren Zielen für die Weiterentwicklung der europäischen Integration festhalten wollte, die sie allerdings nicht als auf die Wirtschafts- und Währungsunion begrenzt ansah. Was das Verhältnis der deutschen Wiedervereinigung und der Weiterentwicklung der europäischen Integration angeht, so hat Bundeskanzler Kohl diesen Zusammenhang später oft mit dem Bild von den zusammengehörenden „zwei Seiten einer Medaille“ verdeutlicht. Die deutsche Wiedervereinigung müsse verbunden werden mit einer weitergehenden Integration Europas.
Diese deutsche Initiative wurde auf dem Straßburger Gipfel selbst aber nur wenig positiv gewürdigt. Im Vordergrund standen zunächst bei manchen Staats- und Regierungschefs offenbar die politischen Sorgen im Zusammenhang mit einer deutschen Wiedervereinigung. Helmut Kohl sprach später davon, dass er „niemals einen EG-Gipfel in so eisiger Atmosphäre miterlebt habe“ und sich einer „fast tribunalartigen Befragung“ ausgesetzt gesehen habe.[1] Seine Vorschläge für die weiteren Arbeiten zur Wirtschafts- und Währungsunion wurden zwar am Schluss von Präsident Mitterrand aufgegriffen, aber zunächst nur zum Teil. Zwar stellte dieser am Schluss der Sitzung fest, dass „die erforderliche Mehrheit“ (Frau Thatcher hatte nicht zugestimmt) für die Einberufung der Regierungskonferenz für die Vertragsverhandlung zur Wirtschafts- und Währungsunion vor Ende 1990 gegeben sei, die Entscheidung über die vom Bundeskanzler gleichfalls vorgeschlagene Regierungskonferenz für die weiteren institutionellen Reformvorhaben wurde jedoch zunächst vertagt. Präsident Mitterrand wollte offensichtlich die Vertragsverhandlungen zur Wirtschafts- und Währungsunion nicht mit Kontroversen über die politische Union belasten. Er sprach deshalb nur von einer „Perspektive der Konföderation, die noch gefunden werden muss“.[2]
Erst nach mehreren bilateralen Gesprächen zwischen Kohl und Mitterrand kam es für den Gipfel am 25./26. Juni 1990 zu einem gemeinsamen französisch-deutschen Vorschlag für eine zweite Regierungskonferenz, der dann auch von den anderen Teilnehmern akzeptiert wurde. Aus deutscher Sicht war damit – zumindest formal – die sogenannte Parallelität zwischen den Verhandlungen über die Wirtschafts- und Währungsunion und über die politisch-institutionelle Weiterentwicklung der Gemeinschaft gewährleistet. Inhaltlich blieb aber diese Parallelität schon damals weitgehend offen. Hinzu kam, dass die Zuständigkeiten innerhalb der Regierungen für diese Parallelverhandlungen unterschiedlich verteilt waren. Während die Hauptverantwortung für den Wirtschafts- und Währungsteil bei den Finanzministern lag, waren die Außenminister primär für die politisch institutionelle Weiterentwicklung zuständig. Und in diesem Bereich hat es trotz vielfältiger Bemühungen in der Folgezeit nur begrenzte Fortschritte gegeben, wie die Ergebnisse der Gipfel von Amsterdam (1997) und Nizza (2000) deutlich gezeigt haben. Ähnliches gilt leider auch für den jetzt zur Ratifizierung anstehenden sogenannten Verfassungsvertrag.
Anmerkungen
Quelle: Hans Tietmeyer, Herausforderung Euro. Wie es zum Euro kam und was er für Deutschlands Zukunft bedeutet. München und Wien: Hanser, 2005, S. 138–41.