Kurzbeschreibung

Der konservative Journalist Rainer Zitelmann argumentiert in seinem Aufsatz, die Linksintellektuellen seien für die Verbreitung des deutschen Selbsthasses verantwortlich, den er nicht zuletzt deshalb für schädlich hält, da er die Intellektuellen von der Bevölkerung distanziere.

Für Zitelmann ist der linke deutsche Selbsthass nicht nur ein Resultat der NS-Vergangenheit, sondern vor allem auch ein Ergebnis des frustrierten Aufklärungseifers und Sendungsbewusstseins. Zudem kritisiert er die Linke dafür, einen Diskurs eröffnet zu haben, welcher die deutsche Teilung als akzeptable dauerhafte Lösung betrachtete.

Rainer Zitelmann: Wiedervereinigung und deutscher Selbsthass (1992)

Quelle

Wiedervereinigung als Trauma

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Bei den Einheits-Gegnern Grass, Habermas und Kuby sind die Horrifizierung der deutschen Geschichte und die Enttäuschung darüber ausschlaggebend, daß die vermeintliche „Überwindung des Nationalen“ in der Bundesrepublik eben doch ein Trugschluß war. Vielleicht sind Grass, Habermas und Kuby nur die ehrlichen, und nicht-opportunistischen Vorsprecher einer Mehrheit unter den bundesdeutschen Intellektuellen, die über Jahrzehnte hinweg die deutsche „Zweistaatlichkeit“ als ewigglückseligmachenden Endzustand der deutschen Geschichte verklärt hat.[1] Nur wenige entzogen sich diesem Konsens. Martin Walser, einer dieser wenigen, konstatierte im Oktober 1988: „Die Mehrheit der Wortführer, links und rechts, arbeitet mit an der Vernünftigmachung der Teilung . . . Linke, Intellektuelle und Rechte sind sich bei uns im Augenblick wahrscheinlich über wenig so einig wie darüber: die Teilung ist annehmbar.“[2] Ein ungeteiltes Deutschland, so Walser im Oktober 1989, sei für „die Schriftsteller, die Intellektuellen, die Philosophen . . . entweder das Unwichtigste oder das Unerwünschteste. Wer bei uns die Trennung nicht hinnehmen will, dem wird die intellektuelle und die moralische Zurechnungsfähigkeit bestritten.“[3]

Der Traum vom Ende des Nationalstaates war keineswegs nur ein linker Traum. Auch viele liberale und katholisch-konservative Intellektuelle in der Bundesrepublik empfanden die deutsche Teilung eher als Chance denn als Last. Dennoch scheint es so, als hätten sich die konservativ-liberalen Intellektuellen schneller und problemloser mit dem Ende der Zweistaatlichkeit abgefunden als die Linken. Immerhin konnten sie darauf verweisen, daß sich alles, was sie über den Sozialismus/Kommunismus gesagt hatten, als zutreffend herausstellte. Den Sieg des liberalen und marktwirtschaftlichen Systems über die sozialistische Planwirtschaft konnten die liberal-konservativen Intellektuellen auch als Triumph des eigenen Glaubensbekenntnisses über sozialistische Träumereien empfinden.

Für die Linke stellte sich die Situation anders dar. Sie hatte in den siebziger und achtziger Jahren im intellektuellen Diskurs der Bundesrepublik die kulturelle Hegemonie errungen. Mit Befriedigung konstatierte Habermas eine „Linksverschiebung des politischen Spektrums“,[4] äußerte aber zugleich seine Befürchtung darüber, diese Linksverschiebung könne angesichts der jüngsten Entwicklungen eine Revision erfahren. Diese Sorge wurde durch Vermutungen über die mentalen Folgen der Einheit noch bestärkt. Habermas befürchtete, die von den „neuen sozialen Bewegungen“ thematisierten „postmateriellen Wertorietierungen“ und die von ihnen getragene „Protestkultur“ könnten sich als Folge der Vereinigung beider deutscher Staaten in den Hintergrund schieben (S. 76 f.).[5] Der „im ganzen progressive Wandel in Motiven und Einstellungen“ (S. 77) der bundesdeutschen Bevölkerung könne durch die Vereinigung einen Rückschlag erhalten, „denn die DDR hat den dramatischen Wandel der Wertorientierungen, der sich in der Bundesrepublik seit den späten 60er Jahren vollzogen hat, noch nicht nachgeholt“ (S. 78). Man ahnt, was Habermas meint: Multikulturelle Visionen, feministische Utopien, progressiver Antifaschismus und engagierter Anti-Antikommunismus, also all jene Einstellungen, die seit der bundesdeutschen Kulturrevolution von 1968 zum „guten Ton“ in der „aufgeklärten“ und „kritischen“ Öffentlichkeit gehören, finden in der Ex-DDR nur wenig Anklang. – Für die deutsche Linke war das Jahr 1990 in jeder Hinsicht schwierig und deprimierend. Die SPD verlor mit ihrem antinationalen Kanzlerkandidaten haushoch die Bundestagswahl, den Grünen (West) gelang nicht einmal der Einzug in den Bundestag, die Deutsche Kommunistische Partei und ihre Vorfeldorganisationen gerieten in eine existentielle Krise.[6] Auf einmal wurde nicht mehr nur von den Verbrechen der Nationalsozialisten gesprochen, sondern auch von denen des Kommunismus. Dabei hatte sich seit 1968 zunehmend ein Anti-Antikommunismus in der Bundesrepublik durchgesetzt, der die Verhältnisse in den kommunistischen Ländern beschönigte[7] und die Thematisierung der im Namen des Sozialismus begangenen Verbrechen tabuisierte. Bislang trug sich die Linke mit einem – in der intellektuellen Debatte weitgehend unbestrittenen – Bewußtsein moralischer Überlegenheit. „Die Rechte“ sah sich unter ständigem Rechtfertigungszwang, weil sie immer wieder mit den negativen Kontinuitäten der deutschen Geschichte oder gar mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in Verbindung gebracht wurde. Die Linke hingegen, von dem Bewußtsein der Übereinstimmung mit einer unaufhaltsamen historischen Tendenz durchdrungen, sah sich als alleinige Hüterin von positiv belegten Werten und Tendenzen wie Aufklärung, Emanzipation und Humanismus. Die „Progressiven“ standen also auf der richtigen Seite der Geschichte; die nationalen und konservativen Kräfte aber waren die Ewig-Gestrigen. Über sie hatte die historische Entwicklung schon ihr unerbittliches Urteil gesprochen oder sollte es bald sprechen. Mit all diesen Gewißheiten schien es nach den Ereignissen der Jahre 1989 und 1990 vorbei.

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Rolf Stolz, einstmals Mitbegründer der Grünen und Initiator der „Linken Deutschlanddiskussion“, warnt in seinem Buch Der deutsche Komplex davor, das Phänomen des linken deutschen Selbsthasses zu unterschätzen: „Die Deutschen als lebensunwertes Leben, Deutschland teils als absolute politische Unmöglichkeit, teils als Krebsgeschwür Europas – das ist jenes zugespitzte, übersteigerte Selbst(haß)gefühl, das in dieser Radikalität bisher nur eine gewisse Szene erfaßt hat, aber heute bereits in abgemilderter Form ein tatsächliches Massenphänomen ist.“[8] Sicher ist es übertrieben, von einem „Massenphänomen“ zu sprechen, aber es wäre in der Tat verfehlt, den Selbsthaß nur als Phänomen kleiner Randgruppen der linksextremistischen Szene abzutun. Michael Schneider räumt denn auch ein: „Offenbar gibt es kein hartnäckigeres Relikt der deutschen Vergangenheit als den linken deutschen Selbsthaß, der auch mir nicht fremd ist.“[9] Ob der linke deutsche Selbsthaß allerdings primär als „Relikt der Vergangenheit“ zu begreifen ist, muß bezweifelt werden.

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Der linke deutsche Selbsthaß ist nicht nur ein Resultat der NS-Vergangenheit, sondern vor allem auch ein Ergebnis des frustrierten Aufklärungseifers und Sendungsbewußtseins. Die Linke fühlte sich als wahrhafte Vertreterin der „objektiven Interessen“ der „Massen“ des Volkes. Die Massen wollten und wollen aber nicht auf die Linke hören. Viele Bücher und Aufsätze in linken Zeitschriften sind zu der Frage erschienen, warum die „Massen“ ihre Interessen nicht erkennen und ihnen zuwiderhandeln. Diese Erfahrung war um so schmerzlicher, als sie mit einem enormen, höchst „engagierten“ Missions-Eifer korrespondierte. Aus der Frustration über dieses weitgehend ins Leere laufende Sendungsbewußtsein entwickelte sich bei vielen Linken eine Distanz zum eigenen Volk, bei einigen sogar eine massive Abneigung, die in Haß umschlagen konnte. Dies ist eine wesentliche Wurzel des Selbsthasses, der im Grunde kein Selbsthaß im eigentlichen Wortsinn ist, weil man nicht sich selbst haßt, sondern das „Restvolk“.

Man spricht ja von „den Deutschen“ so, als gehöre man selbst gar nicht dazu. Und in der Tat: man fühlt sich nicht zugehörig. Man hat sich selbst ausgegrenzt und fühlt sich in dieser Ausgrenzung zugleich wohl und auch wiederum sehr unwohl.

Es handelt sich auch um eine soziale Kluft, nämlich um eine Kluft zwischen den Intellektuellen und dem Volk. „Zwischen Intelligentsija und Leut‘ wird die Klassenkluft immer gährender“, so hat Günther Nenning richtig beobachtet. „Wir Intellektuellen sind erfüllt von absolut richtiger Menschlichkeit, die uns nichts kostet. Das Volk, dies merkend, ist erfüllt von absolut berechtigtem Mißtrauen gegen uns Intellektuelle . . . Ein Gutteil des Raumes der hoch- und halbintellektuellen Medien ist erfüllt mit dem Thema: Wir mögen unser Volk nicht. Unser Volk ist blöd und faschistoid. Fast keinerlei Raum der hoch- und halbintellektuellen Medien ist erfüllt mit dem Thema: Was ist los mit der Intelligentsija? Warum kann die Intelligentsija das Volk nicht leiden? Hat das wechselseitige Unverständnis zwischen Intellektuellen und Leut‘ seien Grund nur darin, daß die Intellektuellen aufgeklärt und das Volk blind ist?[10]

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Anmerkungen

[1] Vgl. dazu: Jens Hacker, Deutsche Irrtümer, Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen, Berlin-Frankfurt/M. 1992
[2] Martin Walser, Über Deutschland reden, Frankfurt/M. 1990, S. 100.
[3] Ebd., S. 101.
[4] Jürgen Habermas, „Die Stunde der nationalen Empfindung. Republikanische Gesinnung oder Nationalbewußtsein?“ in: ders., Die nachholende Revolution. Frankfurt am Main, 1990, S. 163.
[5] Jürgen Habermas, Vergangenheit als Zukunft, Zürich 1990.
[6] Vgl. Manfred Wilke, „DKP und PDS nach dem Ende des deutschen Kommunismus“, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus und Demokratie 3 (1991), S. 147–58.
[7] Dies gilt auch für weite Teile der bundesdeutschen DDR-Forschung. Vgl. dazu kritisch: Eckhard Jesse, „Wie man eine Schimäre zum Leben erweckt,“ Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. August 1990; Konrad Löw, „Die bundesdeutsche politikwissenschaftliche DDR-Forschung und die Revolution in der DDR“, Zeitschrift für Politik 38 (1991), S. 237–254.
[8] Rolf Stolz, Der deutsche Komplex. Alternativen zur Selbstverleugnung, Erlangen u.a. 1990, S. 43.
[9] Michael Schneider, Die abgetriebene Revolution. Von der Staatsfirma in die DM-Kolonie, Berlin 1990, S. 112.
[10] Günther Nenning, Die Nation kommt wieder. Würde, Schrecken und Geltung eines europäischen Begriffs, Zürich 1990, S. 96 f. Ähnlich fragt auch Paul Noack in seiner anregenden Studie: Deutschland, deine Intellektuellen. Die Kunst, sich ins Abseits zu stellen, Stuttgart u.a., 1991.

Quelle: Rainer Zitelmann, „Wiedervereinigung und deutscher Selbsthaß“, Deutschland-Archiv 25, Nr. 8 (1992), S. 811–20.

Rainer Zitelmann: Wiedervereinigung und deutscher Selbsthass (1992), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/ein-neues-deutschland-1990-2023/ghdi:document-3418> [23.04.2024].