Kurzbeschreibung

Als Reaktion auf einen Angriff von Jürgen Habermas versucht der Philosoph Hermann Lübbe, den demokratischen Konservatismus als akzeptable Alternative zur politischen Linken zu rehabilitieren und lehnt die Forderungen der 68er als übertrieben ab.

Hermann Lübbe über Konservatismus (1983)

Quelle

[]

Es ist aus historischen Gründen plausibel, daß in der deutschen politischen Nachkriegssprache das Wort „konservativ“ relativ selten zu Selbstkennzeichnungszwecken, dafür um so häufiger in der Absicht verwendet wurde, dem politischen Gegner ein Epitheton von zweifelhafter Anmutungsqualität anzuheften. Besonders die Neue Linke hat reichlich Gebrauch davon gemacht, und sie hat die abstempelnde Wirkung dieses Verfahrens noch zu steigern versucht, indem sie den Konservativen Absichten zusprach, die geeignet waren, diese politisch, moralisch und intellektuell zu disqualifizieren. So konnte man lesen, Hauptzweck konservativer intellektueller und politischer Praxis sei es, illegitime Privilegien zu verteidigen. Andere erklärten die Konservativen zur Wachkompanie vermeintlich obsolet gewordener Tugenden wie „Fleiß“ oder „Treue“, und man vergaß nicht hinzuzufügen, daß ja auch Adolf Eichmann ein sehr fleißiger Ideologie-Exekutor gewesen sei und „Unsere Ehre heißt Treue“ eine SS-Parole. Wieder andere erneuerten das traditionsreiche Vorurteil, die Intelligenz stünde links, und sie fanden entsprechend, für Konservative sei ein „gestörtes Verhältnis“ zur literarischen und künstlerischen Moderne charakteristisch.

Indessen: Es rächt sich stets, den Gegner zu unterschätzen. Wer ein Wort zu Abstempelungszwecken mißbraucht, indem er es Leuten eigenständigen Denkens anhängt, die sich in der politischen und kulturellen Öffentlichkeit ein anderes Ansehen erworben haben als die Abstempler wollen, daß sie es hätten, wertet dieses Wort auf. Das ist die semantische Dialektik, die aus Pudenda Signa macht, und ein wenig von dieser Dialektik ist inzwischen auch dem Wort „konservativ“ zugute gekommen. Für die Sprache der Politik ist das ein Gewinn und für die deutsche Politik sogar ein Normalisierungsvorgang. Es erleichtert nämlich auch bei uns die politische Diskussion, wenn zur wechselseitigen Verständigung über Positionen und Absichten das Wort „konservativ“ wieder ohne jeden Diffamierungsanklang zur Verfügung steht. Insbesondere trägt das auch zum sprachlichen Ausgleich zwischen deutscher und englisch-amerikanischer politischer Kultur bei, und sogar die sozialdemokratische Linke sieht sich ja inzwischen nicht mehr gehindert, Konservativismus unter dieser Kennzeichnung für sich in Anspruch zu nehmen – wie Erhard Eppler mit seinem „Wertkonservativismus“.

Zuletzt noch hat Jürgen Habermas gemäß der skizzierten semantischen Dialektik einen wirksamen Beitrag zur intellektuellen und politischen Aufwertung konservativer Orientierung geleistet, und zwar mit seiner Kritik des bundesdeutschen sogenannten Neo-Konservativismus, die in der Zeit des Endes der linksliberalen Koalition mehrfach erschienen ist.[1] Auch in diesem Falle war es die Absicht, den „Neo-Konservativismus“ durch den Nachweis zu treffen, er sei in seiner Vergangenheitsabhängigkeit den Herausforderungen unserer gesellschaftlichen und kulturellen Gegenwartslage nicht gewach­sen. Den Neo-Konservativen wurden Meinungen und Absichten unterstellt, die in der Evidenz der Unwahrscheinlichkeit, daß es sich tatsächlich um Meinungen und Absichten ernstzunehmender Leute handeln könne, schließlich für diese zu sprechen begannen. Das läßt sich exemplarisch an einigen Unterstellungen im Kontrast zu Auffassungen zeigen, die man statt dessen bei den Neo-Konservativen wirklich antreffen kann.

1. Die Neo-Konservativen, so heißt es, unternähmen Versuche der Traditionsbeschwörung. Dem wird entgegengehalten: „Traditionen erweckt man nicht dadurch wieder zum Leben, daß man zeigt, was sie Gutes bewirken könnten“. []

2. Die Neo-Konservativen, so heißt es weiter bei Habermas, erhöben die „Forderung“, „die Demokratie zu ermäßigen“. Dieser Vorwurf erweckt die Vorstellung, die Neo-Konservativen hätten, statt Demokratie, lieber nur ein bißchen Demokratie, und sie möchten, zum Beispiel, „die moralischen Begründungslasten der staatlichen Ordnung minimieren“, um auf diese Weise für Parlamente, Regierungen und Verwaltungen die Spielräume rechtfertigungsfreien Entscheidens und Handelns zu erweitern. []

3. Zu den Dauerreprisen in der Kritik der sogenannten Progressiven am sogenannten Neukonservativismus gehört auch die These, es handle sich bei ihnen um eine Bewegung von Aufklärungsrenegaten, die sich gegen Erscheinungen einer erneuerten, „auf ganzer Breite mobil gemachten Aufklärungstradition“ stemmten. []

4. Es ist wahr: Auch jüngst wieder sind Konservative als Intellektuellen-Kritiker hervorgetreten – am prominentesten Helmut Schelsky als einer der letzten in einer langen Tradition dieser Kritik von Julien Benda bis Raymond Aron. Wieso zeigen sich eigentlich Links-Intellektuelle gegen intellektuelle Intellektuellen-Kritik stets so empfindlich? []

Man sollte das nicht unwidersprochen lassen. Das wichtigste Argument scheint mir dabei dieses zu sein: Wer heute meint, in der Auseinandersetzung mit Konservativen seinen Vorteil in der Bekundung seiner Gegnerschaft gegen Rechtschauvinismus oder gar gegen intellektuellen Rassismus finden zu können, verharmlost diese. Das gilt auch dann, wenn einige der älteren unter den „Neukonservativen“, wie Millionen andere ältere Deutsche auch, tatsächlich braune Biographieanteile aufzuweisen haben. – Der permanente Versuch, den deutschen Konservativen Abhängigkeiten von Carl Schmitt nachzuweisen, erfüllt übrigens analoge Funktionen. Er soll sie kompromittieren. []

Bei dem skizzierten Zerrbild der sogenannten Neukonservativen handelt es sich nicht um einen Gegenstand folgenloser innerakademischer Intellektuellen-Querelles, An diesem Zerrbild orientieren sich, zum Beispiel, inzwischen auch prominente SPD-Repräsentanten. Das befähigt sie gewiß, wortstark auf der intellektuellen Wellenlänge der Jungakademiker unter den Mitgliedern ihrer Partei zu sprechen. Aber die produktiven oder dienstleistenden Angestellten in der Wirtschaft, von der Facharbeiterschaft ganz zu schweigen, sind übers ideologische Medium einer Konservativismus-Kritik nicht mehr zu erreichen. Sie sind nämlich, ihrer tatsächlichen sozialen Lage entsprechend, längst selber zu Konservativen geworden, die sich in der liberalen Demokratie wohl eingerichtet haben und daher jedem mißtrauen, der sie noch einmal zu langen Märschen in Bewegung zu versetzen versuchte. Und dieselben Schichten sind, auf der anderen Seite, inzwischen für die Gründe sehr offen, die für die Zukunftsfähigkeit und damit Erhaltungsbedürftigkeit des politischen und sozialen Systems sprechen, in welchem sie leben.

Man erkennt: Die sogenannten Neo-Konservativen vertreten gar kein neues politisches Programm; auch knüpfen sie keineswegs an die eingangs erwähnten untergegangenen Konservativismen der jüngeren deutschen Geschichte an. Und noch einmal: Nicht sie selbst haben sich zuerst „Konservative“ genannt; vielmehr heißen sie so in der Sprache ihrer linken Kritiker. Läßt man das gelten, so muß man, um den aktuellen Sinn der politischen Kennzeichnung „konservativ“ zu ermitteln, sich konsequenterweise auch an den Eigenschaften orientieren, die bei den gegenwärtig so genannten Neokonservativen tatsächlich auffällig sind. Welche sind es? Ich fasse das abschließend in acht knappen Absätzen zusammen.

1. Ihrer politischen Herkunft und Zugehörigkeit nach sind die Neokonservativen in der Bundesrepublik auffällig oft Liberale oder auch Sozialdemokraten.

2. Ihr so genanntes konservatives Profil ist im Regelfall erst in ihrer Reaktion auf die zuerst akademisch hervorgetretene Kulturrevolution der späten sechziger Jahre sichtbar geworden. Das heißt: Sie waren keine Mitläufer dieser Jugend- und Intellektuellenbewegung, vielmehr von Anfang an deren Kritiker.

3. Die Neokonservativen haben in Erinnerung gebracht, daß die Demokratie in ein totalitäres System umschlägt, wenn man über die politischen Institutionen hinaus die ganze Gesellschaft „demokratisieren“ will. Sie machen demgegenüber geltend, daß die Bürgerrechte genau diejenigen Lebensbereiche sichern, deren Freiheit, einmal zur Disposition demokratischer Mehrheitsentscheidungen gestellt, aufgehoben wäre.

4. Die Neokonservativen haben in Erinnerung gebracht, daß die liberale politische Ordnung von Voraussetzungen lebt, die durch diese Ordnung selbst nicht garantiert werden können. Dazu gehören Bürgertugend und öffentliche Moral. Sie widersprechen damit denjenigen, die glauben, für die Freiheit in einer Gesellschaft sei dann am besten gesorgt, wenn man die Menge der Möglichkeiten, sich unmöglich zu machen, gegen Null zwingt.

5. Die Neokonservativen vertreten die Meinung, daß die Effektivität der Bürgerfreiheiten gegenüber dem Unterschied von Marktwirtschaft einerseits und politisch kontrollierter Verwaltungswirtschaft andererseits nicht indifferent ist, daß vielmehr umgekehrt mit der Freiheit des Marktes auch entscheidende Bürgerfreiheiten in Verfall geraten müßten – von der freien Wahl von Ausbildung und Beruf über die Freizügigkeit in der Wahl des Wohnorts bis zur Korporations- und Gewerkschaftsfreiheit.

6. Die Neokonservativen sind daher ohne Sympathie für intellektuelle Marxismus-Sympathie. Sie halten Anti-Kommunismus in der Absicht, Bürger- und Menschenrechte zu sichern, auch nicht für primitiv, sondern für eine Bedingung der Selbsterhaltung liberaler Systeme.

7. Der Vorwurf, die sogenannten Neokonservativen seien als Anti-Marxisten und Anti-Kommunisten Entspannungsgegner, trifft sie nicht. Vielmehr ist das Gegenteil richtig: Eine Politik der Entspannung aus zwingender pragmatischer Kriegsvermeidungsraison ist um so aussichtsreicher, je weniger sie von schwärmerischen Aktivitäten ideologischer Brückenschläger belastet wird.

8. Es ist ja ein alter Topos, daß die Konservativen keine Theorie hätten. Heute heißt das exemplarisch: Die Neokonservativen halten nichts vom Glauben der Ideologien, es gebe eine Einsicht in Geschichtsgesetze, die es uns erlauben, die Menschheit der Zukunft in Vorhutgestalt bereits in der Gegenwart zu organisieren und, diesem Irrglauben entsprechend, sie schon heute in einer privilegierten Partei politisch zu organisieren. Demgegenüber halten die Neo­konservativen an der Tradition der Aufklärung fest, die uns nahelegt, unseren politischen Absichten und Zwecken immer nur solche Annahmen über die Wirklichkeit zugrunde zu legen, die der Approbation durch den Common sense sowie durch den methodisch restringierten Sachverstand fähig sind. Das ist der Zusammenhang, aus dem sich die pragmatische und, wie die Kritiker fälschlich sagen, neopositivistische Komponente im Neo-Konservativismus erklärt.

[]

Anmerkungen

[1] Zuerst in Merkur Nr. 413, November 1982.

Quelle: Hermann Lübbe, „‚Neo-Konservative‘ in der Kritik: Eine Metakritik“, Merkur 37 (420), 1983, S. 622–32.

Hermann Lübbe über Konservatismus (1983), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/zwei-deutsche-staaten-1961-1989/ghdi:document-5061> [26.04.2024].