Kurzbeschreibung

Der Reisebericht eines westdeutschen Journalisten erzählt von den ersten Schritten zur Einführung der Marktwirtschaft auf dem Gebiet der DDR und der Rolle, die dabei westdeutschen Besuchern und Geschäftsleuten zukommt. Neue Reisefreiheiten und das Wiedererstehen eines regionalen Heimatbewusstseins zeigen, wie sehr sich die DDR in wenigen Monaten entscheidend geändert hat.

Stimmen aus der Provinz (4. August 1990)

  • Helmut Herles

Quelle

„Thüringen erinnert mich an die Toskana“

Sommerliche Reise durch die DDR / Was sich geändert hat, was die Leute so sagen /

Vom Geld ist viel die Rede

„Wo liegt bei Weimar auf dem Lande?“ Der nach Thüringen und Sachsen Reisende wollte nicht in einem der früheren Stasi- und heutigen Beutelschneiderhotels wohnen. Deshalb fragte er seinen Erfurter Kollegen, was jene ungefähre Ortsangabe zur ersten der geplanten Übernachtungen in Thüringen bedeute. Manche in der DDR sprechen und schreiben noch immer so verschwommen, weil sie nicht wissen, wo es „langgeht“. Die alte Diktatur und Kommandantur in Staat und Wirtschaft sind besiegt, aber nicht beseitigt.

„Bei Weimar auf dem Lande“ entpuppte sich als ehemaliges Forsthaus des Herzogs, heute der LPG von Ettersburg gehörend. Dort verbringen zwei oder drei der genossenschaftlichen Eigentümerfamilien aus der Nachbarschaft ihre Sommerferien. Der größere Teil der Zimmer wird – für westliche Verhältnisse billig – vermietet. Die Ettersberge waren einst das Jagdrevier der souveränen Herren von Weimar. Die Ettersberge verhüllen aber auch Buchenwald mit seiner doppelten Schuld. Zuerst starben hier KZ-Häftlinge wegen der Nazidiktatur. Nach der Befreiung führten die roten „Befreier“ das Lager noch eine Weile fort. Abermals hieß es in Thüringen: „Paß auf, sonst kommst du nach Buchenwald.“ Die Nähe Buchenwalds zu Weimar und den Dörfern in seiner Nachbarschaft widerlegt die Legende aus brauner und aus roter Zeit: „Wir haben nichts gewußt.“

Daran denken an diesem heißen Sommertag die wenigsten der Gäste des den Enteignungszeiten trotzenden und deshalb jetzt als erstes auflebenden privaten Gasthauses in der Nähe von Ettersburg des „Goldenen Hufeisens“ in Ramsla. Hier treffen sich Westdeutsche und Weimaraner. Am Nebentisch führt einer aus Weimar das große Wort, begrüßt alle Gäste, als sei er der Chef. Hinterher holt der Wirt den Vorlauten auf die Erde zurück: „Er hat ein Textilgeschäft und sollte für eine kirchliche Rüstzeit vier Bademäntel besorgen.“ Versprochen habe er es, aber auf die Mäntel warte man noch heute. Jenes Gasthaus ist das Gegenbild zu den früheren HO-Gaststätten, wo strenge, aber faule Oberkellner eine besondere Diktatur des Proletariats ausübten, indem sie die Leute plazierten, wie es ihnen gefiel. Der einzig große Tisch im Bauernhof war zwar schon besetzt, aber der Wunsch der Gäste, die in Autos mit westdeutschen Kennzeichen in den Hof gefahren waren, reichte aus, um sofort Stühle und Tische aus den Räumen in den Hof zu stellen. Hinterher sagt die Freundin in Leipzig: „Bis vor kurzem wäre das bei uns undenkbar gewesen.“ Eine junge Frau „aus dem Westen“, die gerade durch die goldenen Auen Thüringens gereist war, sagt: „Thüringen erinnert mich an die Toskana.“

Vor den Autobahnrastplätzen zwischen Eisenach und Weimar steht handgeschrieben: „Hier Thüringer Wurst.“ Ein junges Mädchen hat den häuslichen Grill mitgebracht. Die Marktwirtschaft beginnt im Kleinen. Auf dem Markt im nordthüringschen Mühlhausen steht ein dicker Mann aus dem hessischen Eschwege, wettert gegen die angeblich faulen „DDRler“: „Warum hast Du schon wieder kein Wasser in den Kessel getan?“. Im Schweiße seines Angesichts verkauft er (Thüringische) Rostbratwurst für zwei Mark. Gegenüber am HO-Hotel – auch das wäre eben noch nicht denkbar gewesen – bietet ein junges Mädchen dieselben Würste für 1,60 D-Mark feil. Aber – noch – belebt Konkurrenz nicht das Geschäft. Die meisten kaufen – noch – beim Westler. Die Thüringer und Sachsen wie fast alle anderen in der DDR sind zwar unsicher wegen der Preissteigerungen und Entlassungen, aber noch sind sie gegen diese PDS-Kampagne gefeit. Sie wissen, wer den Ruin zu verantworten hat. Manche verhalten sich so, daß Ludwig Erhard seine Freude an ihnen hätte: Auf dem Markt in Mühlhausen – soviel Märkte hat es vor wenigen Monaten nicht in der DDR gegeben – steht eine Frau vor den vollen Brot- und Brötchenkörben, die ein hessischer Bäcker geliefert hat. Sie fragt, wieviel diese Brötchen und wieviel jene kosten. Die einen 20 Pfennig, die anderen 40 Pfennig. Sie wählt die 20-Pfennig-Brötchen. Nach dem 1. Juli hatten manche mit Inflationspreisen begonnen. Nun sind sie zwar noch nicht auf das alte vom Staat heruntersubventionierte DDR-Niveau gefallen, aber immerhin schon auf das westdeutsche und noch weiter auf die den geringeren Einkommen in Thüringen oder Sachsen angemessene Höhe. Den Nordhäuser echten „Goldkorn“ gibt es nun „sogar“ für den krummen Preis von 14,68 D-Mark statt für bisher 24 DDR-Mark.

Ulla Heise, die in Leipzig mit dafür gesorgt hat, daß bei der nächsten Demonstration jeder noch jemanden mitbrachte, sagt: „Ich habe seit dem 2. Juli kein Brot gekauft. Solange es dreimal so teuer wie im Westen ist, lebe ich von Knäckebrot. Das ist unterdessen bei uns so billig wie bei Euch.“ Bei allem Zorn über Preistreibereien und die Ernüchterungen des Alltags nach der Begeisterung haben sie und ihre Freunde nie vergessen, was sie erreicht haben. Leipziger klatschen Beifall, als ein Westdeutscher auf der Bühne des Kabaretts „Pfeffermühle“ ihnen dafür dankt, daß er nun bei Herleshausen von Hessen nach Thüringen so „unkontrolliert“ gereist ist, als wäre er von Hessen nach Bayern gefahren. Die Revolutionäre von gestern wollen nicht locker lassen. Ulla Heise und ihre Freunde bringen im Leipziger Forum-Verlag ein „Nachgeschaut“ heraus, eine Dokumentation zur Stasi-Allgegenwart. Sie wissen, wo der Stasi einst saß, vom Kaffeehaus bis zur Universität. Da es in Leipzig in diesen heißen Hundstagen aus manchen Versorgungsschächten qualmt, heißt es: Da sitzt noch die Stasi.

Auch in Leipzig sind die Westdeutschen allgegenwärtig. Vor dem Hotel Astoria steht ein protziger schwarzer Wagen. Er wirbt mit dem Aufkleber „IBV“ für „Karrieremachen“ und lockt für einen Sonntag zwischen 14 und 17 Uhr ins Hotel. Die Waschzettel verraten Einzelheiten nicht. „Der Erfolg ermöglicht einen höheren Lebensstandard durch besseres Einkommen – und genau hier möchten wir Ihnen ein Angebot machen. Zu Beginn können Sie zunächst bei freier Zeiteinteilung nebenberuflich für uns tätig sei. Sie können dabei in der Woche bei sechs Stunden Arbeitszeit durchaus 300 D-Mark zusätzliches Einkommen erzielen.“ Der Texter gibt zu, das mache kritische Menschen zu Recht skeptisch. „Aber gerade diese Menschen stellen wir uns als zukünftige Mitarbeiter vor. Engagiert, kritisch, selbstbewußt.“ Es gehe nicht um die „schnelle Mark“. Worum es geht, wird nicht gesagt. Wir fragen im Westen nach.

„I“ stehe für Immobilien, „B“ für Bausparen, „V“ für Versicherungen. Man suche also Vertreter und sei mit dem Zuspruch zufrieden. Ähnlich goldgräberisch klingt der Text auf leuchtend rotem Grund: „Mir geht’s gut.“ Dazu heißt es, ein erfolgreiches Leben habe „gewisse Kennzeichen: Zufriedenheit, erfüllte Wünsche und immer noch Geld!“ Hier wird von anderen eine ebenfalls nicht bezeichnete „Nebentätigkeit für 20 bis 35jährige Berufstätige“ angepriesen, mit der man „Außergewöhnliches“ erreichen könne. Eine Nachfrage offenbart als Werber die „FMGH“ eine „Gesellschaft zur Förderung mittelfristiger Geldanlage.“ Die Leipziger Freundin fragt, ob so die Marktwirtschaft sei, „mit Neppern, Schleppern, Bauernfängern?“

Manche Leipziger schimpfen, daß sie nun auch in Lokalen, die früher für sie erschwinglich waren, „westdeutsche Preise“ zahlen sollen. Die Stasi- und Beutelschneiderhotels von ehedem mieden sie ohnehin. Sie wurden nur von denjenigen aufgesucht, die in der Zweiklassengesellschaft der DDR Honeckers über Westgeld verfügten. Droht nun eine neue Zweiklassengesellschaft? „Es wird sich einpendeln“, sagen die Gäste der westdeutschen Kaffeerösterei Eduscho, die im Hause der „Pfeffermühle“ in der Nähe der Thomaskirche eine Ausstellung von Grafiken zur Kultur- und Alltagsgeschichte des Kaffees besuchen. Die Kabarettisten spielen bei diesem Kaffeeklatsch mit: „Das gleiche Geld? Sie meinen die gleiche Währung. Das gleiche Geld haben wir noch lange nicht.“ Johann Sebastian Bach, der ebenso ein großer Unterhaltungs- und Kaffeehausmusiker war, nicht nur der feierliche Kantor, hätte seine Freude an der jungen Gruppe gehabt, welche die Kaffeekantate des Meisters verrockte und verjazzte.

Viele westdeutsche Wirtschaftler sind unsicher. In Halle habe eine Bank aus dem Westen zehn Kredite zur Existenzgründung gegeben, acht seien schon bankrott. Der das „Volkseigentum“ ablösende Chef der Treuhandstelle sagte: „Im Augenblick zahlt kein Unternehmen für Lieferungen und praktisch niemand seine Rechnungen.“ Die längsten Schlangen stehen vor den Geldinstituten, die beinahe so rar sind wie Tankstellen. Sie wollen klare Rahmenbedingungen, sichere Kredite, einklagbares Recht. Noch wissen sie oft nicht, wem etwas wirklich gehört und wo sie investieren wollen oder sollen.

Dieser „westliche“ Ärger stimmt mit dem von Sachsen und Thüringern überein: „Unsere Regierung kümmert sich viel zu sehr um die Hauptstadt Berlin, die Hymne, die Fahne, das Wahlgesetz.“ Rechtsunsicherheit betrübt auch Privatleute. In Markkleeberg leben ein Leipziger Musiker und seine Frau, eine Töpferin, – „wir arbeiten Ton in Ton“ – zwar im Haus ihres Vaters. Jener aber war als „Kapitalist“ enteignet worden und die vergehende SED-Herrschaft hat wie an vielen Orten auch hier das Haus nach der Wende noch schnell an einen anderen verkauft. Jetzt müssen sie ihr Eigentum mit einem Rechtsanwalt erstreiten. Zum Glück waren sie nicht schon von den Sowjets enteignet worden. Denn merkwürdigerweise soll das Besatzungsunrecht dieser Enteignung nach der deutschen Einigung Recht werden. Ihre Tochter studiert im Westen und ist von der internationalen Atmosphäre eines Studentenhauses in Rodenkirchen bei Köln begeistert. Dafür haben sie eine Studentin aus Bonn zu Gast. Die Vereinigung der Deutschen findet in diesen Tagen nicht nur in den Papierbergen der Unterhändler der beiden Staaten statt. Sie hat nichts mit Größenwahn oder einem „Vierten Reich“ zu tun.

Wer kurz vor der Wende, wenig später im Winterwahlkampf zur ersten freien Volkskammerwahl und jetzt nach dem Einzug der D-Mark durch Thüringen und Sachsen reist, dem fallen Veränderungen sofort ins Auge: Die wichtigste ist ein sichtbarer Sieg der Freiheit. Bei Herleshausen montieren sie die Peitschenlampen der Wächter ab, die aus der DDR ein einziges großes Lager gemacht hatten und nun im Westen möglichst Beamte werden wollen. Keiner kontrolliert mehr.

Die vormals allgegenwärtige SED-Propaganda ist nun eine Sache für Spurensucher der Zeitgeschichte. Aber auch der schwarz-rot-goldene Überschwang „Deutschland einig Vaterland“, als im Winter und im Frühling an vielen Häusern zwischen Eisenach und Leipzig die Nationalfahne ohne das DDR-Emblem gehißt wurde, ist dahin. Alltags- und Katerstimmung sind eingekehrt. Nun verbinden sich Emotionen, Sorgen und Selbstgefühl der Deutschen in der DDR mit der Zugehörigkeit zum je eigenen Land. „Die“ in Ost-Berlin hätten längst die Länder einrichten sollen, hört man immer wieder. Bevor es soweit ist und der Volkskammerbeschluß zur Wiedererrichtung der Länder mit den Landtagswahlen im Oktober verwirklicht wird, haben viele zur Selbsthilfe gegriffen. In Mühlberg, einem Dorf in den Vorbergen des Thüringer Waldes, haben die Einwohner ihren etwas merkwürdigen Ruf bei den Nachbarn wettgemacht. Die „Mühlberger Halblangen“, die stolz darauf sind, eines der ältesten Dörfer Thüringens zu bewohnen, sind den anderen vorausgeeilt und haben auf ihrem Ortsschild, die Erinnerung an die bei deutschen Diktatoren übliche Zerschlagung der Länder in Deutschland getilgt. „Der Bezirk Erfurt“ ist sauber überpinselt und durch „Land Thüringen“ ersetzt worden. Das kann man auch in anderen Dörfern beobachten.

Auf dem Weg von Halle nach Mühlhausen demonstrieren die Thüringer, die 1952 gegen ihren Willen zum Bezirk Halle und damit nach Sachsen-Anhalt kamen, auf ihren Ortstafeln: „Wir sind Thüringer.“ Man weiß nicht, was die russischen Offiziere davon halten, die eine Kolonne von Tankwagen über die Straßen führen. Denken sie an die Auflösung der Sowjetunion in ihre Völker und Stämme? Ein Mann aus Halle steigt bei jedem erzwungenen Halt aus seinem Wagen und ballt die Fäuste. Auch das wäre „früher“ undenkbar gewesen.

An den Wegrändern der endlosen Felder der goldenen Aue spürt man wenig von der ökologischen Katastrophe der DDR. Es gibt nicht nur Buna und Bitterfeld, Aue und Greifswald. In Erfurt liegen liebevolle „Rekonstruktion“ und Verfall nach wie vor Straße an Straße, aber die Zeichen des Wiederaufbaus mehren sich. An zwei alten Häusern prangt das Wappen von Rheinland-Pfalz, das hier restauriert, eingedenk des alten Spruches: „Erfurt und Mainz sind eins.“ Im Erfurter Land blühen gelber Rainfarn, weiße Schafgarbe und Storchschnäbel in blau und rosé, Zichorien und Flockenblumen in Hülle und Fülle. Auf dem Weg nach Bad Frankenhausen bremsen wir im Dorf Ringleber und sind glücklich über einen Stillstand der Zeit. Auf einem Haus stehen schon wieder oder noch immer zwei stolze Störche.

Quelle: Helmut Herles, „Thüringen erinnert mich an die Toskana“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. August 1990. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.