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Auf den Grundmauern der Nachkriegszeit?
Die beabsichtigte Neugliederung steckt voller administrativer Schwierigkeiten und regionaler Konflikte.
Daß die DDR künftig nicht mehr wie seit bald vierzig Jahren aus Bezirken bestehen, sondern sich in Länder gliedern wird, ist mittlerweile kein Gegenstand der Diskussion mehr. Zwar steht noch kein Wahltermin fest, aber von Januar 1991 an soll es, wie der Minister für regionale und kommunale Angelegenheiten, Manfred Preiß, mitgeteilt hat, wieder fünf Länder geben. Doch je deutlicher sich der Fahrplan für die Einführung der Länder abzeichnet, desto unübersehbarer ist auch geworden, daß ihre Errichtung keineswegs ohne Kontroversen und Streitigkeiten abgehen wird. Gewiß handelt es sich bei der Einführung der Länder im Grunde genommen um eine Wiederherstellung – nämlich jener Länderstruktur, die bis 1952 in der DDR bestanden hat. Aber das ist keine so einfache Operation, wie es auf den ersten Blick scheint – und überdies fragt es sich, ob es überhaupt gut wäre, sich die Aufgabe der Errichtung einer föderalen Struktur in der DDR so einfach zu machen.
Wie die Bundesrepublik ist die DDR ursprünglich aus den Ländern entstanden. Doch in fast der gesamten Zeit ihres Bestehens war sie ein zentral regierter Einheits-Staat, in dem sich von den Ländern nur einiges an landsmannschaftlichem Bewußtsein, regionaler Kultur und Folklore erhielten. Bei allen Differenzen, die es zwischen den verschiedenen Regionen in der DDR gegeben hat, müssen die Länder als staatlich-politische Einheiten deshalb faktisch doch neu gegründet werden. Sollen sie auf den fast verirrten Grundmauern der Nachkriegsländer errichtet werden? Oder gibt es Alternativen, die dem Ziel einer leistungsfähigen föderativen Struktur besser entsprächen?
Der naheliegendste Weg bestünde natürlich darin, die Bezirke, die an die Stelle der Länder getreten sind, wieder zu Ländern zu vereinigen. Denn tatsächlich sitzt diese Bezirksstruktur im großen und ganzen auf dem alten Länder-Gefüge auf. Die Bezirke haben in den früheren Ländern zumindest ihre Basis: Schwerin, Rostock und Neubrandenburg im Norden in Mecklenburg; Magdeburg und Halle in Sachsen-Anhalt; Potsdam, Frankfurt/Oder und Cottbus in Brandenburg; Erfurt, Gera und Suhl in Thüringen; Leipzig, Dresden und Karl-Marx-Stadt schließlich in Sachsen. Aber das gilt eben nur im ganz allgemeinen. In nicht unwesentlichen Teilen sind die jetzigen Bezirke auch von den früheren Ländergrenzen abgewichen. Vor allem dort entstehen nun Problemzonen.
Im Norden stellt sich die Frage, ob die Uckermark und die Westpriegnitz, die bei schlichter Verwandlung der Bezirke in Länder zu Mecklenburg gehören würden, wieder zurück ins Land Brandenburg fallen sollten. Im Süden geht es darum, ob die Kreise Altenburg und Schmölln, die jetzt zu dem mehrheitlich sächsischen Bezirk Leipzig gehören, wieder thüringisch werden müßten. Ähnliche Probleme stellen sich in der Lausitz, wo Teile des jetzigen Bezirks Cottbus nach Sachsen zurückgegliedert werden könnten, und zwischen den künftigen Ländern Sachsen-Anhalt und Brandenburg im Bereich von Bad Liebenwerda, Senftenberg, Brandenburg und Rathenow.
Für alle diese Gebiete hat die von der Regierung Modrow im vergangenen Jahr eingesetzte Kommission für die „Vorbereitung und Durchführung der Verwaltungsreform“ Bürgerentscheide vorgeschlagen. Aber in den Details der Neugliederung verstecken sich nicht nur sachlich-administrative Schwierigkeiten, sondern auch reizbare Gefühle und landsmannschaftliche Leidenschaften. Die Briefe, die dem für die örtlichen Staatsorgane in der Regierung Modrow zuständigen Minister Moreth zu diesem Thema zugegangen sind, zeigen das ebenso wie die Wünsche nach eigenen politisch-administrativen Strukturen, die in einzelnen Teilen der DDR laut geworden sind. So hat sich in Vorpommern, das nach der Abtrennung der Ost-Gebiete nach dem Kriege zu Mecklenburg geschlagen wurde, ein heftiges Sehnen nach Eigenständigkeit erhoben – ebenso wie in dem diesseits von Oder und Neiße gelegenen Teil Schlesiens, der heute zum sächsischen Bezirk Dresden gehört.
Andere Konflikte haben sich an der Frage der Hauptstädte der künftigen Länder entzündet. In Mecklenburg konkurriert mit der angestammten Hauptstadt Schwerin das in den DDR-Jahrzehnten zur wichtigsten Stadt an der Ostsee herangewachsene Rostock, und in Sachsen-Anhalt, dessen Hauptstadt Halle war, erhebt Magdeburg Ansprüche, das über lange Zeit hinweg das Zentrum der alten preußischen Provinz Sachsen gewesen ist. Auf dem Boden solcher Streitigkeiten sind bereits Vorstellungen wie die einer „Freien und Hansestadt“ Rostock entstanden – was zumindest ein Gradmesser für den Willen zur Eigenständigkeit darstellt, der hinter dem Entschluß zur Rückkehr zu den Ländern steht.
Beherrscht er den Zug zu den Ländern zu sehr? Offenkundig ist ja, daß die fünf Länder, die da entstehen würden, den deutschen Föderalismus nicht nur mit einem Zuwachs an Vielfalt bereichern, sondern auch mit vielen Problemen belasten würden. Nimmt man die Einwohnerzahl als Schlüssel, so vergrößerten die DDR-Länder in einem vereinigten Deutschland die Zahl der kleinen Länder, die ohnehin Mühe haben, die ihnen politisch verbürgte Eigenständigkeit wirtschaftlich und finanziell abzustützen. Nur Sachsen würde mit rund 5 Millionen Einwohnern noch im Mittelfeld rangieren, unmittelbar hinter Hessen. Alle anderen – Sachsen-Anhalt mit gut 3 Millionen, Brandenburg mit 2,7, Thüringen mit 2,5, Mecklenburg schließlich mit 2,1 Millionen – lägen zwischen Rheinland-Pfalz mit seinen 3,7 Millionen Einwohnern und den Schlußlichtern dieses Placements, den Stadtstaaten Westberlin mit 1,8 Millionen, Hamburg 1,6, dem Saarland mit rund einer Million sowie Bremen mit 650 000 Einwohnern. Die Zahl der „Armenhäuser“ – wie diese Länder respektlos angesichts ihrer geringeren wirtschaftlichen und finanziellen Leistungskraft genannt werden – würde sich vergrößern, die Spannungen im föderalen System, hervorgerufen von den notwendigen finanziellen Ausgleichszahlen, zunehmen.
Auch deshalb sind Überlegungen aufgekommen, die Wiederherstellung der Länder mit einer Neugliederung zu verbinden. Ihren Kernpunkt bildet die Aufteilung des Landes Sachsen-Anhalt; es ist ohnedies unter allen Ländern der DDR die künstlichste Gründung und hat in der Form, in der es wiederhergestellt würde, nur den kurzen historischen Augenblick zwischen 1945 und 1952 bestanden. Die Regierungskommission hat vorgeschlagen, den bisherigen Bezirk Magdeburg dem Land Brandenburg zuzuschlagen; der Bezirk Halle würde dann zu Sachsen kommen. Damit würden, wie es in dem Bericht der Kommission heißt, „im zentralen Teil der DDR zwei leistungsfähige, mit den Bundesländern mittlerer Größe in der Bundesrepublik vergleichbare Länder entstehen, die auch im gesamtdeutschen Maßstab eine wesentliche Rolle spielen könnten“.
Andere Überlegungen gehen noch weiter. Sie geben zu erwägen, ob die DDR nicht in drei oder gar nur zwei Länder gegliedert werden solle. Bedenkt man, daß die DDR insgesamt der Größe Nordrhein-Westfalens entspricht, dann hat dieser Gedanke einiges für sich. Einem großen Südstaat, gebildet von Sachsen und Thüringen, würde ein Nordstaat entsprechen – entweder mit oder ohne Mecklenburg, das aufgrund seiner ausgeprägten historischen und landsmannschaftlichen Eigentümlichkeit eine gewisse Sonderrolle in allen Neugliederungs-Diskussionen spielt. Daß eine solche radikale Lösung keineswegs nur eine Reißbrett-Komposition aus technokratischem Geist darstellt, sondern ihre historische, politische und kulturräumliche Konsequenz hat, macht der Vorschlag des Dresdner Landeshistorikers Karlheinz Blaschke deutlich […].
Ein besonderes Problem ergibt sich aus der Rolle Berlins. Soll die Stadt, ob als deutsche Hauptstadt oder nicht, ein eigenes Bundesland darstellen – so wie jetzt Westberlin im Kontext der Bundesstaatlichkeit der Bundesrepublik – oder soll ein Bundesland Berlin-Brandenburg gebildet werden? Für letzteres sprächen vornehmlich praktische Gründe. Ein Land Berlin-Brandenburg würde es ermöglichen, die Probleme planerisch einigermaßen in den Griff zu bekommen, die aus dem zu erwartenden großen „Verflechtungsraum“ um Berlin herum bis nach Brandenburg und Frankfurt/Oder entstehen. Außerdem würde Berlin das Schicksal etwa eines Stadtstaates wie Hamburg vermeiden. Die Hansestadt klagt seit langem bewegt – und begründet – darüber, daß sie zunehmend Industrie – und damit Steuererträge – an ihr Umland verliert, ohne für die kulturellen und sozialen Leistungen entgolten zu werden, die sie für das Umland erbringt. Andererseits fürchten die Westberliner in einem solchen Bundesland – so der FDP-Bundestagsabgeordnete Lüder – zur „brandenburgischen Kommune degradiert“ zu werden, während die Halbstadt doch jetzt immerhin Bundesland sei. Schwerer als dieses Argument wiegt vermutlich die Angst, mit dem eigenen Steueraufkommen nicht nur Ostberlin, sondern auch dem landschaftlich reizvollen, wirtschaftlich aber armen Brandenburg auf die Beine helfen zu müssen.
Quelle: Hermann Rudolph, „Auf den Grundmauern der Nachkriegszeit?“, Süddeutsche Zeitung, 19. April 1990.