Kurzbeschreibung

Alfred Lichtwark (1852–1914) war Lehrer, Kunsthistoriker, ein produktiver Schriftsteller und der erste Direktor der Hamburger Kunsthalle von 1886 bis zu seinem Tod 1914. (Die Kunsthalle wurde schon 1869 eröffnet; sie operierte allerdings bis 1886 ohne einen Direktor.) Lichtwark wurde bekannt durch seine Bemühungen, die Galerie einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, lokale Künstler zu fördern und sich einer ästhetischen Erziehung zu bedienen, um einen Sinn für den Impressionismus und andere neue Kunstströmungen bei Deutschlands Kunstpublikum anzuregen. (Lichtwark war eng befreundet mit dem Maler Max Liebermann und erwarb einige seiner bedeutenden Werke für die Kunsthalle.) In seiner Antrittsrede erläutert Lichtwark seine Grundsätze und die Aufgaben eines modernen Museums: Kunst zu bewahren, die Sammlung zu vergrößern und ihren Nutzen für das allgemeine Publikum, besonders für die Jugend, zu erhöhen.

Alfred Lichtwark, Antrittsrede als Direktor der Hamburger Kunsthalle (9. Dezember 1886)

  • Alfred Lichtwark

Quelle

Die Aufgaben der Kunsthalle. Antrittsrede

In dieser Stunde, die für die Organisation der Kunsthalle einen neuen Abschnitt einleitet, haben Sie das Recht, von uns die Beantwortung der Frage zu erwarten, in welchem Sinne und in welcher Weise wir die Aufgaben der Verwaltung zu lösen gedenken. Mir ist der ehrende Auftrag zuteil geworden, Ihnen unsere Pläne zu unterbreiten. Ich hoffe, in Ihrem Sinne zu handeln, wenn ich in einer sachlichen Auseinandersetzung Ihnen das Material zu eigenem Urteil an die Hand zu geben versuche.

Die Leitung eines Museums ist heute nicht mehr wie ehedem ein Versuchsfeld für den Dilettantismus, sondern ein selbständiges Fach, für das die Kräfte ebenso eingehend geschult werden müssen wie für jeden andern Verwaltungszweig. An den Instituten zu London, Paris und Wien, seit einem Jahrzehnt auch in Berlin, hat die Museumspraxis eine so allseitige und tiefgehende Durchbildung erfahren, dass wir der Notwendigkeit überhoben sind, auf eigene Faust kostspielige Experimente zu machen. Die Grundsätze der Verwaltung liegen fest, wir können uns an Vorhandenes anschliessen.

Doch gilt dies nur für die fachtechnische Grundlage der Verwaltung. Eine Anstalt, die wir für die Gesamtorganisation der Kunsthalle zu Hamburg als Vorbild nehmen könnten, existiert noch nicht. Die Ursache liegt auf der Hand, denn der Typus für das moderne Museum ist eben in den grossen Hauptstädten ausgebildet, und die Museen der kleineren Residenzen und der Provinzialstädte haben sich bisher fast ohne Ausnahme darauf beschränkt, dem gegebenen Muster nachzueifern. Nicht ganz mit Recht, denn das städtische Museum hat eine ganz selbständige Aufgabe. Wir wollen jedoch an dieser Stelle kein allgemeines Gesetz suchen, sondern unbekümmert um das, was anderswo erforderlich oder entbehrlich sein mag, aus unsern örtlichen Bedingungen den Organismus unseres Instituts entwickeln.

Die Museen der Hauptstädte haben sich immer mehr darauf beschränkt, das Material systematisch zu sammeln und für die mannichfache Benutzung vorzubereiten. Eine lehrhafte Thätigkeit der Beamten trat gegen die verwaltende immer entschiedener zurück und wird neuerdings grundsätzlich ausgeschlossen. An den Berliner Museen ist eine Lehrthätigkeit den Beamten nur in Ausnahmefällen gestattet; sie sollen sich sammeln auf ihre Thätigkeit als wissenschaftliche Verwaltungsbeamte ihres schwierigen Faches. Bei uns liegen jedoch die Verhältnisse ganz anders. Es fehlen uns die mannigfaltigen Bildungsanstalten, über die eine Stadt wie Berlin verfügt. Wir haben in Hamburg keine Universität, kein Polytechnikum, keine Akademie. Wenn unsere Kunsthalle ihre Aufgabe recht versteht, so hat sie nicht nur zu sammeln, ihre Schätze zugänglich zu machen und im vornehmsten Sinn damit zu repräsentieren: sie wird vielmehr einen vielseitig anregenden Unterrichtsorganismus ausbilden müssen. Auch sie hat ihren Anteil an dem Erbe der alten Hamburgischen Bildungsanstalt, des Akademischen Gymnasiums, anzutreten, das einst in dem geistigen Leben unserer Bürgerschaft die Stelle einer Hochschule einnahm. Wie dies im Einzelnen zu verstehen, möchte ich Ihnen im Rahmen des Gesamtorganismus darlegen.

Die Thätigkeit jeder Museumsverwaltung gliedert sich nach drei Gesichtspunkten: sie hat für die Erhaltung, für die Vermehrung und für die Nutzbarmachung der Sammlungen zu sorgen.

In Bezug auf den ersten Punkt, die Sorge für die Erhaltung der Sammlungen, darf ich mich kurz fassen, denn das technische Detail wird Sie an dieser Stelle am wenigsten interessieren. Wir können uns, soweit unsere Verhältnisse gestatten, bereits bestehende und durch langjährigen Gebrauch erprobte Einrichtungen zum Vorbild nehmen. Von besonderer Wichtigkeit ist dies für das Kupferstichcabinet, das, wie Ihnen bekannt ist, einen hohen Rang einnimmt unter den verwandten Instituten Deutschlands. Wie bis vor ganz kurzer Zeit alle Sammlungen seiner Art, steht unser Kupferstichcabinet in allen seinen Einrichtungen auf dem Standpunkt einer Privatsammlung, die nur selten und nur von kundiger Hand berührt wird. Wie es jetzt beschaffen ist, kann es die öffentliche Benutzung auf die Dauer nicht vertragen. Die Vorkehrungen zur Sicherung der kostbaren Blätter sind durchaus unzureichend. Hier thut eine gründliche Umwandlung dringend Not. Das Publikum, das bisher durch beschränkte Besuchsstunden und andere Vorsichtsmassregeln von der Benutzung dieser Art von Sammlungen fern gehalten wurde, hat nicht in Hamburg allein keine Ahnung, welch’ eine unversiegbare Quelle künstlerischen Genusses ihm verschlossen geblieben. Handelt es sich beim Bestand der Kupferstichcabinette doch nicht um die grossen, schwer zu handhabenden Blätter, die der Kupferstecher von Gewerbe nach Gemälden der grossen Meister für den Wandschmuck gearbeitet hat. Derartige Werke von der Wand zu nehmen, für die sie gedacht und in ihrer Wirkung berechnet sind, hat keinen Sinn. Die Mappen des Kupferstich-Cabinets schliessen Schätze ganz anderer Art ein. Es sind Blätter von geringem Umfang, die man beim Besehen in die Hand nehmen soll; ihre Urheber sind nicht reproducierende Künstler, die nach den Werken Anderer arbeiten, sondern die Grossmeister selber, die das Werk mit eigener Hand auf den Holzblock zeichneten, auf die Kupferplatte oder – in unserm Jahrhundert – den lithographischen Stein brachten. Es sind also nicht Nachbildungen von der Hand eines Fremden, sondern Originalwerke. Gerade unsere grossen germanischen Meister, wie Dürer und Rembrandt, sind ohne Kenntnis ihrer eigenhändigen Stiche und Radirungen gar nicht zu würdigen und sie haben in ihnen ihre tiefsten Gedanken niedergelegt. Wir werden an unserm Kupferstichcabinet von der ersten Stunde an eine gründliche Reorganisation in Angriff nehmen müssen, damit die kostbaren Stiche und Handzeichnungen, deren einzelne Blätter oft viele Tausende wert sind, ohne Schaden einem Jeden können in die Hand gegeben werden. Gerade hier haben sich die in England erprobten Einrichtungen, deren Einzelheiten Sie mir erlassen werden, ungemein praktisch erwiesen.

Während unsere Kunsthalle in Bezug auf Erhaltungsmassregeln keine eigenartige Aufgabe haben kann, muss sie sich in Bezug auf den Umfang und die Art der Erwerbungen von Grundsätzen leiten lassen, die aus unseren örtlichen Bedürfnissen entspringen. Es kann nicht die Aufgabe der Kunsthalle sein, auf all’ ihren verschiedenartigen Sammlungsgebieten nach Vollständigkeit zu streben – das muss, wo es überhaupt möglich ist, den Instituten der grossen Centralstätten vorbehalten bleiben. Bei uns kommt es nicht darauf an, möglichst viel zu erwerben, wir müssen den Nachdruck auf den künstlerischen Wert jedes einzelnen Stückes legen. Darüber hinaus lassen sich keine Grundsätze aufstellen; es gilt, bei jeder Abteilung aus ihrem Charakter festzustellen, in welcher Weise wir bei Erwerbungen vorzugehen haben.

Von den beiden Abteilungen unserer Gemäldegalerie wird die der älteren Meister nur ausnahmsweise durch einen Ankauf vermehrt werden können. Zu einem gründlichen Ausbau gehören Mittel, auf deren Gewährung wir von vornherein nicht hoffen dürfen. Wir müssen den Schwerpunkt in der vorsichtigen Ausbildung unserer modernen Galerie suchen. Ihr Niveau erscheint als sehr niedrig. Es kann auch wohl nicht anders sein, denn man hat bisher nur in seltenen Fällen für ein einzelnes Werk eine erhebliche Aufwendung machen können. Künftig werden die Mittel auf wenige bedeutende Werke concentriert werden müssen. Ein Bild ersten Ranges bedeutet mehr als eine ganze Galerie mässiger Durchschnittsleistungen. Es kommt hinzu, dass bei den Anschaffungen bisher der Natur der Sache nach nicht planmässig verfahren werden konnte. Man darf sich nicht wundern, dass uns eine grosse Anzahl bedeutender deutscher Meister überhaupt fehlt. Die Verwaltung wird sorgfältig Umschau halten müssen, charakteristische Werke der Meister der vergangenen Epoche zu erlangen. Wir haben keinen Ludwig Richter, keinen Overbeck, keinen Cornelius, keinen Schwind, keinen Rethel, keinen Steinle, keinen Führich. Mit stetiger Aufmerksamkeit hat die Verwaltung sodann die gegenwärtige künstlerische Produktion in ganz Deutschland zu verfolgen. Es darf kein bedeutendes Werk entstehen, das von der Verwaltung der Kunsthalle unbeachtet bliebe. Aber auch hier gilt es, die Mittel straff zusammenhalten; nicht Viel, aber nur das Allerbeste. Wenn es sich möglich machen lässt, von Zeit zu Zeit ein ausgezeichnetes englisches oder französisches Werk zu erwerben, so wird dies den Charakter unserer Sammlung vor Eintönigkeit bewahren und den Blick unserer Bevölkerung auch auf künstlerischem Gebiet über die Grenzen der Heimat hinaus leiten.

Einer durchgreifenden Erweiterung bedürfen die Erwerbungen für die Abteilung der Plastik. Bei der Sammlung von Gipsabgüssen ist der Anfang bereits gemacht. Wir haben die bisher vorhandenen Abgüsse nach Werken der Antike um eine Anzahl der Reproduktionen künstlerisch und geschichtlich interessanter Originale vermehrt und eine Abteilung für die Skulptur der christlichen Epoche mit besonderer Berücksichtigung der vaterländischen Kunst neu gegründet. Wir hoffen, in kurzer Zeit auch die hierfür bestimmten Säle dem Publikum öffnen zu können.

Originalwerke der Plastik sind bisher überhaupt nicht erworben. Der geringe Bestand rührt von zufälligen Schenkungen her. Wenn unsere Kunsthalle ihrer erzieherischen Aufgabe gerecht werden soll, muss sie nach dieser Richtung ganz energisch vorgehen. Es kann nicht unsere Absicht sein, Skulptur in gleichem Umfange wie Gemälde zu sammeln. Wir müssen aber von Zeit zu Zeit eine ganz hervorragende Bronze, eine vollendete Marmorarbeit zu erwerben suchen, die wir nicht unten neben den Gipsabgüssen, sondern oben in der Gemäldegalerie an architektonisch wichtigen Punkten aufzustellen haben. Es wäre einer Stadt wie Hamburg auf die Dauer nicht würdig, dass sie sich zu arm erklärt, in ihrer öffentlichen Sammlung auch die Skulptur zu berücksichtigen. Der erziehliche Wert einiger moderner Marmor- und Bronzeskulpturen ersten Ranges lässt sich kaum zu hoch veranschlagen. Eine einzige Bildsäule, an die ein grosser Meister sein ganzes Können gesetzt, vermag der ganzen Bevölkerung den Massstab zu geben. Aber eben deshalb ist es auf diesem Gebiet so wichtig wie bei der Malerei, dass nur das Allerbeste Zulass finde.

An die Sammlung plastischer Werke schliesst sich das Münz-Cabinet. Hier haben wir in einer Abteilung, den Hamburgensien, Vollständigkeit anzustreben. Für die antiken Münzen und Medaillen, für die der Renaissance und der Barockzeit gilt es, auf eine typische Vertretung des Allerbesten, was geschaffen ist, hinzuarbeiten. Wo unsere Mittel die Beschaffung von hervorragenden Originalen nicht zulassen, haben wir unser Augenmerk auf die galvanoplastischen Reproduktionen zu richten, welche gerade für diese Abteilung die Originalien nahezu ersetzen.

Wir kommen zu der Vermehrung der Bestände des Kupferstich-Cabinets. Es ist unsere Absicht, es allmählich über den bisherigen Rahmen hinauszuführen und zu einer umfassenden graphischen Abteilung zu machen. – In bisheriger Weise weiter zu sammeln sind nach dem Wahlspruch: Von Allem das Beste! – die älteren Epochen bis zum Schluss des vergangenen Jahrhunderts. Nur etwa die Werke von Dürer, von Schongauer und Rembrandt sind auf Vollständigkeit anzulegen.

Eine ganz andere Verpflichtung haben wir für die Leistungen unseres Jahrhunderts. Es muss unser Bestreben sein, als Ergänzung zu unserer modernen Galerie Alles zu sammeln, was in den vervielfältigenden Techniken auf künstlerischen Wert Anspruch zu machen hat. Ausgeschlossen bleibt im Allgemeinen, was nur Reproduktion ist, oder ausschliesslich für den Wandschmuck geschaffen wurde.

Unser Gebiet bleibt noch reich genug. Welch’ unermessliche Schätze hat nicht allein der deutsche Holzschnitt der verflossenen Epoche aufzuweisen! Ich erinnere Sie an das Lebenswerk Ludwig Richter’s, an die unvergessenen Schöpfungen Rethel’s, Führich’s, Schnorr’s, an Menzel’s Illustrationen. Alles Dies annähernd vollständig zu besitzen und jeden Augenblick dem Publikum zur Verfügung stellen zu können, ist die Pflicht eines Kupferstich-Cabinets, das sich einer modernen Galerie anschliesst. Die Radirung ist ja leider bei uns weniger gepflegt worden, aber die humorvollen Blätter Schrödter’s und Neureuther’s, sowie das Werk Menzel’s und seiner Nachfolger müssen wir aufzuweisen haben. Eine besondere Verpflichtung legt uns der Besitz der englischen Galerie auf. Es ist Ihnen bekannt, dass sich in England an die Blüte der Malerei in diesem Jahrhundert eine hohe und eigenartige Entwickelung des Holzschnittes und der Radierung angeschlossen hat. Die englische Holzschnittechnik ist das Vorbild für die Produktion in ganz Europa geworden, genau so, wie im sechzehnten Jahrhundert der grundverschiedene deutsche Holzschnitt. Der Besitz der wichtigsten künstlerisch illustrierten englischen Bücher, der bedeutendsten illustrierten Zeitungen seit ihrem Entstehen – auch sie haben ja der ganzen civilisierten Welt des Vorbild gegeben – würde eine notwendige Ergänzung zu unserer englischen Abteilung bilden.

Dasselbe gilt von einer Sammlung englischer Künstlerradierungen. Ich hoffe, Ihnen einmal durch die Ausstellung einer Privatsammlung zeigen zu können, was diese eigenartige Kunst bedeutet, die das ganze Gebiet des modernen englischen Lebens umschrieben hat. Wo es uns nur ausnahmsweise möglich sein wird, unsern Bestand an englischen Bildern zu vermehren, müssen wir uns an die Radierungen halten, die ja den vollen Kunstwert eines Originals haben. Es giebt in Deutschland noch keine systematisch gepflegte Sammlung. Man hat auch nirgend so, wie bei uns die Veranlassung, sie zu gründen. – Eine öffentliche Sammlung zur Geschichte des modernen Holsschnitts [sic] und der modernen Radierung in Frankreich fehlt in Deutschland ebenfalls. Bei uns würde sie der Charakter unseres Cabinets als selbstverständliche Ergänzung der deutschen und englischen Kunst fordern. Eine umfassende Sammlung dieser Art ist heute noch ohne allzu grossen Aufwand erreichbar und würde dem Gesicht unserer Kunsthalle einen eigenartigen Zug verleihen.

Diese Andeutungen mögen genügen, Ihnen ein Bild von der Erweiterung des Kupferstich-Cabinets im engeren Sinne zu geben.

An das Cabinet wird sich eine Kunst-Bibliothek zu schliessen haben. Wir brauchen ohnehin eine umfassende Handbibliothek, die auch dem Publikum im Lesezimmer jeden Augenblick zugänglich sein muss. Deren Erweiterung zu einer Fachbibliothek ergiebt sich von selbst, gerade so, wie die Handbibliothek des Gewerbemuseums sich mit Notwendigkeit über ihre ursprüngliche Anlage hinaus entwickelt hat. Eine Specialität unserer Bibliothek würde die Abteilung der Werke über englische Kunst bilden. Wir haben die Verpflichtung, alles zusammen zu bringen, was die Engländer selbst über ihre Kunst geschrieben haben. Der Anfang ist bereits gemacht. Mit der Sammlung englischer Holzschnitte und Radierungen im Kupferstich-Cabinet, die wir oben andeuteten, und unserer Galerie zusammen wird dann unsere Bibliothek ein in Deutschland ganz einzig dastehendes Material für das Studium der englischen Kunst bieten. Es handelt sich dabei, das werden Sie zugeben, nicht um ein phantastisches Projekt, sondern um die sachliche Entwickelung gegebener Bedingungen.

Es hat sich sodann dem Kupferstich-Cabinet eine Sammlung von Photographien einzuordnen. Sie bilden heutzutage die Grundlage des Studiums und müssen für die Geschichte der Malerei eintreten, wie die Gipsabgüsse für die der Plastik. Die Werke unserer nationalen Meister, der grossen Italiener, der grossen Holländer müssen in guten Reproduktionen vorhanden sein, um jeden Augenblick die bei der Benutzung der Bibliothek unerlässliche Anschauung gewähren zu können. Auch als Ergänzung zur englischen Abteilung ist unsere Photographiensammlung auszubilden. Man muss in unserer Kunsthalle die Nachbildungen der Hauptwerke wenigstens derjenigen englischen Meister zur Hand haben, von denen wir Originale besitzen. Durch eine derartige Erweiterung des Kupferstich-Cabinets werden wir ein umfassendes Material selbst für eingehende Studien zusammenbringen.

Damit hätten wir einen Überblick über die Vermehrungsthätigkeit der Verwaltung gethan. Es bleibt uns nun noch die dritte Aufgabe: die Nutzbarmachung.

In Bezug auf die Erleichterung des Zugangs und der gewöhnlichen Benutzung der Sammlungen folgen wir auch in dieser Beziehung dem Vorbilde der grossen Museen.

Es kann von dem vielbeschäftigten Hamburger Publikum nicht verlangt werden, dass es regelmässig das Kupferstich-Cabinet besuche und sich die Mappen zu behaglichem Studium heraus geben lässt. Wir müssen auf alle Weise den Zugang zu unsern Schätzen erleichtern.

Aus dem Bestande des Kupferstich-Kabinets [sic] sind deshalb Sonder-Ausstellungen zu veranstalten, die in bestimmten Zwischenräumen wechseln. Wir hätten in dieser Weise ganz systematisch vorzuführen, was wir besitzen; einen Winter lang vielleicht die altdeutschen Kupferstecher; ein andermal die alten Italiener; dann einmal die Holländer des siebzehnten oder die Franzosen des achtzehnten Jahrhunderts. Auch von unsern Photographien beabsichtigen wir Ausstellungen zu veranstalten, und zwar nach demselben Prinzip in einem bestimmten Zeitraum eine Schule in ihrem historischen Zusammenhang. Einführende Notizen in den Zeitungen würden diese Veranstaltungen zu begleiten haben. Ein eigener Saal neben dem Eingang ist für diese Zwecke vorgesehen, damit der Lesesaal vom durchgehenden Publikum nicht berührt wird. Sonderausstellungen aus dem Privatbesitz – eine solche über das Werk Ludwig Richter’s ist uns bereits von einem unter uns weilenden Herrn zugesichert – haben sich nach Möglichkeit anzuschliessen.

Unsere besondere Aufgabe beginnt bei der Lehrthätigkeit im engern Sinne. Wir können hier auf das Vorbild unseres Gewerbemuseums hinweisen, dessen Thätigkeit in ihrem vollen Wert verstanden und geschätzt wird.

Die Kunsthalle mit anders gearteten Sammlungsgegenständen verlangt jedoch eine eigenartige Behandlung, so dass wir auch hier nicht unmittelbar kopieren können.

Wir haben zunächst die Absicht, im Museum selbst vor den Dingen Vorlesungen zu halten. Durch Ihr opferwilliges Entgegenkommen haben wir schon daran gehen können, im Anschluss an die graphische Abteilung einen Hörsaal einzurichten, den wir im Hause haben müssen, um den Transport der Kunstgegenstände zu vermeiden; denn wir wollen nicht sowohl auf kunstgeschichtliches Wissen, auf Kunstphilosophie oder Ästhetik, als auf Kunstanschauung hinaus. Wir wollen nicht über die Dinge, sondern von den Dingen und vor den Dingen reden. Wenn wir uns dabei auch auf die Kunst vergangener Zeit stützen, so geschieht dies nicht, um von der Kunst unserer Zeit abzulenken, sondern um auf sie vorzubereiten. Es wird unsere besondere Aufgabe sein, für die Einführung in die englische Abteilung zu sorgen. Das Studium an Ort und Stelle in England muss uns selbst vorbereiten, der Besuch der grossen englischen Ausstellungen hat uns in stetigem Kontakt mit der englischen Produktion zu halten. Wir gedenken bereits im nächsten Herbst mit den Einführungen in die englische Abteilung anzufangen.

Im allgemeinen wollen wir nicht weitausladende Cyklen lesen, zu deren Besuch man für den ganzen Winter bestimmte Tage festzulegen hat, sondern einen abgeschlossenen Stoff in Gruppen von 4–8 Vorlesungen behandeln, z. B. die protestantische Kunst-Geschichte; die Geschichte des Genrebildes; Rembrandt; das holländische Portrait; und in ähnlicher Weise die italienische, spanische und französische Kunst. Für die Geschichte der niederländischen Kunst bietet uns, nebenbei gesagt, unsere Sammlung alter Meister das ausreichende Material.

Es würde die Aufgabe der Verwaltung sein, den Versuch zu machen, aus Architekten- und Gelehrtenkreisen die Kräfte für alle Gebiete heranzuziehen, die ihr selber ferner liegen. Dies würde vor Zersplitterung bewahren und der allseitigen Wirkung des Instituts zu Gute kommen. Es wäre sehr erwünscht, wenn Einführungen in die Geschichte der Architektur zu Stande kämen, für die unsere Sammlung von Photographien das Anschauungsmaterial zu bieten hätten.

Besonders am Herzen liegt es uns, die Schulen heranzuziehen. Warum sollen die Schüler der obersten Volksschulklassen oder die Schüler der höheren Schulen von der Tertia aufwärts nicht eben so gut von ihren Lehrern in die Kunsthalle geführt werden, wie in den Zoologischen Garten? Es soll ihnen von den Lehrern eine Anzahl der hervorragendsten Bilder eingehend gezeigt und erklärt werden. Sie sollen dabei auf die hingebende Betrachtung aller Einzelheiten der Darstellung geführt werden, sollen die wichtigsten Bilder mit allen Einzelheiten wie ein Gedicht auswendig lernen. Es versteht sich von selbst, dass für die Lehrer von der Verwaltung der Kunsthalle besondere Einführungskurse gehalten werden. Auf die zu erwartenden Resultate brauche ich Sie nicht hinzuweisen. Nur eins möchte ich hervorheben: ich glaube, der Weg durch die Kinder bietet uns die einzige Möglichkeit, in vielen Schichten den Eltern noch beizukommen. Die Kinder, denen die Augen geöffnet sind, bringen uns die Eltern ins Haus.

Bei einer so regelmässig reisenden Bevölkerung, wie der unsern, halte ich die Entwickelung einer anderen Einrichtung, die wir planen, für sehr wichtig. Ich möchte sie kurz den Reiseapparat nennen. Die Kunsthalle muss jedem, der sich zu einer Reise nach Berlin oder Dresden oder Paris oder auch nur nach Lübeck oder Lüneburg vorbereiten will, die Mittel und Wege weisen können. Er muss bei uns die Photographien der Bilder und, was mir sehr nötig scheint, der Gebäude sehen können, die er aufzusuchen hat; ebenso muss ihm die Bibliothek der Kunsthalle die einschlagenden Werke zur Vorbereitung bieten. Zur Benutzung dieses Materials haben systematische Vorlesungen anzuleiten, die zugleich eine kritische Übersicht über den Kunstbesitz der Hauptstädte geben. Wir würden die zu behandelnde Materie etwa nach folgenden Gesichtspunkten gruppieren: Die Museen und Bauten Berlins; Dresden und seine Sammlungen; die Deutschen Galerien; die Kunstdenkmäler und Sammlungen Hollands, Belgiens; die Pariser Sammlungen; die Bauten Ludwig XIV. und in ähnlicher Form Reisedirektionen für England, Italien. Es würde diese Einrichtung die Möglichkeit gewähren, auf das Studium der Architektur zu leiten, dessen Wert für die künstlerische Erziehung nicht hoch genug anzuschlagen ist.

Dies, hochgeehrte Herren, ist in aller Kürze der Plan für die Neugestaltung der Kunsthalle. Wir wollen nicht ein Museum, das dasteht und wartet, sondern ein Institut, das thätig in die künstlerische Erziehung unserer Bevölkerung eingreift. Und das ist ja keine lediglich sittlich-ästhetische, sondern eine ganz hervorragend volkswirtschaftliche Frage. Die Zukunft unserer Kunst wie unserer Industrie hängt davon ab, ob wir uns den prüfenden, grosse und strenge Anforderungen stellenden Käufer im eigenem Land zu erziehen wissen. Dafür ist aber noch so gut wie Nichts geschehen.

Ihnen brauche ich nicht zu sagen, dass es nicht in unserer Absicht liegen kann, dies alles mit einem Male in Angriff zu nehmen. Wir würden selbst dann nicht dazu im stande sein, wenn wir schon jetzt über die Kräfte und Mittel verfügten, die dazu gehören. Es werden auf alle Fälle Jahre vergehen, ehe das Programm in den Umrissen erfüllt ist. Aber wir haben es für dringend geboten erachtet, es Ihnen schon jetzt in seinem ganzen Umfange, wenn auch nur andeutungsweise, vorzuführen. Manches wird die Praxis noch hinzufügen; wegstreichen – das ist unsere Überzeugung – sehr Weniges. Wir wollen unsere ganze Kraft an die Arbeit setzen.

Meine Herren, Sie wissen alle, dass mehr als ein Jahrhundert hindurch die Bürgerschaft Hamburgs das wichtigste nationale Kulturelement des deutschen Nordens bildete. In die Wälle Hamburgs flüchtete sich gegen Schluss des Dreissigjährigen Krieges das geistige Leben. Hier wurde noch im siebzehnten Jahrhundert das erste deutsche Opernhaus errichtet; im achtzehnten Jahrhundert wurde aus der national gebildeten Hamburger Bürgerschaft – allen den in französischer Kultur befangenen Höfen voran – der Anstoss zur Erneuerung unserer deutschen Litteratur gegeben. Mit Stolz nennen wir noch heute den Namen des alten Brockes. Von der Glorie eines Lessing und Klopstock fällt auch ein Strahl auf uns. Und nicht schwächer strömte das Leben auf künstlerischem Gebiet; ich erinnere Sie an die eine Thatsache, dass zu einer Zeit, da überall das Bürgertum darniederlag, bei uns ein Werk gedacht und durchgeführt werden konnte, wie die Grosse Michaeliskirche.

Wohl hat unsere politisch isolierte Bürgerschaft im Kampf um die materiellen Grundlagen des Daseins in unserem Jahrhundert die ideellen Interessen nicht immer in gleicher Intensität wahren können. Aber die Jahre der nationalen Erhebung haben auch uns bereit gefunden, und in den letzten Jahrzehnten sind die umfassendsten Anstrengungen gemacht, neue Grundlagen für die Bildung zu gewinnen. Sie, meine Herren, haben in beispielloser Opferwilligkeit das Volksschulwesen umgestaltet, Sie haben die älteren wissenschaftlichen Institute reorganisiert, Sie haben andere neu gegründet. Die Umgestaltung der Kunsthalle schliesst sich diesen Ihren Bestrebungen als jüngste That an.

Möge sie sich den älteren Instituten würdig anreihen. Möge sie in ihrem bescheidenen Wirkungskreise dazu beitragen, dass die künstlerische Bildung unserer Bevölkerung sich wieder zu der alten Höhe erhebt; möge die Kunsthalle durch ihre Leistungen auch fernerhin die Gunst der patriotischen Mitbürger verdienen, die durch freiwillige Gaben alle Schätze, welche unser Institut schmücken, zusammengehäuft haben. Aber, meine Herren, für die fernere Entwickelung der Kunsthalle reicht die Privathülfe nicht aus. Der Organismus, den ich in knappen Umrissen vor Ihr Auge gestellt habe, kann nicht ins Leben treten, es sei denn, dass Sie es wollen.

Quelle: Alfred Lichtwark, „Die Aufgaben der Kunsthalle. Antrittsrede, den 9. Dezember 1886“, in Lichtwark, Drei Programme, 2. Aufl. Berlin: Bruno Cassirer, 1902, S. 13–31. Online verfügbar unter: https://digitalesammlungen.uni-weimar.de/viewer/image/PPN622982508/1/LOG_0004/.