Kurzbeschreibung

Im 19. Jahrhundert verursachte Deutschlands chemische Industrie massive Gesundheitsrisiken für Arbeiter und Anrainer der chemischen Fabriken. Schwefel-, Salpeter- und Salzsäure zählten zu den schwerwiegendsten Umweltbelastungen. Diese publizistische Breitseite ist das erste Beispiel eines organisierten Versuches, den Bau einer chemischen Fabrik aufzuhalten—in diesem Fall eine Fabrik, die in der Stadt Horst im industriellen Ruhrgebiet Westdeutschlands errichtet werden sollte. Die Verfasser des Flugblatts räumen ein, dass eine neue Fabrik neue Arbeitsplätze bedeutet, weisen allerdings auch auf die Notwendigkeit hin, die lokale Landwirtschaft vor der möglichen Verschmutzung zu schützen. Für sie wiegen die Gefahren der neuen Fabrik eindeutig schwerer als die Vorteile.

Aufruf gegen den Bau einer chemischen Fabrik im Ruhrgebiet (ca. 1874)

Quelle

Gefahr im Verzuge!
Der Bau einer chemischen Fabrik an der Ruhr.

Ein Aufruf an die Bewohner von Horst u. Umgegend.

Die chemische Fabrik Rheinau zu Mannheim hat nunmehr das Conzessions-Gesuch für den Bau einer chemischen Fabrik in Horst an der Ruhr eingereicht und dürfte es an der Zeit sein, im allgemeinen Interesse, besonders im Interesse der Bewohner von Horst und Umgegend, auf die Gefahren und Nachtheile, welche die Fabrication chemischer Stoffe meistens mit sich führt, aufmerksam zu machen.

Von einer Seite, die der Anlage sehr zugethan scheint, wurde vor etwa 3 Wochen durch die Essener Zeitung unter viel versprechenden Worten mitgetheilt, daß sich die zu erbauende Fabrik „insbesondere“ mit Herstellung von Soda zu befassen beabsichtige.

Hiernach ist nicht lediglich Soda als Gegenstand der Fabrication in Aussicht genommen, sondern auch andere Chemikalien sollen fabriciert werden. Nach demselben Zeitungsartikel soll die zu errichtende chemische Fabrik den gesunkenen Wohlstand in Horst und Umgegend heben. Gewiß würde man unter den heutigen drückenden Zeitverhältnissen, wo die Haupt-Industrie unserer Gegend so sehr darniederliegt, die Gründung eines gesunden, den allgemeinen Wohlstand fördernden Industrie-Zweiges mit Freuden begrüßen; jedoch wird man bei gehöriger Prüfung des Sachverhaltes und bei Zugrundelegung des vorhandenen Materials die Ueberzeugung nicht gewinnen können, daß der Bau einer chemischen Fabrik in einer bevölkerten, theilweise auch Ackerbau treibenden Gegend für den allgemeinen Wohlstand von Vorteil sein kann, im Gegentheil greift vielmehr der Gedanke Platz, daß die fragl. Anlage eher dazu angethan sei, der betreffenden Gemeinde einen bedeutenden Schaden zuzuführen oder sie unter Umständen sogar zu ruiniren. []

Nach eingezogenen Informationen liegt nämlich die Besorgnis nahe, daß sich die projectirte Fabrik nicht als Quelle des Wohlstandes, sondern vielmehr als eine Quelle giftiger Chemikalien entpuppen, und anstatt Segen über uns zu ergießen, Luft und Wasser verderben werde. [] Wer sich ein richtiges Urteil über die Fabrication von Soda resp. über die dadurch entstehenden Schäden zu verschaffen beabsichtigt, der besuche die Plätze Schalke und Duisburg, woselbst der Augenschein und die Mittheilungen der in der Umgegend der dortigen chemischen Fabriken sich befindenden Bewohner den richtigen Sachverhalt klar vor Augen führen werden. []

Bei Herstellung von Chemikalien bilden sich je nach den in Gebrauch genommenen Rohproducten und nach Art und Weise der Fabrication allerlei schädliche Dämpfe als: Schwefelwasserstoffgas, Chlorwasserstoffgas, Salzsäuredünste etc., welche beeinflußt durch Temperatur und Windrichtung die Luft bis zu 2000 m und noch weiter verderben, auf die menschliche Gesundheit nachtheilig einwirken und die Vegetation stören oder sogar vollständig vernichten. Es ist durch unzählige Gutachten von Sachverständigen und gerichtliche Erkenntnisse festgestellt, daß durch die aus den chemischen Fabriken ausströmenden Gase Pflanzen und Baumwuchs zu Grunde gehen; außerdem zeigt auch der Augenschein dem Laien bei einiger Beobachtung mit aller Bestimmtheit, welche nachtheilige Folgen die Säure-Dünste haben. Bei entsprechender Windrichtung und Temperatur genügt manchmal nur ganz kurze Zeit – einige Stunden – um Pflanzen und Holzgewächse zu tödten. Besonders und in sehr weitem Umkreise werden Blüthen von Feldfrüchten und Obstbäumen betroffen, die von den chemischen Dünsten angehaucht vor der Zeit abfallen. Hervorzuheben ist hierbei noch, daß bei den in größerer Entfernung verursachten Schäden – namentlich bei Blüthen – die Beweisführung für die betreffenden Interessenten im Falle von Vergütungs-Ansprüchen oder Klagen sehr schwierig wird, indem tathsächliche Momente über die Ursache der angerichteten Schäden von Seiten der Sachverständigen meist nicht mit Bestimmtheit angegeben werden können, zumal bei Feststellung des objectiven Tathbestandes zwischen der Zeit der Beschädigung und der Zeit der Constatierung derselben keine lange Frist liegen darf, was namentlich beim Gerichtsverfahren nicht immer die nöthige Berücksichtigung finden kann.

Die Wiesen und Kleefelder werden in doppelter Weise von den Ausdünstungen geschädigt und zwar erstens, weil sie im Wachsthum gestört werden, und dann auch noch, weil die betreffenden Futterstoffe, mögen sie frisch oder getrocknet sein, fürs Vieh ungenießbar werden. Der Dr. Schröder, Docent an der Forstakademie in Tharant (Sachsen) machte auf der 7. Versammlung deutscher Forstmänner in Dresden im August vorigen Jahres in einem Vortrage darauf aufmerksam, daß schwefelige Säuren – die sich bekanntlich auch bei der Sodafabrication bilden – nachtheilig auf die Blattorgane wirken, und daß er es übernommen habe, dies durch zahlreiche chemische Untersuchungen festzustellen. Dabei hat es sich gefunden, daß die Säuren den Chlorophylstoff zerstören und die Transpirationskraft so beeinträchtigen, daß die Blätter vertrocknen müssen, was natürlich das Absterben der betreffenden Holzgewächse zur Folge hat. Bei der chem. Fabrik Rheinau ergibt der Augenschein, daß die aus den Fabrikgebäuden und Kaminen entweichenden Säure-Dünste ganz verheerend auf die umliegenden Wälder und Gärten gewirkt haben. Bei feuchter und windstiller Witterung ist die ganze Gegend auf 1/4 bis 1/2 Stunde im Umfange von diesen giftigen Gasen in Form eines stinkigen Nebels fast vollständig undurchsichtig eingehüllt, und die Dünste fallen dann, weil sie spezifisch schwerer sind als die reine atmosphärische Luft, zur Erde, und tödten langsam jede Vegetation. Die angerichteten Schäden spotten jeder Beschreibung. Da sich trotzdem die Fabrik-Verwaltung geweigert hat, den Beschädigten eine Vergütung zu bewilligen – was von einigen anderen chem. Fabriken in der dortigen Gegend bereitwilligst geschieht –, so haben die Wald- und Grundbesitzer zur Erlangung ihres Rechtes den Gerichtsweg betreten müssen, über dessen Resultat man bei dem bedeutenden Beweis-Material und bei Vergleichung ähnlicher Fälle, welche zu Verurtheilungen führten, außer Zweifel sein mochte. Die Rheinau hat, wie gesagt, die ihr von den Geschädigten angebotene gütliche Einigung ohne Weiteres von der Hand gewiesen, ein Beweis, daß in Horst die umliegenden Grundbesitzer vorkommenden Falls auf coulantes Entgegenkommen wohl nicht mit Sicherheit rechnen können.

In ihrem Conzessions-Gesuche sagt die Rheinau, daß sich in kürzerer Entfernung von der in Horst projectirten Fabrik nur ein Gebäude befinden werde. Ganz abgesehen davon, daß kurze oder weite Entfernung ganz relative Begriffe sind, – die schädlichen Gase ziehen sich bekanntlich unter Umständen über 2000 m weit – liegen in einem Umkreise von nur 500 m von dem in Aussicht genommenen Fabrikgrundstücke mindestens 20 bis 30 Wohngebäude und liegt außerdem kaum 400 m von demselben Grundstücke entfernt in der dort vorherrschenden Windrichtung die Arbeiter-Colonie von Neuschottland mit ungefähr 50 Wohnungen nebst Gärten und etwa 400 Einwohnern. Soll man den Arbeitern, die schon in ihren Arbeitsstunden theilweise schlechte Luft einathmen müssen, auch noch die Luft für ihre Erholungstunden verpesten? Der Bürgermeister von Seckenheim – woselbst, wie bereits erwähnt, die Fabrik Rheinau jetzt liegt – erklärt auf eine diesbezügliche Anfrage ganz offen, daß eine Fabrik wie die Rheinau nicht dahin gehöre, wo sich Äcker und Gärten befinden, sondern in eine Haide, wo nichts wächst; zudem könne die Fabrik bei dem jetzigen Armen- resp. Freizügigkeits-Gesetz der Gemeinde nur zum Nachteile gereichen, wegen der sehr ungesunden Beschäftigung der Arbeiter, die leider dem ziemlich hohen Lohne zuliebe ihre Gesundheit auf Kosten des späteren Armen-Etats zum Opfer bringen.

Von ärztlicher Seite wird unter Anderem hervorgehoben, daß die Säure-Dämpfe einen sehr lästigen und nachtheiligen Einfluß auf die Athmungsorgane ausüben. Nach den Gesetzen der Wissenschaft ist jede fremdartige Beimischung der Luft, besonders aber die Beimischung von scharfen, die Schleimhäute reizenden Substanzen schädlich und der Gesundheit nachtheilig. Ebenso wirken die in den Sodaschlamm sich entwickelnden Schwefelwasserstoffgase sehr belästigend und schädlich auf die Gesundheit der nächsten Umgebung, zumal wenn die Anschüttung der Abfälle (des sogenannten Sodaschlammes) in hohen Haufen erfolgt. [] Die chemischen Untersuchungen des Abwassers, welches sich bei der Sodafabrication in mehreren Fällen ergeben, weisen an Bestandtheilen: Salzsäure, Eisenoxyd, Mangan und Schwefelsäure auf, Stoffe, welche geeignet sind, auf das Trinkwasser die nachtheiligste Wirkung zu üben. Sollten nun die bereits erwähnten Senkgruben auf dem angekauften und zum Bau der Fabrik bestimmten Terrain, welches als Unterboden hohe Kieslager hat, wirklich angelegt und benutzt werden, wer wird dann wohl bei der hohen Lage des betreffenden Grundstückes und der Beschaffenheit des Bodens darüber im Zweifel sein können, daß das gifthaltige Wasser trotzdem durch den Kies hindurch in die umliegenden Brunnen und namentlich in die nahe gelegene Ruhr gelangt, wodurch das Trinkwasser für mehrere Wasserleitungen, also für Tausende von Menschen verdorben werden würde.

Noch vor ganz kurzer Zeit, am 31. März d. J., brachte die Köln. Zeitung die Mittheilung, daß laut chemischer Untersuchungen fast sämmtliches Brunnenwasser in Barmen vergiftet sei, und zwar theilweise durch das verdorbene Wasser der Wupper, und dann auch wohl durch Ablagerung chemischer Stoffe und Abfälle, deren schädliche Substanzen, durch Regen angefeuchtet, mehr oder weniger in die Erde ziehen und sich auf diese Weise dem Brunnenwasser mittheilen. Leider ist im Wuppertale eine plötzliche Abhülfe dieses gewiß sehr großen Uebelstandes wegen langjähriger Privilegien nicht gut ausführbar und wird das Wasser der Wupper ja auch nur zu Fabrik-Zwecken, Waschungen etc. gebraucht. Hier an der Ruhr aber haben wir bis jetzt so zu sagen keine für das Trinkwasser und die Fischzucht schädliche Industrie, und dürfen wir daher wohl hoffen, daß die Verwaltungen der unterhalb Horst belegenen Wasserwerke, sowie auch die betreffenden Behörden geeigneten Orts gegen die Anlage protestiren werden.

So ist zu hoffen, daß die Königl. Regierung in einer Zeit, wo der Ackerwirtschaft mit Recht besondere Aufmerksamkeit zugewandt, ja sogar staatlicher Schutz in Aussicht gestellt wird, und wo das Reichs-Gesundheits-Amt nach vielen Seiten wirkt, nicht einer, der Vegetation und menschlichen Gesundheit schädlichen Industrie in einer so bevölkerten Gegend wie die hiesige, mit Rücksicht auf einige Sonder-Interessen, die Conzession ertheilen wird. Um aber alles zu thun, was Privatpersonen hierbei zu thun vermögen, müssen die Bewohner der bedrohten Gegend sich zu einem gemeinsamen Proteste vereinen, um auf diese Weise die bevorstehende Gefahr fernzuhalten.

Proteste gegen den Bau der Fabrik sind bis zum 10. Juni bei Herrn Amtmann Schumacher in Hattingen anzubringen.

Quelle: Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, 35949 [Die Druckschrift ist nicht datiert; ihre Einordnung innerhalb der Akte lässt darauf schließen, dass sie ca. 1874 erstellt wurde]; Originaltext wieder veröffentlicht in Franz-Josef Brüggemeier und Thomas Romelspacher, Blauer Himmel über der Ruhr. Geschichte der Umwelt im Ruhrgebiet 1840–1990. Essen: Klartext, 1992, S. 130–33.

Aufruf gegen den Bau einer chemischen Fabrik im Ruhrgebiet (ca. 1874), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/reichsgruendung-bismarcks-deutschland-1866-1890/ghdi:document-1789> [25.04.2024].