Kurzbeschreibung

Ferdinand Avenarius (1856–1923) studierte Naturwissenschaften, Philosophie, Literatur und Kunstgeschichte. In den 1880er Jahren arbeitete er als Schriftsteller und Publizist in Dresden. Im Jahr 1887 begründete er die Zeitschrift Der Kunstwart, die er bis 1923 herausgab. Der folgende programmatische Artikel wurde in der ersten Ausgabe von Der Kunstwart im Oktober 1887 veröffentlicht. Darin kritisiert Avenarius die zeitgenössische deutsche Gesellschaft für ihre Bevorzugung der Vernunft und Wissenschaft und Vernachlässigung der Künste. Darüber hinaus beklagt er das Fehlen beständiger, einheitlicher Prinzipien in der deutschen Kunst.

Ferdinand Avenarius über die schönen Künste: Erstausgabe von Der Kunstwart (1. Oktober 1887)

  • Ferdinand Avenarius

Quelle

Unsere Künste. Zum Überblick

Bevor wir die Reihe der Aufsätze eröffnen, die an dieser Stelle wichtigen Zeit- und Streitfragen unseres Kunstlebens sich widmen sollen, werfen wir einen schnellen Überblick über den Stand der Künste in der Gegenwart. Er soll nichts weiter, als uns noch einmal des Weges bewußt werden lassen, den wir gehen.

Vielleicht werden künftige Forscher bei der Kennzeichnung des Geistes, der in unserem Geschlechte waltete, Eines als ein Wichtiges hervorheben: die fast unbeschränkte Hochschätzung der Verstandesbildung auf Kosten der Bildung von Empfindung und Phantasie. Und, entwickeln wir uns überhaupt einem harmonischen Menschentume entgegen, so dürfte ihnen nicht schwer werden, aus jener Thatsache allein zu beweisen, daß sich die geistige Kultur unserer Zeit auf einer reinen Höhe nicht befunden habe. Nach der Empfindungsschwelgerei im Zeitalter der Sentimentalität, nach der einseitigen Pflege ästhetischen Genießens, die im Bewußtsein der großen Menge der Gebildeteren ihr folgte, erscheint der heutige Kultus des Verstandes und Willens freilich fast wie die nachträgliche Stärkung eines vernachlässigten Organs. Auf der Höhe der Menschheit aber schreitet ein Geschlecht erst dann, wenn es die ebenmäßige Ausbildung all seiner Kräfte erstrebt und erreicht hat.

Es war eine Folge der Schwächung der Phantasie in der jüngeren Vergangenheit, daß, was man an den Kunstwerken schätzte, mehr und mehr ein Äußerliches ward. Wir sprechen nicht von dem Hauptinteresse der Massen, dem stofflichen, das ganz aus dem Bereich des Künstlerischen hinausfällt, nicht von der Teilnahme für den Gegenstand der Darstellung, statt für die Darstellung selbst, nicht von der Freude am Was, statt am Wie. Wir sprechen davon, daß mehr und mehr auch im rein künstlerischen Empfangen der niedere Genuß den höheren verdrängt hatte. Das rein sinnliche Gefallen des Ohres am wohltönenden Reime oder am angenehmen Klang, des Auges an der gefälligen Linie oder reizenden Farbe hatte das Empfinden dafür abgestumpft, daß dieser Reim oder Ton, diese Linie oder Farbe vielleicht sehr schlecht ihre Hauptaufgabe erfüllten: die nämlich, irgend einen Bewußtseinsinhalt im Sehenden oder Hörenden durch Anregung seiner Phantasie zu erwecken. Die Aeußerung dieser Sinnesart, gegen die sich nun eine Gegnerschaft kräftiger und kräftiger erhebt, war für die Genießenden eine immer geringere Wertschätzung der Kunst, — die man mehr und mehr nur als eine Art von „Vergnügung“ wenn nicht zu bezeichnen, so doch zu denken sich gewöhnte — und für die Schaffenden eine höhere und höhere Wertschätzung und Hervorkehrung des dekorativen Elements.

Das zeigt am deutlichsten ein Blick auf das Gebiet des wiedererstandenen Kunsthandwerks. Wär’ unser Phantasieleben kräftiger, es würde uns noch öfter gelingen, das innere Wesen irgend eines gewerblichen Erzeugnisses unserer Zeit in der Erscheinung desselben auszuprägen, als es in der That uns gelingt, und seltener würden wir entweder zur Anleihe bei anderen Zwecken dienenden Erzeugnissen der Vergangenheit oder zur rein äußerlichen und deshalb gleichfalls nicht kennzeichnenden Verzierung greifen. Bis vor kurzem noch war ein Gerät, dessen Form in Wahrheit sein Wesen, seine Gebrauchsbestimmung, unverkennbar ausdrückte, auf manchen Gebieten des Kunsthandwerks die Ausnahme und nicht die Regel. Erst in den letzteren Jahren hat man sich darauf besonnen, daß Stoff, Zweck und Form sich gegenseitig bedingen, und bemüht sich nun mit immer geübterer Phantasie, diese Wechselwirkung zum sichtbaren Ausdruck zu bringen.

Zu einer wahrhaft gesunden, keimtragende Früchte verheißenden Blüte des Kunstgewerbes auf allen seinen Gebieten dürften wir freilich noch nicht gelangt sein. Es gehörte dazu, daß sich alle hier schaffenden Kräfte in einer Formensprache äußern, vertiefen, fördern könnten: in einer Formensprache, die hier doch wohl so notwendig ist, wie die eine gemeinsame Wortsprache in der Dichtung eines Landes, wenngleich nicht entfernt in ihrer Wichtigkeit so anerkannt, wie diese in der ihren. Ein jeder Stil wächst, altert und stirbt; wir aber haben keinen Stil, der aus unserem Wesen erwachsen wäre, und vertiefen uns deshalb auf dem Wege der Anempfindung in die Ausdrucksweisen vergangener Geschlechter. Auch ein angenommenes Kind kann mit unserem Fühlen verwachsen, kann unser Fühlen weiterbilden, konnten wir es nur in langem Beisammensein erziehen. Auch durch jene Anempfindung könnten wir so gut zu einem Eigenen gelangen, wie die deutsche Gothik durch das Anempfinden der italienischen Renaissance zur deutschen gelangte. Unser Unglück aber ist das ruhelose Wechseln von Stil zu Stil. Durch wissenschaftliche Anregung war das wiedererstehende Kunsthandwerk auf die Formen der Renaissance gewiesen, an denen Wien am festesten hielt, die München mit Betonung des deutsch Nationalen pflegte und die ebenso, wenn auch trockener und mit ärmerer Phantasie, von Berlin aufgenommen wurden. Aus der Renaissance begann man bald genug dem Barock zuzutreiben, dem schließlich wiederum das Rococo folgte. Und so suchte man, sehr zum Nachteil der kaum mit der Renaissance vertraut gewordenen Arbeiter und nicht minder zum Nachteil des Publikums, das aus dem eben begonnenen Einleben in eine bestimmte Ausdrucksweise gerissen wurde, eine immer wieder andere Formensprache zu erlernen. Es ist klar, daß damit die Herausbildung einer eigenen durch die Verschmelzung der fremden mit dem Empfindungsinhalt unseres Volkes und unserer Zeit — stets aufs neue in die Ferne gerückt ward.

Vergleichen wir das Kunstgewerbe unserer Tage mit dem vor zwanzig Jahren arbeitenden, so werden wir trotzdem keinen Augenblick den reichen Segen verkennen, den es auch in geistiger Beziehung gebracht hat. In den fast erstorbenen Formensinn der Gewerbtreibenden ist Bewegung gekommen. Und auf diesem einen Gebiete wenigstens ward eine deutlich spürbare Teilnahme Aller für ein Künstlerisches geweckt, so daß ein allmähliges Erstarken des Sinnes auch für die eigentliche, die hohe Kunst daraus für unser Volk zu erhoffen ist. Von der wirkenden Machtstellung aber, die das Kunsthandwerk im Bewußtsein der bildenden Künstler selber erlangt hat, zeugen seine Einflüsse auf Architektur und Plastik.

Wenden wir uns zur Betrachtung der Baukunst. Sie steht, wie die bildende Kunst des neunzehnten Jahrhunderts überhaupt, ohne organischen Zusammenhang mit der des achtzehnten da. Die Revolution und die napoleonischen Kriege hatten die Ueberlieferung zerrissen und wissenschaftliche Forschung auf Grund der Antike den Boden für ein Neues bereitet. In der Baukunst blühte es als unsere „klassizierende Architektur“ mit Schinkel. Es war eine Abstraktion, ans Altertum anzuknüpfen; der geschichtliche Sinn führte vom Altertum weiter. Man kam zu dem ihm Verwandtesten, zur italienischen Renaissance. Damit war der Weg gebahnt, auch in Frankreich, in den Niederlanden und vor allem in Deutschland den Anschluß für das Schaffen der Gegenwart zu suchen. Es war das Kunstgewerbe, das alsdann den Gang von der Renaissance zum Barock und zugleich vom streng Konstruktiven zum Dekorativen beschleunigte. Das Barock herrscht heute. Aber von allen Seiten sieht schon das Rococo herein. Bedeutsame Abzweigungen unserer Architektur am Rhein und in Hannover grünen während alledem fort auf dem Boden der Gothik. Woraus nun würde ein neudeutscher Stil erwachsen, wenn er überhaupt erwachsen würde? Am wahrscheinlichsten dürfte es sein, daß seine Keime nahe jener Gruppe von Baumeistern lägen, welche die reizvollen Gestaltungen der deutschen Frührenaissance mit modernem Geiste zu befruchten suchen. Scheinen sie doch einen Vorgang einzuleiten, dem verwandt, der uns schon einmal zur Zeit höchster Kraftentfaltung der Kunst ein wirklich Nationales schuf.

Die Bildhauerei unseres Jahrhunderts konnte unmittelbarer als jede andere Kunst sich an der Antike schulen, die leider nur gegenüber der Menge flacher Kopistenarbeiten, die erhalten geblieben, von der Mehrzahl ihrer Anbeter arg mißverstanden wurde. Dem Thorwaldsen’schen Klassizismus, der dem Schinkel’schen vergleichbar ist, stellte Schadow, der Schöpfer einer rücksichtslos nach Kennzeichnung strebenden Monumentalbildnerei, ein Nationales entgegen. Mit Rauch gelang eine Zusammenfassung beider Elemente zu einer wenigstens äußerlichen Einheit, mit der ein Kanon gegeben war, dem Jahrzehnte huldigten. Heute haben sich unsere Plastiker und zwar eher und mehr in Berlin und München, als in Dresden, an unbefangene Betrachtung der Natur wieder gewöhnt, und ein bald maßvoller, bald keckerer Realismus bezeichnet das Schaffen derer, „die mitsprechen.“ Charakteristisch für unsere Zeit ist hierbei die Aufregung, welche die Frage der Polychromie unter den Bildhauern verursacht hat — eine Frage, die, von der Kunstwissenschaft angeregt, kaum ihre heutige Bedeutung erlangt hätte, käme nicht jene Betonung des Dekorativen hinzu, von der wir sprachen. Daß der farbigen Skulptur eine Zukunft bevorsteht, läßt sich nicht mehr bestreiten; wie viel von der Vielfarbigkeit auch die monumentale Bildnerei gewinnen wird, muß hier dahingestellt bleiben. Unterstützt wird vorläufig die Polychromie (abermals im Zusammenhang mit dem Kunstgewerbe) zumeist von der wiedererwachten Kleinplastik. Durch diese übrigens dürfte es der Skulptur auch gelingen, wieder volkstümlicher zu werden, als sie ist.

Für die Malerei ersetzten in unserem Jahrhundert die mangelnden Vorbilder der Antike jene Werke der Italiener, von deren mannigfach wechselnder Nachahmung noch heute unsere Kirchenmalerei Zeugnis giebt. Im Übrigen sind die Ideale wesentlich andere geworden. Es war der Einfluß dessen, was man als „Antike“ verstand, verbunden mit dem Hinsterben des Farbensinnes, der mit den blassen Tönungen des Rococo versickert war, daß man auch hier nur in der Form das Heil erkannte und die Farbe mißachtete. Heute hat sich das Verhältnis umgekehrt. Cornelius wie die ganze Reihe der Kartonzeichner sind von der Gegenwart weit getrennt: einseitig wie man sie früher überschätzte, so unterschätzt man sie heute vielleicht, wenn man über den Mängeln ihrer Pinsel- und Kreideführung die Durchgeistigung ihrer Stoffe vergißt, die wenigstens den Ursprünglichsten unter ihnen gelang und eben auch zum „Wie“ der Kunst gehört. Paris und Belgien mit ihren Koloristen gaben den Anstoß zur Wiederkehr der Farbe in die Bilderwelt, wie sie dann in Münchens Pilotyschule aufleuchtete. Aber auch diese Koloristik stirbt dahin: der „goldige Ton“ ist nicht mehr der gepriesenste Vorzug unserer Gemälde. Konventionell, wie die vorausgegangene, war im Grunde auch diese Richtung gewesen. Nun ist die Palette Pilotys als „Sauce“ verschrieen und auch Makarts so bewunderter Kolorismus wird skeptisch betrachtet. Die Freude an Klarheit der Farbe, wie die Natur dem Unvoreingenommenen sie zeigt, steht im Mittelpunkt der Bewegung, die immer weitere Kreise umzieht: der aus Paris entstammenden „Freien-Luft-Malerei.“ Es ist nicht zu leugnen, daß die junge Genossenschaft noch oft die Fehler ihrer Tugenden für ihre Tugenden selber hält, nicht zu leugnen, daß sie durch Uebertreibung einer gesunden Reaktion gegen den Manierismus der Schönheit häufig genug dem Manierismus der Häßlichkeit verfällt. Und es ist nicht zu leugnen, daß andererseits die junge Malerschule in der Freunde, die Gegenstände wiedergeben zu können, wie sie sind, zeitweise dem Irrtum verfällt, damit sei es gethan. Dem, der sehen will, erschließen sich trotzdem schon nach allen Seiten Ausblicke in das Zukunftsland jener Kunst, die nach vollständiger Überwindung der technischen Schwierigkeiten häufiger und häufiger auch ein seelisch Bedeutendes erzeugen wird. Nicht als eine Malerei von Gedanken, sondern als eine solche von Anschauungen, nicht als Kunst des Verstandes, sondern als Kunst der Phantasie.

Ein wunderbar schnelles Wachsen, Grünen und Blühen war in den beiden letzten Jahrhunderten der Musik beschieden. Blicken wir auf die Zeit vor Bach und Händel zurück, — eine Zeit, deren musikalische Schöpfungen uns innerlich vollständig fremd geworden — und von ihr auf die Gegenwart, so drängt sich uns die Überzeugung auf, daß wohl neben der staunenerregenden Entfaltung der griechischen Plastik des Altertums und der Malerei der Renaissance kaum ein viertes Beispiel gleich schneller Entfaltung einer bisher nur knospenden Kunst zu dem dritten unserer Musik sich bietet. Deshalb brauchen wir nicht zu behaupten, daß es in ihr von Künstler zu Künstler stets vorwärts ging, daß Seiten- und vielleicht auch Rückschritte fehlten, wie ja die Blütengeschichte auch jener Künste sie aufzeigt. Die Stimmungen, Leidenschaften, die Empfindungen überhaupt, geläutert, d. h. von den Beimischungen des Zufalls losgelöst, vor uns walten zu lassen, uns solcher Weise von den Banden der Wirklichkeit zum verdichteten Genusse unseres Selbst in einer Welt der Wahrheit zu befreien: das ist der Tonkunst unseres Jahrhunderts doch wohl noch mehr gelungen, als der jeder vorangehenden Epoche.

Unzweifelhaft wirkte dazu die gewaltige Erweiterung der musikalischen Ausdrucksmittel mit, die der Instrumentenbau, die Instrumentalvirtuosität und mit ihnen im Zusammenhang die Orchestrierung zeitigten. Fast aber in noch höherem Maße der vielleicht wichtigste Teil der Musik: die Gesangskunst. Indem das Streben nach Vertiefung, nach Durchgeistigung, Anlaß ward zum an und für sich bedauerlichen Rückgang der Gesangsvirtuosität, ward doch unser Gesang vor dem vollständigen Aufgehen in dieser letzteren gerettet. Nun ist es die Vokalmusik, die heutzutag die bedeutendsten Erfolge errungen hat, und das nicht nur im „musikalischen Drama“, sondern auch im lyrischen, ja im epischen Gesange. Daß hinter ihr die reine Instrumentalmusik zurücktritt, mag in der Thatsache begründet sein, daß unsere ganze Tonkunst mehr denn früher nach Charakteristik drängt, und daß diese Charakteristik des stützenden und erklärenden Wortes oft nicht entraten zu können meint. Eine Stütze mehr für diese Ansicht könnte vielleicht aus der Betrachtung unserer „Programm-Musik“ erwachsen, die freilich weder so neuartig oder so unselbständig sein dürfte, wie ihre Gegner behaupten, noch so dem eigentlichen Wesen der Instrumentalmusik entsprechend, daß sie als vollkommenes Muster der ganzen Gattung betrachtet werden könnte.

Ohne Vergleich tiefer steht die nächste Kunst der successiven Anschauung, die Mimik, ja, es kann im eigentlichen Sinne kaum von einer Entwickelung der letzteren gesprochen werden. Fehlt ihr doch die vielleicht wichtigste Bedingung einer solchen mit dem Fixierungsmittel für ihre Schöpfungen, das die beiden anderen zeitlichen Künste in Lettern- und Notenschrift besitzen. Während in diesen das eigentliche Kunstschaffen das seines Zusammenhangs mit dem Vorher und Später unbewußte Volksschaffen weit überholt hat, begegnen wir in der Mimik dem Umgekehrten: die nationalen Volkstänze nähern sich weit mehr dem Wesen der Kunst, als die vollständig unkünstlerischen Tänze des „Salons.“ Mit verschwindenden Ausnahmen künstlerisch ein Nichts ist auch unser Ballet. Anderen Völkern scheint der Sinn für mimische Schönheit und Charakteristik weniger abhanden gekommen zu sein, als dem unseren, das einer dem heutigen Deutschland so neuen Kunstgattung, wie sie die englischen Aufführungen des „Mikado“ uns kennen lehrten, erfreut und anerkennend, aber — und gerade in seinen Kritikern am meisten — vollständig haltungslos gegenüber stand. Nur bei der mimischen Hilfskunst der Dramatik, bei der Kunst der Schauspieler liegt die Sache anders. Zwei Strebungen gehen hier immer noch nebeneinander, deren eine die Schönheit, deren andere die Charakteristik in ihren Leistungen hervorzuheben sucht, zwei Richtungen, die nicht ganz treffend als die „idealistische“ und „realistische“ bezeichnet werden. Wie in allen übrigen Künsten erkräftigt sich mehr und mehr die letztere.

Ein Ding der Unmöglichkeit ist es, auch nur die flüchtigste Umrißskizze vom verschwommenen Zustand unserer Poesie mit wenigen Linien zu zeichnen. Vermögen wir in vergangenen Zeitabschnitten unseres Schrifttums als „Romantik“, als „junges Deutschland“, als „Klassizität“ sehr wohl bestimmte Strömungen zu unterscheiden, so gleicht unsere heutige Dichtung der Stelle eines Meeres, an welcher verschiedene Flutungen bald sich bekämpfen, aufhalten oder fortschieben, bald durcheinander wirbeln: wir können die einzelnen nicht klar erkennen. Nach sachlichen, ästhetischen, überhaupt seelischen Gemeinsamkeiten ist eine Gruppierung der Schriftsteller, die heute im vollsten Mannesalter stehen, vielfach unmöglich.

Von jenen äußeren, stofflichen Merkmalen der Gattung zeigt uns jedoch schon unsere Lyrik einige, die durch alle Dichtungsarten zu verfolgen sind. Wir finden schon hier, daß, was sich der besonderen Gunst des Publikums erfreut, weit weniger das aus der Tiefe heraufgeborene Ursprüngliche ist, als eine, wenn wir so sagen dürfen, „Rezeptpoesie“, die nach im Volke beliebten Vorbildern neue Nachbildungen gestaltet. Sehr in der Pflege war längere Zeit die antiquarische Lyrik und lyrische Epik. Sehr in der Pflege auch, wenngleich nie annähernd populär geworden, die meist in antiken Versmaßen sich bewegende Lyrik des Weltschmerzes. Wirklich originale Schöpfungen gelangen nur wenigen Lyrikern, die dann, wie Keller und Storm, oft erst nach Jahrzehnten einen kleinen Kreis von Verstehenden sich gewannen. Auch ihre Lyrik aber ist zumeist eine ruhige Selbstschau über eine ruhige Seele. Der Umstand, daß fast alle unsere Gelegenheitsdichtungen auch da, wo sie den mächtigsten „Gelegenheiten“ ihre Anregung verdanken, in Rhetorik verfallen, er zeugt davon, daß die großen Bewegungen unserer Zeit wohl dem Verstande und Empfinden unserer Dichter genaht sind, daß sie aber noch nicht ihr inneres Schauen, ihre Phantasie so wie bei anderen hochstehenden Völkern beherrschen. Noch immer fühlt sich gar mancher Poet in Deutschland, ob er es sich selber gestehen oder verbergen mag, lieber als Weltflüchtling, denn als Mitbildner seiner Zeit. Ganz verwandte Erscheinungen zeigt unsere Epik. Auch in ihr war die antiquarische Gattung beliebt, besonders in den archaischen Romanen, deren Verfasser nicht nur durch ihre Stoffwahl, sondern auch durch die altertümelnde Art ihrer Darstellungen ausnahmsweise ein Gemeinsames zeigten, das sie von ihren Vorgängern unterschied. Eine Blütenperiode dürfte in der Gegenwart der deutschen Novelle beschieden sein, die eine Reihe höchst feingeistiger Männer auf eine nie vorher erreichte und kaum noch zu steigernde Höhe gebracht haben. Schließt es bei ihr die enge Kunstform fast aus, daß mehr als ein schönes Spiel des fabulierenden Geistes geboten werde, so wäre dieses beim großen modernen Romane nicht der Fall. Aber auch in ihm begegnen wir noch selten dem Verlangen, die Lebensadern unserer Kultur selber durch organische Gebilde pulsen zu fühlen. Mit wenigen Ausnahmen stellt unsere Romandichtung eine Neubelebung früherer litterarischer Strebungen dar, so daß wir je nach Liebhaberei, Geschmack und Bildungsgang der Einzelnen immer wieder Akademiker und Rationalisten, Stürmer und Dränger, Jungdeutsche und Romantiker, Phantasten und Pseudorealisten und schließlich die seltsamsten Mischungen vom Einen und Anderen beisammen vor uns haben. Einige Blicke auf unser Drama würden mutatis mutandis denselben Eindruck erzeugen. Es ist unter solchen Verhältnissen nicht zum Verwundern, daß viele unserer Gebildeten bei Franzosen, Skandinaviern und selbst Russen zu finden suchen, was wir ihnen noch nicht geben können.

Noch nicht — denn unverkennbar scheint es uns, daß sich in unserer Dichtung eine Wendung zum Besseren bemerkbar macht. Freudig begrüßen wir vor Allem Eines. Die spielerische, auf der Oberfläche herumgeistreichelnde Art des Schrifttums, die das Feuilleton großgenährt, wird bei dem gebildeten Teil der Genießenden mehr und mehr mißachtet, zeige sie sich nun im Gedicht, als Erzählung oder auf der Bühne. Und auch in die Schaffenden ist ein größerer Ernst eingezogen, ein volleres Bewußtsein von den gewaltigen Aufgaben, welche die Dichtung unserer Zeit zu lösen hat, will sie eben die Dichtung unserer Zeit sein. Es mangelt diesem Bewußtsein nicht an Irrtümern des Gedankens sowohl wie der Empfindung, die, ausgewachsen am Baum unserer Kunst, nur verkrüppelte Äste geben könnten. Aber es mangelt auch weder an kraftvollen Zweigen, die neu ergrünen Jahr um Jahr, noch an frisch aufstrebenden jungen Trieben voller Saft.

So giebt uns keine Kunst, sehen wir nur von der verkümmerten Mimik ab, — deren als einer Kunst zu gedenken, wir heute fast entwöhnt sind, — ein Recht, mißmuthig auf ihr derzeitiges Schaffen zu sehen. Und was das Beste ist: wo wir noch keine Gesundheit finden, finden wir doch zum mindesten die Vorzeichen der Gesundung. Lernt nur unser Volk mehr und mehr ermessen, wie viel aus einem vollen Sich-Ausleben einer vollkräftigen Kunst an innerer Stärke ihm zuwächst, so dürfen wir uns des Weges freuen, der vor uns liegt.

Quelle: Ferdinand Avenarius, „Unsere Künste. Zum Überblick“, Der Kunstwart. Rundschau über alle Gebiete des Schönen (Dresden), 1. Jg., 1. Stück (1887): S. 1–4. Online verfügbar unter: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/kunstwart1/0007.

Ferdinand Avenarius über die schönen Künste: Erstausgabe von Der Kunstwart (1. Oktober 1887), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/reichsgruendung-bismarcks-deutschland-1866-1890/ghdi:document-1776> [23.04.2024].