Kurzbeschreibung

Georg Gottfried Gervinus (1805–1871) gehörte zu den politisch engagierten nationalliberalen Professoren, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts prägenden Einfluss auf die Ausgestaltung der politischen Kultur in Deutschland nahmen, und zwar als Historiker wie auch durch sein politisches Engagement. Gervinus war einer der sieben Professoren der Göttinger Universität (Göttinger Sieben), die ihre Posten verloren, nachdem sie gegen die Aufhebung der Verfassung des Königtums Hannover durch den neuen König 1837 protestiert hatten. Gervinus lehrte danach in Heidelberg und wurde 1848 in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Die zweite Ausgabe seiner Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen, der diese Einleitung entnommen wurde, war den Gebrüdern Jacob und Wilhelm Grimm gewidmet, die durch ihre Sammlungen deutscher Märchen und durch ihre Zugehörigkeit zu den Göttinger Sieben berühmt wurden. Gervinus’ fünfbändiges Werk trug maßgeblich zur Etablierung des modernen deutschen Literaturkanons bei, dessen Kulminationspunkt die beiden gegensätzlichen Leitfiguren der Weimarer Klassik Goethe und Schiller waren und der die Vorzüge der modernen deutschen Literatur überhaupt in den Vordergrund rückte. Insgesamt macht Gervinus’ Sammlung deutlich, dass er die Neubewertung der deutschen Literatur mit dem politischen und kulturellen Projekt der deutschen Nationalstaatswerdung jener Zeit verknüpfte. Geistesgeschichtlich ist sein Werk deswegen von Bedeutung, weil es den Gegenstandsbereich der Geschichtswissenschaft über das Politische hinaus ins Kulturelle erweiterte und mit einem Literaturansatz aufwartete, der Autoren und Werke in die allgemeinen politischen und kulturellen Strömungen ihres jeweiligen geschichtlichen Zeitalters einbettete.

Georg Gottfried Gervinus, Auszüge aus der Einleitung zur Geschichte der National-Literatur der Deutschen (1840)

Quelle

Einleitung.

Ich habe es unternommen, die Geschichte der deutschen Dichtung von der Zeit ihres ersten Entstehens bis zu dem Punkte zu erzählen, wo sie nach mannichfaltigen Schicksalen sich dem allgemeinsten und reinsten Charakter der Poesie, und aller Kunst überhaupt, am meisten und bestimmtesten näherte. Ich mußte ihre Anfänge in Zeiten aufsuchen, aus welchen kaum vernehmbare Spuren ihres Daseins übrig geblieben sind; ich mußte sie durch andere Perioden verfolgen, wo sie bald unter dem Drucke des Mönchthums ein unwürdiges Joch duldete, bald unter der Zügellosigkeit des Ritterthums die gefährlichste Richtung einschlug, bald von dem heimischen Gewerbstand in Fesseln gelegt und oft von eindringenden Fremdlingen unterjocht ward, bis sie von allgemeinerer Aufklärung unterstützt sich in Mäßigung frei rang, ihr eigner Herr ward und schnell die zuletzt getragne Unterwerfung mit rächenden Eroberungen vergalt. Welche Schicksale sie litt, welche Hemmungen ihr entgegentraten, wie sie die Einen ertrug, die Anderen überwand, wie sie innerlich erstarkte, was sie äußerlich förderte, was ihr endlich eigenthümlichen Werth, Anerkennung und Herrschaft erwarb, soll ein einziges Gemälde anschaulich zu machen versuchen.

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Mir schien es aber, als ob die Geschichte der deutschen Nationalliteratur noch von Niemandem aus einem Gesichtspunkte behandelt worden sei, welcher der Sache selbst würdig, und der Gegenwart und jetzigen Lage der Nation angemessen wäre; mir schien es, als ob zu einer solchen würdigen Auffassung der Sache auch auf dem hergebrachten Wege nur schwer oder gar nicht zu gelangen sei. Aehnlich verhält es sich auch mit der politischen Geschichte von Deutschland. Man machte zwar die ungeheuersten Anstrengungen, man legte die gewaltigsten Werke an, um der Nation Ehrendenkmale zu setzen, allein je höher man baute, je gleichgültiger ward das erst in Masse versammelte Publicum und verlief sich allgemach. Die Ursache war keine andere, als daß man hier nur der Vorzeit Monumente setzte, und sie mit heimlichen oder ausgesprochenen Vorwürfen einer Zeit und einem Geschlechte vorhielt, das, wenn es auch nicht in der Gegenwart großen äußeren Ruhm gegen den seiner Vorfahren zu stellen hatte, doch in seinem inneren Leben ein ersetzendes Verdienst kannte, und eben darin vielleicht eine Saat künftiger Thaten keimen wußte, deren stilles Wachsthum es sich nicht verkümmern lassen wollte. Während unter diesen politischen Geschichtschreibern Charaktere fehlten, wie Möser, dem das ächte Gepräge deutscher Natur aufgedrückt war, mit der er die getrenntesten Eigenschaften seines vieldeutigen Volkes umfaßte und mit gleicher Hingebung und mit jener gesunden Gründlichkeit sich mit dem Aeltesten und dem Neuesten, mit den engsten Bedürfnissen seiner nächsten Umgebung, wie mit den großen Problemen eines Welthandels und einer riesenmäßigen Staatsverwaltung beschäftigte; während uns hier Köpfe abgingen, die wie Spittler, statt immer und einzig mit ärgerlichem Beifall auf unser Alterthum hinzuweisen, dem wir uns bei jeder neuen Beleuchtung aufs neue mehr und mehr entwachsen fühlten, das auf die Zukunft gerichtete Volk mit der Vergangenheit und an der Gegenwart belehrt und ermuthigt hätten; während also die für die Gegenwart fruchtbare Behandlung der vaterländischen Geschichte bei dem Mangel solcher Männer, die für das mitlebende Geschlecht zu wirken verstanden hätten, unterblieb, so war es in der Literargeschichte noch ärger. Hier setzten zwar Männer, die das Vaterland unter seinen größten Gelehrten nennen wird und welche die unvergeßlichsten Spuren ihrer Wirksamkeit hinterlassen haben und hinterlassen werden, die Arbeit ihres Lebens mit einer nicht genug zu erkennenden Unverdrossenheit und Ausdauer an eben jene Zeiträume, die auch in der politischen Geschichte so viele aufmerksame Beobachter, so viele fleißige Bearbeiter, so viele enthusiastische Bewunderer gefunden hatten; allein für die neuere Literatur der Deutschen geschah nichts. Die Geschichtschreiber der Nationalliteratur nahmen folgerecht fast allein Rücksicht auf die alte Zeit, fast keiner aber erschien, dessen Werk auch selbst in diesen Theilen nur ahnen ließe, wie treffliche Forscher hier vorgearbeitet hatten, geschweige daß man die dichterischen und sonstigen Werke jener Zeit aus unsern Literargeschichten hätte kennen lernen. Die neue deutsche Literatur aber, so reich, so blühend und mannichfaltig, nahm sich meist überall in diesen Geschichtswerken wie ein steriles Feld aus, auf dem nichts zu erbeuten sei; denn hier, wo aus den Quellen unmittelbar zu forschen und zu urtheilen war, wo noch kein vermittelnder Forscher die Urtheile an die Hand gab, hier wußte sich Niemand zu helfen. Und doch! Wie anders waren hier obendrein die Verhältnisse, als in der politischen Geschichte, die man in der neuesten Zeit ihrer Gehaltlosigkeit wegen eher verschmähen und liegen lassen durfte. Aber hier lag ein ganzes Jahrhundert hinter uns, in dem eine der merkwürdigsten Veränderungen in dem geistigen Reiche einer der geistreichsten Nationen der Erde vorgegangen war, eine Revolution, deren sichtbarste Frucht für uns die Rückkehr aus der häßlichsten Barbarei zu wahrem, gesundem Geschmack in Kunst und Leben war, und deren größte Früchte wer weiß wie viele Jahrhunderte erst in ihrem Verlaufe zeitigen und genießen werden. Hier also lag die größte Aufforderung in der Zeit, nicht zum zweiten Male, wie wir es mit der Reformation gethan, eine ewig denkwürdige Epoche unserer Geschichte, die wie jene den ungemessensten Einfluß auf die Geschichte der europäischen Menschheit ausüben wird und bereits auszuüben begann, vorübergehen zu lassen, ohne wenigstens den Versuch gemacht zu haben, eine einigermaßen würdige Erzählung der Begebenheiten jener Zeit der Nachwelt zu hinterlassen. Daß wir dies damals nach der Reformationszeit nicht gethan, daß wir es dieses Mal nach der Blüthe unserer Literatur noch nicht versucht haben, daß wir lediglich den alten Werken unseres Volkes in Staat, in Wissenschaft und Kunst unsre Forschung widmen, dies scheint mir nicht aus Kälte, nicht aus Undank, nicht aus vorherrschender Neigung der Nation zu ihrer Vorzeit, sondern aus der Natur unsrer Geschichte selbst erklärt werden zu müssen und leicht erklärt werden zu können. Die neuere Zeit und ihre Geschichte spielt auf einer so ungeheuren Bühne, daß Uebersicht und Bewältigung der Erscheinungen nur aus sehr weiter Ferne möglich wird. Die schöne Zeit ist nicht mehr, wo ein Thukydides, mit glücklichem Alter gesegnet, sich erst der noch dauernden Sitten jener ehrenfesten Zeit der Marathonkämpfer erfreuen, dann ein dreißigjähriges Schauspiel der größten Umwälzungen im äußeren und inneren Leben mit unverwandter Aufmerksamkeit verfolgen, und endlich noch eine lange Reihe von Jahren den Nachwirkungen dieser Umstürze zusehen und Alles in Ein großes Werk niederlegen konnte. Die ähnliche Periode mit ähnlichen Ursachen und Wirkungen, die in der athenischen Welt in Einem Jahrhundert vorüberging, dehnt sich, nicht eben in jedem neuen Staate, aber in dem neuen Europa, dessen Theile ohne das Ganze nicht zu verstehen sind, in – wir können noch nicht sagen wie viele Jahrhunderte aus, wir, die wir bereits über drei Jahrhunderte zusammenhängender Bewegungen hinter uns sehen. Die alte Zeit unsers Volkes haben wir seit der Auflösung des Reichs mehr als vollkommen vollendet; die Acten sind geschlossen; dies mußte, trotz der Entfremdung der Nation von ihrer älteren Geschichte, für die Historiker Mahnung und Aufforderung genug sein, ihren ganzen Fleiß jenen Zeiten zu widmen, mit denen jetzt voll ins Reine zu kommen ist, deren Nachwirkungen immer mehr verschwinden, deren Zustände uns immer deutlicher werden, je mehr wir uns daraus entfernen. Wer aber sollte im sechzehnten und siebenzehnten Jahrhundert eine Geschichte der Reformation entwerfen, da jede neue größere Begebenheit, die aus ihr in der äußern Welt folgte, zweifelhaft ließ, wohin alles Geschehene und Geschehende zuletzt führen würde, bis erst das vorige Jahrhundert darüber bestimmtere Auskunft zu geben begann. Und wer sollte in den Jahren 1789 und 1830 Hand an eine Literargeschichte der neueren Zeit legen? Kaum war nach jener außerordentlichen Gährung unter unseren künstlerischen Genien durch den übersetzten Homer eine Art Ruhe geschafft und es folgte mit den classischen Werken Göthes eine Niedersetzung des Geschmacks und der Sprache, so brachte uns die französische Revolution um sein frischestes Wirken, Schiller starb früh weg, und der grelle Absturz unserer schönen Literatur zu Entartung und Nichtigkeit war im ersten Augenblicke wohl noch viel abschreckender, als die neuesten, politischen Begebenheiten, die uns von der behaglichen Betrachtung unserer inneren Bildungsgeschichte immer mehr abziehen werden.

In den allerungünstigsten Verhältnissen also greife ich den schwierigen Stoff einer Geschichte auf, die theilweise fast eine Zeitgeschichte zu nennen ist; kann irgend etwas dem Leser Zutrauen einflößen, so wird es das sein, daß er sieht, ich kenne die Klippen, die ich vorsichtig vermeiden muß, wenn ich nicht kläglich scheitern will. Und vorsichtig hat mich gewiß die mißliche Aufgabe gemacht, aber abschrecken konnte sie mich nicht. Ich erkenne im ganzen Umfange, wie vergebens wir Neueren, sobald von productiver Thätigkeit die Rede ist, uns mit den Alten zu messen streben, denen Alles nahe lag, Alles lebendig war, Alles die bestimmteste Beziehung hatte, was wir mühselig aus der Ferne und aus Büchern herbeiholen müssen; die keine Beschränkung inneren Verkehrs und geistiger Thätigkeit vom Staate, ja nicht von ihren Göttern duldeten, während es bei uns noch geschehen konnte, daß Grenzlinien dem geistigen Verkehre gesteckt wurden, da die gegen den äußeren fielen, so daß es kein Wunder wäre, wenn jedem, dem es um ächtes Wissen und Bildung wahrer Ernst ist, beim Erwägen der großen Hindernisse, welche die neuen Zeiten aller totalen Durchbildung ohnehin nothwendig entgegenstellen, auch noch durch solche äußere Hemmungen alle Luft des Wirkens verkümmert und verbittert würde. Jener Meister der Geschichte durfte es wagen, der Nachwelt die Geschichte seiner Zeit zur Belehrung und Warnung in wiederkommenden, ähnlichen Lagen zu hinterlassen; die kürzeste historische Erfahrung hatte er hinter und um sich, aber ihre Lebendigkeit und Mannichfaltigkeit, die Offenheit und Unverstecktheit des alten öffentlichen und Privatlebens, die Gesundheit der Beobachtung und die Masse der Begebenheiten, die sich in kurzer Zeit und in kleinem Raume ungehemmt, schnell und rasch entfaltete, brachte ihn in Beurtheilung der Natur der Menschheit vielleicht weiter, als uns unsere weitschichtige Gelehrsamkeit und unser fleißiges Forschen nach den Schicksalen der Welt in mehr als zwei Jahrtausenden, die seitdem verflossen sind, gebracht hat. Wer heute nicht versteht den Geist fremder Zeiten und Nationen wie seiner eigenen zu fassen, sich jeder Beschränktheit in Religion und Volksthümlichkeit völlig zu entäußern, wer das Leben vergißt über dem Buch, und des Buches Geist über dem Wort, wer die Geschichte der Menschheit versäumt über der der einzelnen Völker und Zeiten, wer nicht das Ganze umfaßt und mit gleich großer Kühnheit wie Sicherheit das Treiben von Jahrhunderten mit Einem Blicke überschlagen kann, sondern am kleinen Maß seiner persönlichen oder nationellen, seiner gelehrten oder dogmatischen Beschränktheit die Welt ausmessen will, der darf nicht wagen nach der Palme in der Geschichtschreibung zu ringen. Ehedem war aber das ganz anders. In so ungeheuren Fernen, mit so außerordentlichem Aufgebot von Fleiß und Ausdauer brauchten die Alten ihre Weisheit nicht zu kaufen. Der Geschichtschreiber des peloponnesischen Kriegs durfte diesen Kampf zweier kleiner Staaten eine Welterschütterung nennen, denn sein Volk war damals die Welt; er durfte auf seine einfache Beobachtung bauen, und ihrer Gültigkeit eine stete Dauer verheißen, wie sein eignes Auge, während wir mit Vorurtheilen aufwachsen, mit widernatürlichen Bedürfnissen und Genüssen genährt werden und kein Ereigniß in der politischen Welt in seinen Ursachen offen vor uns daliegt. Bei uns muß das Lernen anfangen mit der Rückkehr aus einem verderbten und ungesunden Wesen zu der reinen Quelle der Menschlichkeit, von der der Grieche vertrauensvoll ausgehn durfte. Dann erst werden wir berechtigt sein, über unsere Zeit, ihre Geschichte und ihre Aussichten ein Urtheil zu fällen; und wenn bei solchen Forderungen alle Geschichtschreibung fast ganz bei uns aufhörte und nur Geschichtforschung übrig blieb, wenn die Wissenschaft sich ganz von dem Leben trennte, so war das freilich traurig, aber wohl natürlich und nicht befremdend. Und doch scheint es auf der anderen Seite wieder, als ob wir, die wir so reich sind an Erfahrungen jeder Art, uns eben dadurch ermuthigt fühlen müßten, auch diese Behandlung der Geschichte wieder aufzunehmen und in ihr lebendige Belehrung für uns und unsere Zustände zu suchen. Und unter uns besonders, die wir anzufangen scheinen, in eben dem Maße unsere Nation zu verachten, wie man im Ausland die lang hergebrachte Verachtung gegen uns ablegte, unter uns scheint es doch endlich einmal Zeit zu sein, der Nation ihren gegenwärtigen Werth begreiflich zu machen, ihr das verkümmerte Vertrauen auf sich selbst zu erfrischen, ihr neben dem Stolz auf ihre ältesten Zeiten Freudigkeit an dem jetzigen Augenblick und den gewissesten Muth auf die Zukunft einzuflößen. Dies aber kann nur erreicht werden, wenn man ihr ihre Geschichte bis auf die neuesten Zeiten vorführt, wenn sie aus ihr und der verglichenen Geschichte anderer Völker sich selbst klar gemacht wird. Doch nicht jede Seite der Geschichte eignet sich eben hierzu; zu irgend einem Ziele, zu einem Ruhepunkte müssen die Begebenheiten geführt haben, wenn sie lehrreich werden sollen. Keine politische Geschichte, welche Deutschlands Schicksale bis auf den heutigen Tag erzählt, kann je eine rechte Wirkung haben, denn die Geschichte muß, wie die Kunst, zu Ruhe führen, und wir müssen nie von einem geschichtlichen Kunstwerke trostlos weggehen dürfen. Den Geschichtskünstler aber möchte ich doch sehen, der uns von einer Schilderung des gegenwärtigen politischen Zustandes von Deutschland getröstet zu entlassen verstände. Die Geschichte der deutschen Dichtung dagegen schien mir ihrer inneren Beschaffenheit nach eben so wählbar, als ihrem Werthe und unserem Zeitbedürfniß nach wählenswerth. Sie ist, wenn anders aus der Geschichte Wahrheiten zu lernen sind, zu einem Ziele gekommen, von wo aus man mit Erfolg ein Ganzes überblicken, einen beruhigenden, ja eine erhebenden Eindruck empfangen und die größten Belehrungen ziehen kann. Die Wahl eines Geschichtstoffes mit den Forderungen und Bedürfnissen der Gegenwart in Einklang zu bringen scheint mir aber eine so bedeutende Pflicht des Geschichtschreibers, daß, hätte ich die politische, die religiöse, die gesammtliterarische oder irgend eine andere Seite der Geschichte unsers Volkes für passender und dringender zur Bearbeitung gehalten, ich diese andere ergriffen haben würde, weil auch kein Lieblingsfach den Historiker ausschließlich fesseln soll.

Das Ziel in der Geschichte unserer deutschen Dichtkunst, auf das ich hindeutete, liegt bei der Scheide der letzten Jahrhunderte; bis dorthin mußte also meine Erzählung vordringen. Dieses Ziel ist nicht ein künstlich von mir geschaffenes, ein zu meinen Zwecken zugerichtetes und untergeschobenes, sondern ein in der Natur der Sache begründetes; und mag meine Geschichtserzählung auch allerhand besonderen Zwecken nachgehn, so kann und wird sie, falls auch nur das kleinste Verdienst daran ist, dem Hauptzweck, der Wissenschaft der Literargeschichte, vor Allem dienen. Das höchste Ziel irgend einer vollendeten Reihe von Begebenheiten in der Weltgeschichte kann nun nur da sein, wo die Idee, die in ihnen zur Erscheinung zu kommen strebt, wirklich durchdringt, und wo eine wesentliche Förderung der Gesellschaft oder der menschlichen Cultur dadurch erreicht wird. Ist es die getrennte Parthie einer einzelnen Zeit, eines einzelnen Volkes, die wir zur Betrachtung wählen, so wird sie in sich wieder einen solchen obersten Vollendungspunkt bieten, und dieser wird mit dem Ganzen in irgend einer nicht zu verkennenden Verwandtschaft stehen. Was unsern Gegenstand angeht, so war die Poesie, wie alle Kunst, bei den Griechen allein von keiner Religion, von keinem Stande und keiner Wissenschaft eingeengt, nur da konnte sie ihre edelsten Kräfte im vollesten Maße entwickeln, nur da Sitten, Glauben und Wissen gestalten und für alles ächte Bestreben in der Kunst späterer Zeiten und Völker gesetzgebend werden. Dieser Höhepunkt war erreicht, als die homerischen Gedichte ihre letzte Gestaltung erhalten hatten und die früheren Tragiker in Athen die Reinheit der alten Kunst noch bewahrten. Als die Pythia den Euripides für weiser als den Sophokles erklärte, war die griechische Dichtung auf der gefährlichsten Spitze; von da an gewann der Gedanke an den Werken der Einbildungskraft einen stets überwiegenden Einfluß, den die Einwirkung der philosophischen Schulen und die Verpflanzung der schönen Literatur unter die praktischen und materiellen Römer nährte und steigerte. Dieß geschah, als das Christenthum gepredigt ward, das, wie schon die griechischen Philosophen gethan hatten, den Menschen eine neue innere Welt des Gemüthes erschloß. Nun fiel das ganze Mittelalter in den schneidendsten Kontrast mit der römischen Welt, und es erforderte eine so mäßige und weise Nation, wie die deutsche, um von der unmäßigsten Vergeudung aller Gefühle, wie von der einseitigsten Pflege des Verstandes, von den unseligsten Verirrungen in Religion, in Kunst, in Wissenschaft und Staat zu der alten Besonnenheit, Gesundheit und ruhigen Thätigkeit zurückzuführen. Wie dies die neuern Nationen gethan, was Italien darin den Deutschen vorgearbeitet, warum diesen es vorbehalten blieb, zum Zwecke zu gelangen, läßt sich in jeder Weise vortrefflich darthun: ich versuche es, von diesem Gesichtspunkt aus die deutsche Dichtung in ihrer Geschichte zu entwickeln. Es ist ein einziger großer Gang zu der Quelle der wahrhaften Dichtkunst zurück, auf dem alle Nationen von Europa die Deutschen begleiten, oft überholen, am Ende aber Eine nach der Andern zurückbleiben. Wir haben nur Trümmer einer eigentlich streng heimathlichen und nationalen Dichtung; seitdem die Germanen in der Völkerwanderung die lateinische Welt umspannten und ihre Cultur kennen lernten, stellten sich erst die mönchischen Dichter den christlichen lateinischen Poeten zur Seite oder gegenüber; sobald der historische Volksgesang in Schrift gebracht ward, nahm er die Form vom lateinischen Epos, und zu größern Versuchen kam man scheint’s erst durch die Stoffe aus der alten Welt selbst, wie sie griechische und britische Mönche lateinisch zubereitet hatten. Italiener, Spanier, Franzosen und Engländer blieben in verschiedener Weise bei der griechisch-römischen oder bei der alexandrinischen Bildung haften; die Deutschen allein setzten den steileren, aber belohnenderen Weg fort und gelangten zur schönsten Blüthezeit griechischer Weisheit und Kunst, wo dann im vorigen und in diesem Jahrhundert jeder große Mann des hellenischen Alterthums seinen Uebersetzer, seinen Schüler oder sein Ebenbild bei uns erhielt. Göthe und Schiller führten zu einem Kunstideal zurück, das seit den Griechen Niemand mehr als geahnt hatte; je weiter sie darin gediehen, desto unverhohlener ward bei zwar steigender Selbständigkeit ihre Bewunderung für die alte Kunst, bei steigendem Selbstgefühl in ihrer Umgebung ihre ehrfürchtige Bescheidenheit den Alten gegenüber; sie leiteten mit Bewußtsein auf die Vereinigung des modernen Reichthums an Gefühlen und Gedanken mit der antiken Form, und dies eben war der Punkt, nach dessen Erreichung bei den Griechen, wie ich andeutete, die Kunst ausgeartet war. So war dieselbe Nation, die einst die Ideen, welche Sokrates und Christus in das neue Geschlecht zur Bildung der Herzen gestreut hatten, und die Keime, welche Aristoteles für alle Wissenschaft gelegt, mit den alten Generationen zugleich vertilgen zu wollen schien, diese selbe Nation war bestimmt, zuerst die Lehre des Messias zu reinigen, und dann den Ungeschmack in Kunst und Wissenschaft zu brechen, so daß es nun laut von unsern Nachbarn verkündet wird, daß wahre Bildung der Seelen und Geister nur bei uns gesucht, wie alle Bekanntschaft mit den Alten nur durch uns vermittelt werden kann; daß sichtbar unsere Literatur nun so über Europa zu herrschen beginnt, wie einst die italienische und französische vor ihr über Europa geherrscht haben.

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Quelle: Georg Gottfried Gervinus, Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. Erster Theil. Von den ersten Spuren der deutschen Dichtung bis gegen das Ende des 13. Jahrhunderts. Zweite umgearbeitete Ausgabe. Leipzig, 1840, S. 3–12. Online verfügbar unter: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10738246-1