Kurzbeschreibung

Mit dem Zusammenschluss des Lassalleschen Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) mit der rivalisierenden Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (den „Eisenachern“) 1875 auf dem Gothaer Parteitag entstand die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschland (SAP). Wie der folgende Brief an August Bebel (1840–1913) verdeutlicht, waren Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) über die Kompromisse und verquere Diktion entsetzt, die der ADAV erzwungen hatte. Sie bezeichneten das Unternehmen als kurzlebiges „Erziehungsexperiment“. Der Zusammenschluss machte die deutsche Sozialdemokratie gleichwohl widerstandsfähiger gegen das 1878 verabschiedete repressive Sozialistengesetz.

Friedrich Engels über das Gothaer Programm der Sozialisten (12. Oktober 1875)

  • Friedrich Engels

Quelle

London, den 12. Oktober 1875

Lieber Bebel! Ihr Brief bestätigt ganz unsere Ansicht, daß die Einigung unsererseits überstürzt ist und den Keim künftigen Zwiespalts in sich trägt. Wenn es gelingt, diesen Zwiespalt bis über die nächsten Reichstagswahlen hinauszuschieben, wäre es schon gut []. Das Programm, wie es jetzt ist, besteht aus drei Teilen:

1. den Lassalleschen Sätzen und Stichworten, die aufgenommen zu haben eine Schmach unserer Partei bleibt. Wenn zwei Fraktionen sich über ein gemeinsames Programm einigen, so setzen sie das hinein, worüber sie einig, und berühren nicht das, worüber sie uneinig sind. Die Lassallesche Staatshilfe stand zwar im Eisenacher Programm, aber als eine aus vielen Übergangsmaßregeln, und nach allem, was ich gehört habe, war sie, ohne die Einigung, ziemlich sicher, im diesjährigen Kongreß auf Brackes Antrag an die Luft gesetzt zu werden. Jetzt figuriert sie als das eine unfehlbare und ausschließliche Heilmittel für alle sozialen Gebrechen. Das „eherne Lohngesetz“ und andere Lassalleschen Phrasen sich aufoktroyieren zu lassen, war für unsere Partei eine kolossale moralische Niederlage. Sie bekehrte sich zum Lassalleschen Glaubensbekenntnis. Das ist nun einmal nicht wegzuleugnen. Dieser Teil des Programms ist das kaudinische Joch, unter dem unsere Partei zum größeren Ruhm des heiligen Lassalle durchgekrochen ist;

2. aus demokratischen Forderungen, die ganz im Sinn und im Stil der Volkspartei aufgesetzt sind;

3. aus Forderungen an den „heutigen Staat“ (wobei man nicht weiß, an wen denn die übrigen „Forderungen“ gestellt werden), die sehr konfus und unlogisch sind;

4. aus allgemeinen Sätzen, meist dem Kommunistischen Manifeste und den Statuten der Internationale entlehnt, die aber so umredigiert sind, daß sie entweder total Falsches enthalten oder aber reinen Blödsinn, wie Marx das in dem Ihnen bekannten Aufsatz im einzelnen nachgewiesen.

Das Ganze ist im höchsten Grade unordentlich, konfus, unzusammenhängend, unlogisch und blamabel. Wenn unter der Bourgeoispresse ein einziger kritischer Kopf wäre, er hätte dies Programm Satz für Satz durchgenommen, jeden Satz auf seinen wirklichen Inhalt hin untersucht, den Unsinn recht handgreiflich auseinandergelegt, die Widersprüche und ökonomischen Schnitzer (z. B. daß die Arbeitsmittel heute „Monopol der Kapitalistenklasse“ sind, als ob es keine Grundbesitzer gäbe, das Gerede von „Befreiung der Arbeit“ statt der Arbeiterklasse, die Arbeit selbst ist heutzutage ja gerade viel zu frei!) entwickelt und unsere ganze Partei greulich lächerlich gemacht. Statt dessen haben die Esel von Bourgeoisblättern dies Programm ganz ernsthaft genommen, hineingelesen, was nicht darin steht und es kommunistisch gedeutet. Die Arbeiter scheinen dasselbe zu tun. Es ist dieser Umstand allein, der es Marx und mir möglich gemacht hat, uns nicht öffentlich von einem solchen Programm loszusagen. Solange unsere Gegner und ebenso die Arbeiter diesem Programm unsere Absichten unterschieben, ist es uns erlaubt, darüber zu schweigen. [] Daß die ganze Sache ein Erziehungsexperiment ist, das auch unter diesen Umständen einen sehr günstigen Erfolg verspricht, darin haben Sie ganz recht. Die Einigung als solche ist ein großer Erfolg, wenn sie sich zwei Jahre hält. Aber sie war unzweifelhaft weit billiger zu haben.

Quelle: Elementarbücher des Kommunismus, Bd. 12., 2 Aufl. 1930, S. 51ff.; abgedruckt in Felix Salomon, Die Deutschen Parteiprogramme, Bd. 2, Im Deutschen Kaiserreich 1871–1918, Hrsg. Wilhelm Mommsen und Günther Franz, 4. Aufl. Leipzig und Berlin: B. G. Teubner, 1932, S. 42–43.