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Meine liebe Laura,
Seit vergangenem Donnerstagabend, als eine Flut von Telegrammen mit den Siegesmeldungen hier eintraf, befinden wir uns in einem ständigen Siegestaumel, der heute morgen, vorläufig wenigstens, den Höhepunkt durch die Nachricht erreichte, daß wir 1 341 500 Stimmen erhalten haben, 587 000 mehr als vor 3 Jahren. Und dennoch – am nächsten Sonnabend kann die Orgie erneut beginnen, da das Staunen ganz Deutschlands über unseren Erfolg so gewaltig ist, der Haß gegen die Kartellschwindler so stark und die Zeit für Überlegung so kurz, daß neue Erfolge, ebenso unerwartet wie jene vom vergangenen Donnerstag, durchaus möglich sind, obwohl ich für meinen Teil nicht viele erwarte.
Der 20. Februar 1890 ist der Tag des Beginns der deutschen Revolution. Es mag noch ein paar Jahre dauern, bis wir eine entscheidende Krise erleben, und es ist nicht unmöglich, daß wir eine vorübergehende und ernsthafte Niederlage erleiden. Aber die alte Stabilität ist für immer dahin. Diese Stabilität beruhte auf dem Aberglauben, daß das Triumvirat Bismarck, Moltke, Wilhelm unbesiegbar und allweise sei. Jetzt ist Wilhelm gegangen und durch einen dünkelhaften Jardelieutenant ersetzt worden, Moltke ist pensioniert, und Bismarck sitzt sehr wacklig in seinem Sattel. Unmittelbar am Vorabend dieser Wahl hatten er und der junge Wilhelm eine Auseinandersetzung wegen dessen Gelüsten, den Freund der Arbeiter zu spielen. Bismarck mußte nachgeben und sorgte dafür, es die Philister wissen zu lassen. Offenbar wünschte er selbst „schlechte“ Wahlen, um seinem Herrn eine Lektion zu erteilen. Nun, er hat mehr erhalten, als er erwartet hatte, und die zwei haben sich bis auf weiteres wieder einmal geeinigt. Doch das kann nicht von Dauer sein. Der „zweite Alte Fritz, nur größer“ kann und wird es nicht ertragen, vom Kanzler an die Hand genommen zu werden. „In Preußen muß der König regieren“, das wird von ihm au serieux genommen, und je kritischer die Zeit, desto mehr werden die Ansichten dieser zwei Rivalen auseinandergehen. Eines ist für den Philister gewiß: der Mann, an den er glauben kann, verliert seine Macht, und der Mann, der die Macht hat, an den kann er nicht glauben. Das Vertrauen ist hin, selbst innerhalb der Bourgeoisie.
Betrachte nun die Lage der Parteien. Das Kartell hat eine Million Stimmen verloren, es hatte 2½ Millionen für und 4½ gegen sich. Diese Hauptstütze der parlamentarischen Macht Bismarcks liegt zerschmettert am Boden, and all the King’s horses and all the King’s men cannot put Humpty Dumpty together again. Um eine Regierungsmajorität zu bilden, gibt es nur zwei Parteien: die Katholiken (das Zentrum) und die Freisinnigen. Letztere, obgleich sie schon den brennenden Wunsch hegen, ein neues Kartell zu bilden, können dies – zumindest bis jetzt – nicht mit den Konservativen, sondern nur mit den Nationalliberalen, und das ergibt keine Mehrheit. Das Zentrum? Bismarck rechnet mit ihm, und die katholischen Junker dieser Partei brennen vor Begierde, sich mit den alten preußischen Junkern zu verbinden. Aber die einzige raison d’être des Zentrums ist: Preußenhaß, und nun versuch Du mal, daraus eine preußische Regierungspartei zu machen! Sobald sich das Zentrum nur im entferntesten dazu entwickelt, wird die katholische Bauernschaft – seine Hauptstärke – ausbrechen, während wir die 100000 Stimmen, die das Zentrum in den katholischen Städten, z. B. München, Köln, Mainz usw. weniger hatte (gegenüber 1887), übernommen haben.
Somit ist dieser Reichstag nicht arbeitsfähig. Aber Bismarcks letzte Zuflucht, eine Auflösung, wird ihm kaum helfen. Nachdem das Vertrauen in die Stabilität der Ordnung hin ist, ist jetzt die Unzufriedenheit mit den drückenden Steuern und der zunehmenden Teuerung des Lebensunterhalts der entscheidende Faktor. Das ist die direkte Konsequenz der Finanz- und ökonomischen Politik der letzten 11 Jahre, und damit hat Bis[marck] das Volk geradewegs in unsere Arme getrieben. Und Michel erhebt sich gegen diese Politik. So wird der nächste Reichstag wahrscheinlich noch schlimmer aussehen.
Es sei denn, daß Bismarck und sein Herr, bevor wir zu stark sind – in diesem Punkt werden sie sich immer einig sein – Aufruhr und Kämpfe provozieren und uns niederschlagen und dann die Verfassung ändern. Dem treiben wir offensichtlich entgegen, und das ist die Hauptgefahr, die vermieden werden muß. Unsere Leute, wie Du gesehen hast, halten ausgezeichnete, wundervolle Disziplin; doch wir könnten zum Kampf gezwungen werden, ehe wir ganz darauf vorbereitet sind – und darin liegt die Gefahr. Aber sollte es dazu kommen, dann wird es andere Faktoren zu unseren Gunsten geben.
Nims Essenglocke – darum auf Wiedersehen für heute – […]
En attendant, vive la révolution allemande!
Immer Dein F. E.
Quelle: Friedrich Engels an Laura Lafargue, in Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Band 37. Berlin, 1967, S. 359–61.