Quelle
DRITTES BUCH
108
Neue Kämpfe. –
Nachdem Buddha tot war, zeigte man noch jahrhundertelang seinen
Schatten in einer Höhle – einen ungeheuren schauerlichen Schatten.
Gott ist tot: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es
vielleicht noch jahrtausendelang Höhlen geben, in denen man seinen
Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten
besiegen!
109
Hüten wir uns! –
Hüten wir uns, zu denken, daß die Welt ein lebendiges Wesen sei.
Wohin sollte sie sich ausdehnen? Wovon sollte sie sich nähren? Wie
könnte sie wachsen und sich vermehren? Wir wissen ja ungefähr, was
das Organische ist: und wir sollten das unsäglich Abgeleitete,
Späte, Seltene, Zufällige, das wir nur auf der Kruste der Erde
wahrnehmen, zum Wesentlichen, Allgemeinen, Ewigen umdeuten, wie es
jene tun, die das All einen Organismus nennen? Davor ekelt mir.
Hüten wir uns schon davor, zu glauben, daß das All eine Maschine
sei; es ist gewiß nicht auf ein Ziel konstruiert, wir tun ihm mit
dem Wort „Maschine“ eine viel zu hohe Ehre an. Hüten wir uns,
etwas so Formvolles, wie die zyklischen Bewegungen unserer
Nachbarsterne überhaupt und überall vorauszusetzen; schon ein
Blick in die Milchstraße läßt Zweifel auftauchen, ob es dort nicht
viel rohere und widersprechendere Bewegungen gibt, ebenfalls
Sterne mit ewigen geradlinigen Fallbahnen und dergleichen. Die
astrale Ordnung, in der wir leben, ist eine Ausnahme; diese
Ordnung und die ziemliche Dauer, welche durch sie bedingt ist, hat
wieder die Ausnahme der Ausnahmen ermöglicht: die Bildung des
Organischen. Der Gesamtcharakter der Welt ist dagegen in alle
Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Notwendigkeit,
sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit,
Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten
heißen. Von unserer Vernunft aus geurteilt, sind die verunglückten
Würfe weitaus die Regel, die Ausnahmen sind nicht das geheime
Ziel, und das ganze Spielwerk wiederholt ewig seine Weise, die nie
eine Melodie heißen darf, – und zuletzt ist selbst das Wort
„verunglückter Wurf“ schon eine Vermenschlichung, die einen Tadel
in sich schließt. Aber wie dürften wir das All tadeln oder loben!
Hüten wir uns, ihm Herzlosigkeit und Unvernunft oder deren
Gegensätze nachzusagen: es ist weder vollkommen, noch schön, noch
edel, und will nichts von alledem werden, es strebt durchaus nicht
danach, den Menschen nachzuahmen! Es wird durchaus durch keines
unserer ästhetischen und moralischen Urteile getroffen! Es hat
auch keinen Selbsterhaltungstrieb und überhaupt keine Triebe; es
kennt auch keine Gesetze. Hüten wir uns, zu sagen, daß es Gesetze
in der Natur gebe. Es gibt nur Notwendigkeiten: da ist keiner, der
befiehlt, keiner, der gehorcht, keiner, der übertritt. Wenn ihr
wißt, daß es keine Zwecke gibt, so wißt ihr auch, daß es keinen
Zufall gibt: denn nur neben einer Welt von Zwecken hat das Wort
„Zufall“ einen Sinn. Hüten wir uns, zu sagen, daß Tod dem Leben
entgegengesetzt sei. Das Lebende ist nur eine Art des Toten, und
eine sehr seltene Art. – Hüten wir uns, zu denken, die Welt
schaffe ewig Neues. Es gibt keine ewig dauerhaften Substanzen; die
Materie ist ein ebensolcher Irrtum wie der Gott der Eleaten. Aber
wann werden wir am Ende mit unserer Vorsicht und Obhut sein! Wann
werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln? Wann
werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben! Wann werden wir
anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu
erlösten Natur zu
vernatürlichen!
[…]
114
Umfang des
Moralischen. – Wir konstruieren ein neues Bild, das wir
sehen, sofort mit Hilfe aller alten Erfahrungen, die wir gemacht
haben, je nach dem Grade
unserer Redlichkeit und Gerechtigkeit. Es gibt gar keine andern
als moralische Erlebnisse, selbst nicht im Bereiche der
Sinneswahrnehmung.
115
Die vier Irrtümer.
– Der Mensch ist durch seine Irrtümer erzogen worden: er sah sich
erstens immer nur unvollständig, zweitens legte er sich erdichtete
Eigenschaften bei, drittens fühlte er sich in einer falschen
Rangordnung zu Tier und Natur, viertens erfand er immer neue
Gütertafeln und nahm sie eine Zeitlang als ewig und unbedingt, so
daß bald dieser bald jener menschliche Trieb und Zustand an der
ersten Stelle stand und infolge dieser Schätzung veredelt wurde.
Rechnet man die Wirkung dieser vier Irrtümer weg, so hat man auch
Humanität, Menschlichkeit und „Menschenwürde“ hinweggerechnet.
[…]
117
Herden-Gewissensbiß.
– In den längsten und fernsten Zeiten der Menschheit gab es einen
ganz andern Gewissensbiß als heutzutage. Heute fühlt man sich nur
verantwortlich für das, was man will und tut, und hat in sich
selber seinen Stolz: alle unsere Rechtslehrer gehen von diesem
Selbst- und Lustgefühle des einzelnen aus, wie als ob hier von
jeher die Quelle des Rechts entsprungen sei. Aber die längste Zeit
der Menschheit hindurch gab es nichts Fürchterlicheres, als sich
einzeln zu fühlen. Allein sein, einzeln empfinden, weder gehorchen
noch herrschen, ein Individuum bedeuten – das war damals keine
Lust, sondern eine Strafe; man wurde verurteilt „zum Individuum.“
Gedankenfreiheit galt als das Unbehangen selber. Während wir
Gesetz und Einordnung als Zwang und Einbuße empfinden, empfand man
ehedem den Egoismus als eine peinliche Sache, als eine eigentliche
Not. Selbst sein, sich selber nach eigenem Maß und Gewicht
schätzen – das ging damals wider den Geschmack. Die Neigung dazu
würde als Wahnsinn empfunden worden sein: denn mit dem Alleinsein
war jedes Elend und jede Furcht verknüpft. Damals hatte der „freie
Wille“ das böse Gewissen in seiner nächsten Nachbarschaft: und je
unfreier man handelte, je mehr der Herden-Instinkt und nicht der
persönliche Sinn aus der Handlung sprach, um so moralischer
schätzte man sich. Alles, was der Herde Schaden tat, sei es, daß
der einzelne es gewollt oder nicht gewollt hatte, machte damals
dem einzelnen Gewissensbisse – und seinem Nachbar noch dazu, ja
der ganzen Herde! – Darin haben wir am allermeisten umgelernt.
[…]
119
Kein Altruismus! –
Ich sehe an vielen Menschen eine überschüssige Kraft und Lust,
Funktion sein zu wollen; sie drängen sich dorthin und haben die
feinste Witterung für alle jene Stellen, wo gerade
sie Funktion sein können. Dahin
gehören jene Frauen, die sich in die Funktion eines Mannes
verwandeln, welche an ihm gerade schwach entwickelt ist, und
dergestalt zu seinem Geldbeutel oder zu seiner Politik oder zu
seiner Geselligkeit werden. Solche Wesen erhalten sich selber am
besten, wenn sie sich in einen fremden Organismus einfügen;
gelingt es ihnen nicht, so werden sie ärgerlich, gereizt und
fressen sich selber auf.
[…]
121
Das Leben kein
Argument. – Wir haben uns eine Welt zurechtgemacht, in der
wir leben können – mit der Annahme von Körpern, Linien, Flächen,
Ursachen und Wirkungen, Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt:
ohne diese Glaubensartikel hielte es jetzt keiner aus zu leben!
Aber damit sind sie noch nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein
Argument; unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrtum
sein.
122
Die moralische Skepsis
im Christentum. – Auch das Christentum hat einen großen
Beitrag zur Aufklärung gegeben: es lehrte die moralische Skepsis –
auf eine sehr eindringliche und wirksame Weise: anklagend,
verbitternd, aber mit unermüdlicher Geduld und Feinheit; es
vernichtete in jedem einzelnen Menschen den Glauben an seine
„Tugenden“: es ließ für immer jene großen Tugendhaften von der
Erde verschwinden, an denen das Altertum nicht arm war – jene
populären Menschen, die im Glauben an ihre Vollendung mit der
Würde eines Stiergefechts-Helden umherzogen. Wenn wir jetzt,
erzogen in dieser christlichen Schule der Skepsis, die moralischen
Bücher der Alten, zum Beispiel Senecas und Epiktets lesen, so
fühlen wir eine kurzweilige Überlegenheit und sind voll geheimer
Einblicke und Überblicke, es ist uns dabei zumute, als ob ein Kind
vor einem alten Manne oder eine junge schöne Begeisterte vor La
Rochefoucauld redete: wir kennen das, was Tugend ist, besser!
Zuletzt haben wir aber diese selbe Skepsis auch auf alle
religiösen Zustände und
Vorgänge, wie Sünde, Reue, Gnade, Heiligung, angewendet und den
Wurm so gut graben lassen, daß wir nun auch beim Lesen aller
christlichen Bücher dasselbe Gefühl der feinen Überlegenheit und
Einsicht haben – wir kennen auch die religiösen Gefühle besser!
Und es ist Zeit, sie gut zu kennen und gut zu beschreiben, denn
auch die Frommen des alten Glaubens sterben aus – retten wir ihr
Abbild und ihren Typus wenigstens für die Erkenntnis!
123
Die Erkenntnis mehr als
ein Mittel. – Auch ohne
diese neue Leidenschaft – ich meine die Leidenschaft der
Erkenntnis – würde die Wissenschaft gefördert werden: die
Wissenschaft ist ohne sie bisher gewachsen und groß geworden. Der
gute Glaube an die Wissenschaft, das ihr günstige Vorurteil, von
dem unsere Staaten jetzt beherrscht sind (ehedem war es sogar die
Kirche), ruht im Grunde darauf, daß jener unbedingte Hang und
Drang sich so selten in ihr offenbart hat, und daß Wissenschaft
eben nicht als Leidenschaft,
sondern als Zustand und „Ethos“ gilt. Ja es genügt oft schon
amour-plaisir der Erkenntnis
(Neugierde), es genügt
amour-vanité, Gewöhnung an sie
mit der Hinterabsicht auf Ehre und Brot, es genügt selbst für
viele, daß sie mit einem Überschuß von Muße nichts anzufangen
wissen als lesen, sammeln, ordnen, beobachten, weitererzählen; ihr
„wissenschaftlicher Trieb“ ist ihre Langeweile. Der Papst Leo der
Zehnte hat einmal (im Breve an Beroaldus) das Lob der Wissenschaft
gesungen: er bezeichnet sie als den schönsten Schmuck und den
größten Stolz unseres Lebens, als eine edle Beschäftigung in Glück
und Unglück; „ohne sie“, sagt er endlich, „wäre alles menschliche
Unternehmen ohne festen Halt – auch mit ihr ist es ja noch
veränderlich und unsicher genug!“ Aber dieser leidlich skeptische
Papst verschweigt, wie alle andern kirchlichen Lobredner der
Wissenschaft, sein letztes Urteil über sie. Mag man nun aus seinen
Worten heraushören, was für einen solchen Freund der Kunst
merkwürdig genug ist, daß er die Wissenschaft über die Kunst
stellt; zuletzt ist es doch nur eine Artigkeit, wenn er hier nicht
von dem redet, was auch er hoch über alle Wissenschaft stellt: von
der „geoffenbarten Wahrheit“ und von dem „ewigen Heil der Seele“ –
was sind ihm dagegen Schmuck, Stolz, Unterhaltung, Sicherung des
Lebens! „Die Wissenschaft ist etwas von zweitem Range, nichts
Letztes, Unbedingtes, kein Gegenstand der Passion“ – dies Urteil
blieb in der Seele Leos zurück: das eigentlich christliche Urteil
über die Wissenschaft! – Im Altertum war ihre Würde und
Anerkennung dadurch verringert, daß selbst unter ihren eifrigsten
Jüngern das Streben nach der
Tugend voranstand, und daß man
der Erkenntnis schon ihr höchstes Lob gegeben zu haben glaubte,
wenn man sie als das beste Mittel der Tugend feierte. Es ist etwas
Neues in der Geschichte, daß die Erkenntnis mehr sein will als ein
Mittel.
124
Im Horizont des
Unendlichen. – Wir haben das Land verlassen und sind zu
Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns – mehr noch, wir
haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! Sieh dich
vor! Neben dir liegt der Ozean, es ist wahr, er brüllt nicht
immer, und mitunter liegt er da wie Seide und Gold und Träumerei
der Güte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, daß er
unendlich ist und daß es nichts Furchtbareres gibt als
Unendlichkeit. Oh des armen Vogels, der sich frei gefühlt hat und
nun an die Wände dieses Käfigs stößt! Wehe, wenn das Land-Heimweh
dich befällt, als ob dort mehr
Freiheit gewesen wäre – und es
gibt kein „Land“ mehr!
125
Der tolle Mensch. –
Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen
Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und
unaufhörlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!“ – Da dort
gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott
glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn
verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein
Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er
sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so
schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang
mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Wohin
ist Gott?“ rief er, „ich will es euch sagen!
Wir haben ihn getötet – ihr und
ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht?
Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm,
um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese
Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin
bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht
fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen
Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie
durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an?
Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und
mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden?
Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott
begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? –
auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben
ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das
Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter
unsern Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit
welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern,
welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die
Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu
Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine
größere Tat – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um
dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte
bisher war!“ – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine
Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn.
Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke
sprang und erlosch. „Ich komme zu früh“, sagte er dann, „ich bin
noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs
und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen
gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne
braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um
gesehn und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner
als die fernsten Gestirne – und doch
haben sie dieselbe getan!“ – Man erzählt noch, daß der tolle
Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei
und darin sein Requiem aeternam
deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe
er immer nur dies entgegnet: „Was sind denn diese Kirchen noch,
wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“
126
Mystische
Erklärungen. – Die mystischen Erklärungen gelten für tief;
die Wahrheit ist, daß sie noch nicht einmal oberflächlich
sind.
Quelle: Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (1882), in Nietzsche, Werke, herausgegeben von Karl Schlechta, 6. Ausgabe, 3 Bde. München: Carl Hanser Verlag, 1969, Bd. 2; abgedruckt in Die fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza“), herausgegeben von Renate Reschke. Leipzig: Reclam-Verlag, 1990, Drittes Buch 108–126, S. 117–31.