Quelle
A. Die zehn Sittengebote der freien Religionsgemeinschaft (1876)
1. Liebe Gott, d. h. suche Gottes Wesen und Walten in der Natur und in der Menschheit immer mehr zu verstehen. Bemühe Dich, Dein geistiges Wesen von den göttlichen Ideen der ewigen Vernunft, Liebe, Gerechtigkeit und Schönheit zu durchleuchten und strebe, Gottes Gesetzen in Natur- und Geistesreich gemäß zu leben.
2. Achte und ehre die Natur als Gottes ewiges Reich und Offenbarung, d. h. lerne die Natur immer mehr kennen in ihren Gedanken und Zwecken wie in ihrer Entwicklung und benutze ihre Kräfte und Gaben für Deine und Deiner Mitmenschen Beglückung und Vervollkommnung,
denn nur so wird Gottes Reich auch Dein Reich.
3. Liebe und achte alle Deine Mitmenschen, auch die Dir feindlich gesinnten, wegen ihrer Menschenwürde und Bestimmung, d. h. halte ihre Freiheit, ihre Ehre, ihre Rechte, ihr Eigentum und ihr Leben heilig. Stehe ihnen bei in geistigen und materiellen Nöten und schädige
und missbrauche sie nicht für selbstsüchtige Zwecke.
4. Achte Deine Menschenwürde hoch und heilig, d. h. lerne Dich selbst, Deinen Geist und Körper, deren Gesetze und Harmonie immer mehr kennen. Bilde Dich und lebe dieser Erkenntnis gemäß und erniedrige Dich nie durch Lüge und Laster, nie durch schlechte Gesinnung und böse Handlungen.
5. Schließe die Ehe nur bei gegenseitiger Liebe und Achtung, geleitet durch Vernunft und für einen höheren Lebens- und Berufszweck. Betätige und erhöhe Liebe und Achtung in der Ehe und halte sie heilig durch Treue.
6. Eltern liebt und achtet Eure Kinder als Euch anvertraut vom Schöpfer für hohe Daseinszwecke. Erzieht sie an Geist und Körper für ihren Beruf, seid ihnen Vorbild und Ratgeber, auf dass sie selbst glücklich und Euch, dem Vaterland und der Menschheit zur Freude und Ehre leben mögen, und macht sie nicht und lasst sie nicht machen zu Werkzeugen der Selbstsucht und Herrschsucht. Kinder achtet und ehrt Vater und Mutter und gehorcht ihnen als von Gott bestimmten Schützern und Lehrern mit reinem Herzen und seid ihnen dankbar in Gesinnung, in Wort und Tat.
7. Erzieht und bildet, Ihr Lehrer, die Kindheit und Jugend im Geiste der Liebe und Achtung als der Familie, dem Vaterland, der Menschheit und Gottheit gehörig, gemäß den göttlichen Gesetzen im Wesen der Menschen. Seid ihnen Vorbild und betrachtet sie als bestimmt, die Träger und Vertreter einer höheren Stufe der Bildung, Kultur und Freiheit zu sein.
8. Arbeite und erfülle Deine Berufspflichten mit Liebe und aus freier Bestimmung, weil rechtes Schaffen und Arbeiten Dich beglückt, veredelt, geistig und körperlich gesund erhält, Dir Selbständigkeit, Achtung und Mittel verschafft und Dich zum ewigen Schöpfer emporhebt.
9. Liebe und achte Dein Volk und Vaterland, d. h. erfülle Deine Pflichten für den Staat, indem Du dessen materielle und geistige Entwicklung, gemäß der sittlichen Kulturaufgabe Deiner Nation, förderst und wenn nötig Gut und Leben einsetzt für die Selbständigkeit, die Rechte und Freiheit und die wahre Ehre Deiner Nation. Achte aber auch die Selbständigkeit, die Rechte und Ehre anderer Völker und wirke dafür, dass die Gesetze der Humanität siegreich werden über Unterdrückung und Krieg.
10. Achte die Religion als der Seele heiligste Kraft und als höchstes geistiges Kleinod, wodurch der ewige Schöpfergeist Dich und alle Glieder der großen Menschheitsfamilie zu seinem Ebenbild, zu Brüdern und Erben seines Reiches gemacht [hat].
Durchleuchte diese Kraft fort und fort mit dem Licht der fortschreitenden Vernunft und Wissenschaft, mag sie als heilige Ahnung des Göttlichen, als Sehnsucht nach ewiger Wahrheit und ewigem Leben oder als Liebe für Gerechtigkeit, Glück und Tugend aus der Tiefe Deines geistigen Wesens aufsteigen. Lass die göttlichen Ideen der Religion Dich leiten und vertraue ihnen, auch wenn oft rätselhaft Deine Geschicke und dunkel Deine Lebenswege [Dir erscheinen mögen].
B. Was will die Freireligiöse Gemeinde? (1877)
1. Wir nennen unsere Gemeinde zur Unterscheidung von anderen Religionsgemeinschaften eine freie. Unser leitender Grundsatz ist: „Freie Selbstbestimmung gemäß der fortschreitenden Vernunft und Wissenschaft auf allen Gebieten des Lebens.“
2. Diese Freiheit behaupten wir einerseits in der unbeschränkten Selbstverwaltung aller Gemeindeangelegenheiten, andererseits als persönliche Gedanken- und Gewissensfreiheit, d. i. das Recht, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen und in letzter Instanz sein eigener Richter zu sein. Die notwendige Ergänzung bzw. Voraussetzung dieser Freiheit erblicken und erstreben wir in der unbedingten Lehr- und Lernfreiheit.
3. Wir fordern diese Freiheit nicht nur für uns, sondern als gleiches Recht für alle. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit der Selbstbeschränkung und Selbstbeherrschung für den Einzelnen, der nur so weit frei sein kann, als er nicht die gleichberechtigte Freiheit seiner Mitmenschen beeinträchtigt. Die Überwindung des Konfessionalismus mit seinen verderblichen Vorurteilen und Vorrechten, auch im politischen und sozialen Leben, ist nur durch die gleiche Freiheit
möglich.
4. Unsere Gemeinde ist eine religiöse; doch verstehen wir unter Religion nicht irgendeine Beziehung zu einem außerweltlichen, übernatürlichen Wesen (Gott oder Teufel) und Leben (Himmel oder Hölle), sondern das mehr oder weniger bewusste, ewig menschliche Streben nach einem harmonischen Verhältnis zu der uns umgebenden Welt aufgrund unserer eigenen inneren Harmonie, d. h. unserer Wahrhaftigkeit und Gewissensfreiheit.
5. Die Quellen der Religion sind uns die Natur und Vernunft, welche, wie alles, unter dem Gesetz der Bewegung und Entwicklung stehen, weshalb uns die Religion nach ihrer theoretischen Seite nicht irgendein feststehender (positiver) Glaube, sondern vielmehr das
Streben nach allseitiger, tieferer Erkenntnis ist. Für die Pflege desselben erachten wir die Priester und Theologen mit ihren Mythen und Mysterien für entbehrlich, ja hinderlich.
6. Nach ihrer praktischen Seite ist uns Religion wesentlich Sittlichkeit, wie sie sich vornehmlich in den menschlichen, d. h. sozialen und politischen Verhältnissen ausprägt, weshalb wir dieselben nach ihrer Gesetzmäßigkeit mehr und mehr begreifen und zu veredeln trachten.
Unsere höchste sittliche Forderung ist das Streben nach demjenigen Gemeinwohl, in welchem zugleich das persönliche Wohl am besten gewahrt ist.
7. Wir sind zu einer Gemeinde zusammengetreten, denn nur aufgrund einer einheitlichen, gesunden Organisation ermöglicht sich ein kräftiges, gemeinnütziges Wirken und eine praktische Lösung unserer Aufgabe der religiösen Reform. Es handelt sich dabei wesentlich um
Volksbildung, und somit um die höchsten Güter unseres Lebens, die wir eben nur gemeinsam erringen, wie besitzen können.
8. Unsere Gemeinschaft hat zunächst den Zweck, durch praktische Einrichtungen und Maßnahmen den Mitgliedern möglichsten Schutz vor Gewissenszwang zu gewähren und Gelegenheit zur allseitigen geistigen Ausbildung zu geben, insbesondere die Belehrung und Erziehung unserer Kinder in unserem Geiste durchzusetzen. Unser Endzweck aber ist die allgemeine Befreiung von jeder inneren und äußeren religiösen Vergewaltigung, in der wir eines der mächtigsten Hemmnisse des sittlich-religiösen, wie des politischen und sozialen
Fortschritts erkennen.
9. Wiewohl sich die Gemeinde gegenwärtig mit den vorstehenden Grundsätzen in Übereinstimmung weiß, so erachtet sie es doch für ihr Recht, wie für ihre Pflicht, dieselben jederzeit der besseren Erkenntnis gemäß zu ändern.
Angenommen am 12. Februar 1877.
C. Magdeburger Grundsätze (etwa um 1880)
1. Wir wollen eine Gemeinschaft sein, welche die Pflege der Religion und Sittlichkeit bezweckt. Jede Parteipolitik ist innerhalb unserer Gemeinschaft ausgeschlossen.
2. Wir sehen die Vernunft als die oberste Richtschnur für alles menschliche Denken an und können auch in religiöser Beziehung nur das anerkennen, was sich vor ihr als wahr erweist.
3. Wir achten deshalb die Wissenschaft und sind stets bestrebt, uns mit ihrer Hilfe in unserer religiösen und sittlichen Erkenntnis weiterzubilden.
4. Die Religion ist uns die innerste Angelegenheit des menschlichen Herzens, deshalb verwerfen wir jeden Glaubens- und Gewissenszwang.
5. Die Bibel achten wir als die Urkunde der jüdischen und christlichen Religion, wir sehen in ihr aber ein menschliches, kein göttliches Buch; daher besitzt sie für uns keine Autorität in religiösen und sittlichen Dingen.
6. Von einer Gottheit wissen wir nichts und lehnen darum jeden bestimmten Gottesglauben ab, besonders verwerfen wir den Wunderglauben, der mit der Gesetzmäßigkeit der Natur in Widerspruch steht.
7. Wir lassen uns nicht auf ein Jenseits verweisen, wir Menschen können allein auf dieser Erde nach dem Guten streben und hier unser Glück suchen.
8. Die Geschichte zeigt uns, dass alles Gute, das die Menschheit heute besitzt, durch menschliche Kraft zustande gekommen ist, deshalb können wir das Gute, das wir wollen, nur durch unser eigenes sittliches Streben erreichen.
9. Gut handeln wir, wenn wir wünschen können, dass alle Menschen ebenso handeln möchten wie wir; gut ist, was dem Wohle des Einzelnen und dem der Gesamtheit dient.
10. Unsere Religion ist somit Glaube an das Gute und Wille zum Guten.
Quelle: A. „Die Zehn Sittengebote der freien Religionsgemeinschaft“ (1876), in Johannes Ronge, Die Religion als Anlage, Lehre und Leben; B. „Was will die Freireligiöse Gemeinde?“ (angenommen an Februar 12, 1877), in „Menschentum“, Sonntagsblatt für Freidenke–Organ des Deutschen Freidenker-Bundes (Gotha), herausgegeben von Dr. August Specht, Nr. 10 (17. März 1886); C. Magdeburger Grundsätze (etwa um 1880), in Der Humanist 4/1970. Alle drei Dokumente befinden sich in Lothar Geis, Hrsg., Freireligiöses Quellenbuch. Eine Sammlung grundlegender Texte über Inhalt und Ziele Freier Religion, Band 1, 1844–1926, zweite Auflage. Mainz: Selbstverlag Freireligiöse Gemeinde Mainz, 2007, S. 221–22 (A), 223–24 (B), 227 (C). Online verfügbar unter: http://www.freireligioese-gemeinde-mainz.de/QUELLENBUCH/Quellenbuch Band 1 (1844-1926).pdf