Quelle
Die Nähmaschinenindustrie hat sich in Deutschland erst in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts so entwickelt, daß die Nähmaschine auch hier zu allgemeinerer Verwendung kam. Das rief vor allem in der Frauenerwerbsarbeit, und namentlich in der Wäscheherstellung, eine große Umwälzung hervor. Als besondere Branche entstand die Herstellung von Kragen und Manschetten, die vorher feste Bestandteile des Herrenoberhemdes gewesen waren. In Berlin waren es damals vier oder fünf Firmen, die ihre Herstellung im großen betrieben.
Ich hatte inzwischen, wie schon gesagt, allerlei versucht. Jetzt aber lernte ich auf der Maschine nähen und kam in eine dieser Fabriken in der Spandauer Straße. Dort wurden etwa fünfzig Maschinennäherinnen und ebensoviele Vorrichterinnen beschäftigt. Je eine Arbeiterin dieser beiden Gruppen mußten sich immer zusammentun und gemeinsam arbeiten, und auch der Lohn wurde gemeinsam berechnet.
Von morgens acht bis abends sieben Uhr dauerte die Arbeitszeit, ohne namhafte Pause. Mittags verzehrte man das mitgebrachte Brot oder lief zum „Budiker” nebenan, um für einige Groschen etwas Warmes zu sich zu nehmen. Sieben, höchstens zehn Taler die Woche war der von Vorrichterin und Maschinennäherin gemeinsam verdiente Lohn. Da das Maschinennähen körperlich anstrengender als das Vorrichten war, so bestand die Gepflogenheit, daß die Maschinennäherin vom Taler 17½ und die Vorrichterin 12½ Groschen erhielt. Vor der Teilung wurden aber von dem gemeinsam verdienten Lohn die Kosten für das vernähte Garn und etwa zerbrochene Maschinennadeln abgezogen, was durchschnittlich auf den Taler 2½ Groschen betrug.
Den ersten Anstoß, eine Änderung dieser ganzen Verhältnisse selbst in die Hand zu nehmen, brachte uns erst der Deutsch-Französische Krieg. Unmittelbar nach seinem Ausbruch gab es auch in der Wäscheindustrie einen Stillstand des Absatzes. Arbeiterinnen wurden entlassen und standen mittellos da, denn von dem Verdienst konnte niemand etwas erübrigen. Unsere Firma wollte das „Risiko” auf sich nehmen, uns auch bei dem eingeschränkten Absatz voll zu beschäftigen, wenn wir für den „halben” Lohn arbeiten wollten. Von Organisation hatten wir keine Ahnung – und wir waren in einer Notlage, denn die meisten Arbeiterinnen waren auf sich selbst angewiesen; sie lebten, wie man sagt, von der Hand in den Mund. So sagten wir zu, es einmal eine Woche zu versuchen.
Nun wurde drauflosgeschuftet. Das Resultat aber war kläglich; von dem um die Hälfte gekürzten Lohn wurden uns die vollen Kosten für Garn und Nadeln in Abzug gebracht. Das brutale Vorgehen des Unternehmers brachte uns zur Besinnung. Wir beschlossen einmütig, lieber zu feiern, als für einen solchen Schundlohn zu arbeiten, von dem zu existieren nicht möglich war. Drei Arbeiterinnen, zu denen auch ich gehörte, wurden bestimmt, dies dem Chef mitzuteilen. Als die Deputation ihm nun den Gesamtbeschluß vortrug, wollte er uns damit beschwichtigen, daß er erzählte, sobald Siegesnachrichten eingingen, würde das Geschäft sich sofort wieder heben und die Löhne steigen. Er hatte wohlweislich vermieden zu sagen, „die alte Höhe erreichen”. Wir waren glücklicherweise in dem Moment schlagfertig genug zu antworten, der Lohn steige nie so schnell, wie er herabgesetzt würde und zudem habe dann das Geschäft ein volles, zu den niedrigen Löhnen hergestelltes Lager. Als der Chef merkte, daß wir uns nicht so leicht unterkriegen ließen, wurde er so wütend, daß er uns rot vor Ärger anschrie: „Na, dann werde ich euch den vollen Preis wieder zahlen! Wollt ihr nun wieder arbeiten?” Da antworteten wir ihm kurz: „Jawohl, nun werden wir wieder arbeiten.”
Wir waren durch unsern Erfolg selbst überrascht. Dem Unternehmer aber war es ebenso neu, daß Arbeiterinnen sich zusammenfanden und geschlossen ihre Forderungen stellten. Er war überrumpelt worden, zudem waren die Kragennäherinnen damals auch sehr gesucht. Mich ließ der Chef dann bald nachdem einmal in sein Kontor rufen und sagte mir, ich brauchte nicht zu befürchten, daß mir mein Eintreten in dieser Sache bei meiner Arbeit etwa schaden würde. Solange er Arbeit hätte, würde ich auch bei ihm zu tun finden. Das hörte sich zwar ganz gut an, stimmte aber nicht. Es wurde hier und da an meiner Arbeit herumgetadelt, und es dauerte nicht lange, da gefiel mir diese Art nicht mehr, und ich ging von selbst fort. Die Einmütigkeit der Arbeiterinnen, die uns diesen Erfolg gebracht hatte, war nicht von Dauer. Es stellte sich auch nach den Siegesnachrichten der geschäftliche Aufschwung nicht so schnell wieder ein. Die Unternehmer hatten aber gelernt. Sie griffen eben nicht wieder so brutal ein, sondern gingen behutsamer vor. Es wurden mit einzelnen Arbeiterinnen, die in besonderer Notlage waren, Lohnabzüge vereinbart. Statt des Zusammenhalts entstand dadurch natürlich Mißtrauen unter den Arbeiterinnen, und es dauerte noch manches Jahr, bis die Arbeiterinnen die Absicht erkannt, und dem Unternehmertum in geschlossener Organisation entgegentraten. Das war für viele ein langer Leidensweg.
Ich kaufte mir dann eine eigene Maschine und arbeitete zu Hause. Dabei habe ich das Los der Heimarbeiterin zur Genüge kennengelernt. Von morgens um sechs bis nachts um zwölf, mit einer Stunde Mittagspause, wurde in einer Tour „getrampelt”. Um vier Uhr aber wurde aufgestanden, die Wohnung in Ordnung gebracht und das Essen vorbereitet. Beim Arbeiten stand dann eine kleine Uhr vor mir und es wurde sorgfältig aufgepaßt, daß ein Dutzend Kragen nicht länger dauerte wie das andere, und nichts konnte einem mehr Freude machen, als wenn man ein paar Minuten sparen konnte.
So ging das zunächst fünf Jahre lang. Und die Jahre vergingen, ohne daß man merkte, daß man jung war und ohne daß das Leben einem etwas gegeben hätte. Um mich herum hatte sich auch so manches geändert. Meine Schwester und dann auch mein Bruder hatten geheiratet, meine jüngste Schwester war bei einer Kahnpartie ertrunken. Der Vater konnte schon lange nicht mehr arbeiten, und so war es mir gegangen, wie es so oft alleingebliebenen Töchtern in einer Familie geht, die nicht rechtzeitig ein eigenes Lebensglück fanden: sie müssen das Ganze zusammenhalten und schließlich nicht nur Mutter, sondern auch noch Vater sein, das heißt Ernährer der Familienmitglieder, die sich nicht selbst erhalten können. So habe ich meinen Vater über zwanzig Jahre erhalten, und ich habe immer so viel arbeiten können, daß es mir gelang, eine Wohnung von Stube und Küche zu halten.
Meinem Bruder starb die Frau, als das erste Kind, ein Mädchen, noch ganz klein war. Ich habe dieses Kind zu mir genommen, und es hat mir in dem Jahr viel Freude gemacht. Es hat dann bei mir laufen gelernt. Aber als mein Bruder sich wieder verheiratete, mußte ich es zurückgeben. Mein Bruder starb selber nach einigen Jahren, und ich habe dann häufig auch noch die beiden Jungens aus der zweiten Ehe bei mir gehabt, weil die Mutter verdienen mußte.
Ich kann nicht sagen, daß ich immer sehr froh war. Schließlich hatte auch ich etwas anderes vom Leben erhofft. Ich habe manchmal das Leben so satt gehabt, so Jahr um Jahr immer an der Nähmaschine, immer nur Kragen und Manschetten vor sich, ein Dutzend nach dem anderen, das Leben hatte gar keinen Wert, man war nur eine Arbeitsmaschine und hatte keine Zukunftsaussichten. Und von dem Schönen in der Welt sah und hörte man nichts, davon war man einfach ausgeschlossen.
Quelle: Ottilie Baader, Ein steiniger Weg. Lebenserinnerungen einer Sozialistin (orig. 1921), 3. bearb. Ausg. mit Einl. von Marie Juchacz. Berlin und Bonn: J. H. W. Dietz Nachf., 1979, S. 17–20.