Kurzbeschreibung

Theodor Fontane (1819–1898) wird von vielen als der bedeutendste deutschsprachige Romanschriftsteller des Realismus im 19. Jahrhundert betrachtet. Bevor er sich im fortgeschrittenen Alter dem Romanschreiben zuwandte, schrieb er Aufzeichnungen über die drei „Einigungskriege“, die der deutschen Reichsgründung vorangingen. Fontane war außerdem ein begabter Lyriker, in dem vorliegenden Gedicht—das nicht zu seinen bekanntesten zählt—erwies er dem Kölner Dom seine Ehrerbietung als Symbol der deutschen Einigung. Nach 632 Jahren Bauzeit wurde der Dom 1880 endgültig fertiggestellt. Seine Einweihungsfeierlichkeiten am 15. Oktober 1880 gaben all jenen eine Stimme, die darum bemüht waren, ein deutsches Nationalgefühl zu fördern. Doch das Ereignis fand mitten im Kulturkampf zwischen dem preußischen Staat und der katholischen Kirche statt. (Der Erzbischof von Köln fiel bei der Feier durch Abwesenheit auf.) Folglich weist Fontane, immer bereit, die Dinge beim Namen zu nennen, darauf hin, dass die Auseinandersetzung zwischen Protestanten und Katholiken die Einigkeit zu etwas Erstrebenswertem mache, das eben noch nicht erreicht sei; ihre Voraussetzungen benennt er mit Versöhnung und Frieden.

Theodor Fontane, „Zum Kölner Domfest“ (15. Oktober 1880)

  • Theodor Fontane

Quelle

Ersehnter Tag! Inmitten lichten Glanzes,
Erhebt sich Pfeilerwald und Schiff und Chor,
Aus der Umgrenzung eines Zinnenkranzes,
Ins Unbegrenzte steigt der Knauf empor;
Aus Teil- und Stückwerk endlich ward ein Ganzes,
Und Furcht erlag, und Zweifelsucht verlor,
Und mit den Türmen schwingt sich auf nach oben,
Ein Lobgesang: Laßt uns den Herren loben!

Und wer ihn hört, aufjubelnder erscholl er,
In keiner Stund’, an keiner Stelle wohl,
Und alle Pulse schlagen freud’ger, voller:
Ein Ideal, es ward uns zum Idol;
Eins wurde Hohenstauf und Hohenzoller,
Und dieser Dom ist dessen uns Symbol,
Und wie nach Maß und Schönheit ohnegleichen,
Ist er zugleich uns unsrer Einheit Zeichen.

Ein Einheits-Zeichen! Ach, und doch gespalten,
Uneinheitlich des Volkes Herz und Sinn –
Ersehnter Tag, in deines Mantels Falten,
Nimm, eh’ du scheidest, unsren Zwiespalt hin!
Laß Einigkeit aus Einheit sich gestalten,
Aus ihr erblüht der größere Gewinn,
Und klingst du, hohe Kaiserglocke, heute:
Versöhnung, Friede sei dein erst Geläute!

Quelle: Theodor Fontane, „Zum Kölner Domfest (15. Oktober 1880)“ [veröffentlicht 1880]; abgedruckt in Theodor Fontane, Werke, herausgegeben von Mathias Bertram, Digitale Bibliothek, Bd. 6, CD-ROM. Berlin: Directmedia, 1998.