Kurzbeschreibung

Dass Adolph Menzel (1815–1905) den Vorwand eines historischen Ereignisses benutzte, um die Menschenmengen und Fassaden in Berlins herausragendstem Boulevard, Unter den Linden, zu malen, legt der ursprüngliche Titel nahe, unter dem dieses Gemälde ausgestellt wurde: Die Linden Berlins am Nachmittag des 31. Juli 1870. Nachdem er von einem Sommerurlaub in den sächsischen Bergen nach Berlin zurückgeeilt war, traf Menzel gerade am Tag seiner Rückkehr auf diese Szene. Zusammen mit unzähligen anderen schaute er zu, wie König Wilhelm I. auf seinem Weg zum Potsdamer Bahnhof für die Abreise an die Front in Frankreich in seiner Kutsche die Straße Unter den Linden entlang fuhr. (Der Deutsch-Französische Krieg war nur zwei Wochen vorher ausgebrochen).

Die Komposition des Gemäldes enttäuschte Traditionalisten des historischen Realismus. Weshalb hatte Menzel sich dafür entschieden, das Gesicht der Königin hinter einem Taschentuch zu verstecken und überhaupt, weshalb weinte sie, wenn die Menge so jubelte? Warum waren die blau-weißen Flaggen mit dem Brandenburger Adler so ausgesprochen formlos? Weshalb drängt die bürgerliche Masse das Königspaar derartig in den Hintergrund? Warum entschloss sich Menzel, den Auftakt zum Krieg zu malen und nicht eine der großen Schlachten oder Siegesfeiern? Die Antworten müssen wie so oft bei Menzel im Bereich der Spekulation bleiben, doch mehr als ein paar kompositorische Hinweise lassen auf seine Absicht schließen, eher das bürgerliche Berlin als das königliche und kriegerische Potsdam darzustellen. Die Positionierung der königlichen Kutsche an der äußersten linken Seite von Unter den Linden verweist das Königspaar buchstäblich an den Rand der Szene. Im Mittelpunkt steht die Menschenmenge, nicht das Paar. Weit im Hintergrund, am Ende der Prachtstraße, sieht man zudem, dass Menzel Berlins berühmtes „rotes Rathaus“ das vor ihm befindliche, undeutliche Königsschloss überragen lässt. Indem er die tatsächlichen Proportionen der beiden Gebäude veränderte und so dem Rathaus Vorrang gegenüber dem Schloss verlieh, mag Menzel hin zu bürgerlichem – statt monarchischem oder kriegerischem – Stolz gedeutet haben. (Zu bemerken ist auch, dass andere bekannte Gebäude entlang dieses Abschnitts der Straße Unter den Linden völlig fehlen.) Eine andere Frage stellt sich: Die deutschen Fahnen sind durch einen Windstoß um ihre Stangen gewickelt worden: Ist das neue Deutschland schon in der Lage zu fliegen? Weniger zweideutig ist Menzels Einbeziehung der Fahne des Roten Kreuzes in sein Gemälde: Wie bei den meisten seiner Werke – besonders den auf den böhmischen Schlachtfeldern im Juli 1866 angefertigten Skizzen – lag ihm der Gedanke an die Kriegsopfer nie allzu fern. Für monarchistische Kunstkritiker wie Friedrich Pecht, der 1881–82 im Deutschen Kunstblatt schrieb, konnte selbst die Bewunderung für die Virtuosität des Malers nicht seine Enttäuschung darüber verbergen, dass Menzel zu wenig patriotische Entschlossenheit und „zu viel sentimentales Philistertum“ geliefert hatte. Der Romanautor Theodor Fontane kam der Wahrheit in einem Brief an Menzel vom 2. Juli 1871 näher, als er den Künstler dafür lobte, dass er „dem Alltäglichen Größe verliehen hatte.“ (Theodor Fontane, Briefe. Otto Drude and Helmuth Nürnberger, Hrsg., Band 2, München, 1879, S. 382). Der Fehler „so vieler ‚Historiker mit Malerpinsel’“, bemerkte Fontane, war es, die Staatsgewalt für gewöhnliche Deutsche greifbar machen zu wollen, indem sie ihr eine konkrete Form gaben. Doch Menzels eigene Auffassung von Geschichte – und wie sie auf der Leinwand darzustellen war – kehrte die Gleichung um und gab dem alltäglichen Leben den Vorrang. Daher fügt sich das eindeutig unheroische Winken des alternden Königs der geballten Wirkung der zahlreichen und unterschiedlichen Individuen, Gesten und Strukturen, die die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenken und vom Gemälde Besitz ergreifen. (Man nehme zur Kenntnis, dass nur eine Gestalt sich tatsächlich vor den Majestäten niederkniet; zwei andere (links unten) kehren ihnen den Rücken zu.) Somit rückt, durchaus absichtlich, das bürgerliche Berlin in den Mittelpunkt, selbst als Deutschlands dynastische, internationale und militärische Geschichte einen Wendepunkt erreicht.

Adolph Menzel, Abreise König Wilhelms I. zur Armee am 31. Juli 1870 (1871)

  • Jörg P. Anders
  • Adolph Menzel

Quelle

Quelle: Adolph Menzel, Abreise König Wilhelms I. zur Armee am 31. Juli 1870. Gemälde (1871). Original: Nationalgalerie, SMB.
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