Kurzbeschreibung

In dieser Replik auf einen abschätzigen Zeitungskommentar zur Novelle verteidigt der Dichter und Schriftsteller Theodor Storm (1817–1888) die Gattung gegen die Kritik, sie sei eine oberflächliche und minderwertige Kunstform. Als berühmter Novellist (z.B. Der Schimmelreiter, 1888) beschreibt er sie als episches Gegenstück zum deutschen Drama, das, wie er behauptet, durchschnittlich sei und dem allgemeinen Publikum zunehmend unzugänglich werde.

Theodor Storm über die Gattung Novelle (1881)

  • Theodor Storm

Quelle

Nach einer Zeitungsnotiz hat neuerdings einer unserer gelesensten Romanschriftsteller bei Gelegenheit einer kürzeren, von ihm als „Novelle“ bezeichneten Prosadichtung die Novelle als ein Ding bezeichnet, welches ein Verfasser dreibändiger Romane sich wohl einmal am Feierabend und gleichsam zur Erholung erlauben könne, an das man aber ernstere Ansprüche eigentlich nicht stellen dürfe.[1]

Ob die so eingeleitete Arbeit einer solchen Herabsetzung ihrer Gattung bedurfte, vermag ich nicht zu sagen. Indessen sei es mir gestattet, wie vordem bei Gelegenheit meines Hausbuches aus deutschen Dichtern zur Lyrik, so hier zur Novellistik, als der Dichtungsart, welche die spätere Hälfte meines Lebens begleitet hat, auch meinerseits ein Wort zu sagen.

Die Novelle, wie sie sich in neuerer Zeit, besonders in den letzten Jahrzehnten, ausgebildet hat und jetzt in einzelnen Dichtungen in mehr oder minder vollendeter Durchführung vorliegt, eignet sich zur Aufnahme auch des bedeutendsten Inhalts, und es wird nur auf den Dichter ankommen, auch in dieser Form das Höchste der Poesie zu leisten. Sie ist nicht mehr, wie einst, „die kurzgehaltene Darstellung einer durch ihre Ungewöhnlichkeit fesselnden und einen überraschenden Wendepunkt darbietenden Begebenheit“; die heutige Novelle ist die Schwester des Dramas und die strengste Form der Prosadichtung. Gleich dem Drama behandelt sie die tiefsten Probleme des Menschenlebens; gleich diesem verlangt sie zu ihrer Vollendung einen im Mittelpunkte stehenden Konflikt, von welchem aus das Ganze sich organisiert, und demzufolge die geschlossenste Form und die Ausscheidung alles Unwesentlichen; sie duldet nicht nur, sie stellt auch die höchsten Forderungen der Kunst.

Daß die epische Prosadichtung sich in dieser Weise gegipfelt und gleichsam die Aufgabe des Dramas übernommen hat, ist nicht eben schwer erklärlich. Der Bruchteil der Nation, welchem die Darstellung der Bühne zugute kommt, wird mit jedem Tage kleiner, hinter dem wachsenden Bedürfnis bleibt die Befriedigung immer mehr zurück; dazu kommt, daß gerade die poetisch wertvollen neueren Dramen nur selten die Bühne erreichen oder nach dem ersten Versuche wieder davon verschwinden, sei es wegen der Unzulänglichkeit unserer deutschen Schauspieler oder weil, vielleicht im Zusammenhange mit dem ersterwähnten Umstande, den Dichtern ein gewisses praktisches Verständnis für die Darstellbarkeit abging. So haben sich denn andere Leute der Bühne bemächtigt, und man begnügt sich dort lieber mit Sachen, welche den besten der Iffland-Kotzebue-Periode nicht einmal das Wasser reichen; aber was solcherweise der dramatischen Schwester entzogen wurde, ist der epischen zugute gekommen.

Im übrigen geht es mit der Novellistik wie mit der Lyrik; alle meinen es zu können, und nur bei wenigen ist das Gelingen, und auch dort nur in glücklicher Stunde. []

Anmerkungen

[1] Nach Bucher, Hal, Jäger und Wittmann, Hrsg. [siehe Quellennachweis] bezog sich diese [falsche] Meldung auf Georg Ebers, Eine Frage.

Quelle: Theodor Storm, „Eine zurückgezogene Vorrede aus dem Jahre 1881“, in Theodor Storm, Sämtliche Werke, herausgegeben von Albert Köstner. Leipzig, 1920, Band 8, S. 122–23; abgedruckt in Max Bucher, Werner Hal, Georg Jäger und Reinhard Wittmann, Hrsg., Realismus und Gründerzeit: Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848–1880, 2 Bände. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1975, Bd. 2, S. 368–69.